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Arrigo Sacchi, Sie waren als Trainer des AC Milan Welt­po­kal­sieger, Vize­welt­meister mit der Natio­nalelf und schließ­lich Sport­di­rektor von Real Madrid. Was hat Sie einst bewogen, Trainer zu werden?
Es gefiel mir immer schon, anderen etwas bei­zu­bringen. Schon als Kind hatte ich nur drei Berufs­wün­sche: Diri­gent, Regis­seur oder Fuß­ball­trainer.

Und Letz­teres wurde es.
Ich hatte einen guten Lehrer, der mir erklärte, dass es der Trainer ist, der einer Mann­schaft ihr Spiel gibt, so wie ein Autor, der eine Idee hat und daraus eine Geschichte schreibt. Der Gedanke, elf Men­schen bei­zu­bringen, sich wie eine ein­zige Person zu bewegen, macht mir immer noch Gän­se­haut.

Zunächst mussten Sie aber Schuhe ver­kaufen.
Mein Vater hatte eine Schuh­fa­brik. Die meisten Schuhe ver­kauften wir nach Deutsch­land, an Necker­mann, Kar­stadt, Kauf­halle und Kaufhof. Des­halb war ich viel mit meinem Vater unter­wegs.

Wel­cher Fuß­ball hat Sie damals inspi­riert?
Ich sah die Spiele des FC Bayern, beob­ach­tete später auch Trainer wie Otto Reh­hagel, Roy Hodgson oder Johan Cruyff. In den sieb­ziger Jahren begeis­terten mich aber vor allem Ajax Ams­terdam und die hol­län­di­sche Natio­nal­mann­schaft.

Was genau fas­zi­nierte Sie an deren Spiel?
Mir gefielen immer schon Mann­schaften, die ein Spiel domi­nierten, den Ball besitzen wollten und Emo­tionen bei den Zuschauern weckten. Man konnte im Fern­sehen gar nicht erkennen, wie dieses Kol­lektiv funk­tio­nierte. Die Ein­zel­spieler waren auf einmal nicht mehr so wichtig. In Ita­lien waren die Teams defensiv ein­ge­stellt, obwohl sie oft gewannen. Aber für mich waren nicht so sehr die Erfolge wichtig als viel­mehr die Art, wie diese zustande kamen.

Sie begannen als Trainer in der Kreis­klasse in ihrem Hei­mat­verein Fusignano bei Rimini. Haben Sie dort den Totaal­voetbal“ bereits aus­pro­biert?
Ich hatte damals noch nicht das Selbst­be­wusst­sein, aber ich war ein flei­ßiger Arbeiter. Zunächst einmal habe ich eine täg­liche Trai­nings­ein­heit ein­ge­führt. Die Jungs trai­nierten vorher nur einmal pro Woche.

Über die Sta­tionen Cesena, Rimini und Parma wech­selten Sie 1987 prak­tisch als Nobody auf die Trai­ner­bank des AC Mai­land.
Wir waren mit dem AC Parma gerade in die zweite Liga auf­ge­stiegen und hatten den AC Mai­land über­ra­schend zweimal im Pokal mit 1:0 besiegt. Nach unserem ersten Sieg sagte Silvio Ber­lus­coni zu mir, er werde meinen Weg auf­merksam ver­folgen. Nach dem zweiten Sieg gab er mir einen Ver­trag.

Wie war es, plötz­lich vor dem Star­ensemble mit Marco van Basten, Ruud Gullit, Frank Rij­kaard und Franco Baresi zu stehen und Anwei­sungen zu geben?
Die Spieler waren skep­tisch. Vor allem Van Basten hat uns Ita­liener ins­ge­samt ein wenig unter­schätzt. Ich wies ihn darauf hin, dass wir bereits dreimal Welt­meister geworden seien – und seine Hol­länder noch nie. Dabei war es gar nicht meine Absicht, den ita­lie­ni­schen Fuß­ball zu ver­tei­digen, da er mir im Grunde nicht gefiel. Aber ich ver­langte Respekt. Van Basten war lange ver­letzt und spielte anfangs nur wenige Spiele von Beginn an, doch schließ­lich wurden wir gleich im ersten Jahr Meister. Da kam er zu mir und sagte: Ich hätte nie gedacht, dass es Ihnen in wenigen Monaten gelingt, die Mann­schaft so zu ver­än­dern.“

Was hatten Sie ver­än­dert?
Meine Methoden waren viel anstren­gender als das, was die Spieler bis dato kannten. Zunächst suchte ich Profis, die genau zu dem tech­ni­schen Pro­jekt passten, das ich im Kopf hatte. Auf die Spieler musste in erster Linie Ver­lass sein. Sie sollten sich im Trai­ning genauso anstrengen wie im Spiel. Das war damals neu. Van Basten war fraglos mein begab­tester Fuß­baller, aber nicht der Spieler, auf den ich am wenigsten ver­zichten konnte.

Können Sie das genauer erklären?
Für meine Auf­fas­sung von Fuß­ball brauchten wir eine neue Kultur der Arbeit. Wir schuf­teten die ganze Woche, um am Sonntag in der Lage zu sein, dem Gegner so schnell wie mög­lich den Ball abzu­nehmen. Wir sollten die­je­nigen sein, die das Spiel beherrschten. Vor allem in Ita­lien war so ein Gedanke völlig neu. Folg­lich waren die Spieler zunächst eher unzu­frieden, weil sie die Belas­tung nicht ver­standen.

Ihr Name wird mit meh­reren Inno­va­tionen asso­zi­iert: Raum­de­ckung, Pres­sing und dem 4 – 4‑2-System.
Wir ent­schieden von Fall zu Fall, ob es geschickter war, einen Spieler in Mann­de­ckung zu nehmen oder den Raum zu ver­tei­digen. Das Team war so fle­xibel. Wir trai­nierten, um die Bewe­gungen aller elf Spieler zu syn­chro­ni­sieren. Der Grund­ge­danke war, ein Bewusst­sein für die Zusam­men­hänge dieses Spiels zu schaffen. Alle elf Spieler sollten immer in einer aktiven Posi­tion sein, mit oder ohne Ball. Dieser Gedanke hat den Fuß­ball ver­än­dert.

Und des­halb waren Ball­künstler wie Van Basten und Gullit bei Milan oder auch später Roberto Baggio in der Natio­nalelf gar nicht so wichtig für Ihr System?
Das Talent war zweit­rangig. Wich­tiger waren Pro­fes­sio­na­lität und Ein­satz­be­reit­schaft. Wenn die Spieler auch noch Talent hatten, umso besser. Denn Talent kann das Pro­dukt, das man im Kopf hat, noch ver­edeln. Aber es kann die Idee nicht ersetzen. Robert De Niro ist ein aus­ge­zeich­neter Schau­spieler. Aber er kann nicht so spielen, wie es ihm gefällt, son­dern er muss dem folgen, was im Dreh­buch steht. Ich war der­je­nige mit dem Dreh­buch und erkannte im Trai­ning, ob ein Spieler eine Sekunde zu früh oder zu spät los­lief, ob er zu nah oder zu weit vom Neben­mann stand, ob er den Ball nach vorne oder nach hinten spielen sollte. Wir simu­lierten ständig den Ernst­fall und probten, was am Sonntag pas­sierte.

Gelten Ihre Ideen im modernen Fuß­ball bis heute?
Durchaus. Fuß­ball ist ein Mann­schafts­sport. Ich setzte nicht auf elf Ein­zel­spieler, der eigent­liche Leader war das Spiel selbst. Und das ist eine Lehre für die Zukunft: Kein Scheich wird jemals das Zusam­men­spiel einer Mann­schaft kaufen können. Er kann die besten Indi­vi­dua­listen und erfolg­reichsten Spieler ver­sam­meln, aber eine Spiel­idee kann nur durch Inspi­ra­tion, Kon­zen­tra­tion und Fleiß ent­wi­ckelt werden. Das Spiel ist nicht käuf­lich.

Also werden Trainer in Zukunft immer wich­tiger?
Ich denke schon. Das Spiel ist natür­lich von den Akteuren und ihren Fähig­keiten abhängig. Aber es ist vor allem das Ergebnis der Genia­lität, der Sen­si­bi­lität und der Intui­tion eines Trai­ners. Und natür­lich seiner didak­ti­schen Kom­pe­tenz.

Wel­chen Weg müssen Mann­schaften gehen, wenn Sie in Zukunft Erfolg haben wollen?
Drei Mann­schaften haben den Fuß­ball vor­an­ge­bracht: Ajax Ams­terdam, der AC Mai­land und heute der FC Bar­ce­lona. Alle drei sind fest­ge­legt auf Ball­be­sitz und schnelle Rück­erobe­rung des Balles. Das wird so bleiben. Es hat jeweils etwa 20 Jahre gedauert, bis eine neue Ent­wick­lungs­stufe des Ball­be­sitz­fuß­balls erreicht wurde. Mög­li­cher­weise wird es bis zur nächsten Stufe wieder so lange dauern.

Wie wird diese Ent­wick­lung wei­ter­gehen? Wie sieht der Fuß­ball in 20 Jahren aus?
Der Fuß­ball wird weiter per­fek­tio­niert sein, die elf Spieler werden sich immer mehr als Ein­heit bewegen. Und das Spiel wird noch schneller sein.

Mit Milan haben Sie inner­halb von drei Jahren eine Meis­ter­schaft, zwei Lan­des­meister-Cups und den Welt­pokal gewonnen. Paolo Mal­dini sagt, die Spieler seien am Ende extrem gestresst gewesen, die Rede war von Taliban-Methoden“.
Ich gab alles und for­derte auch alles. Nach dem dritten Jahr war ich aus­ge­laugt. Die ita­lie­ni­sche Fuß­ball­szene sah in mir einen Umstürzler. Ich musste gegen alles kämpfen, auch gegen weite Teile der Presse. Das war ein großer Druck. Ich habe 16 Stunden am Tag gear­beitet und nur an Fuß­ball gedacht. Wie ein Beses­sener. Ich war über­zeugt, dass man immer noch mehr und alles besser machen konnte.

Welche Rolle spielte Milan-Eigen­tümer Silvio Ber­lus­coni damals für Sie?
Mein Glück war, dass Ber­lus­coni meinen Methoden absolut ver­traute. Das kommt im Fuß­ball selten vor.

Ver­steht Ber­lus­coni etwas von Fuß­ball?
Wir hatten völlig unter­schied­liche Vor­stel­lungen. Er dachte, es han­delte sich um ein Spek­takel mit lauter Solisten. Ich hatte einen kol­lek­tiven Sport vor Augen, der seine Har­monie aus dem Zusam­men­spiel der Akteure bezog.

Ber­lus­coni pola­ri­siert Ita­lien und Europa wieder einmal. Ver­stehen Sie ihn noch?
Alle Men­schen ver­än­dern sich im Laufe des Lebens. Für mich war er damals sehr wichtig. Als ich bei Milan nach wenigen Monaten in Schwie­rig­keiten geriet, hat er mir sehr geholfen. Nach einer Nie­der­lage im UEFA-Cup gegen Espanyol Bar­ce­lona schrieb die Presse, dass meine Ent­las­sung kurz bevor­stünde. Am fol­genden Samstag kam Ber­lus­coni zum Trai­nings­ge­lände nach Mila­nello und nahm sich die Spieler vor. Er sagte: Diesen Trainer habe ich gewählt und er genießt mein abso­lutes Ver­trauen. Wer seinen Ideen folgt, kann bleiben, alle anderen müssen gehen.“

Ber­lus­coni stellte Ihnen 1994 als Com­mis­sario Tec­nico der Natio­nal­mann­schaft sogar die Nomi­nie­rung zum Sport­mi­nister in Aus­sicht.
Baresi, Mas­sara und Baggio hätten dazu aber ihre Elf­meter im WM-Finale 1994 nicht ver­schießen dürfen. Als Ber­lus­coni erst­mals Minis­ter­prä­si­dent war, besuchten wir ihn mit der Natio­nalelf vor der Abreise in die USA. Er sagte: Wenn Sie als Sieger zurück­kommen, mache ich Sie zum Minister.“ Obwohl es so ein Minis­te­rium damals gar nicht gab.

Hat Ihre Beses­sen­heit irgend­wann Spuren hin­ter­lassen?
Nach Milan arbei­teten Sie noch zehn Jahre als Coach. Als ich im Jahr 2001 auf­hörte, habe ich einen Psy­cho­logen auf­ge­sucht. Ich habe ihn gefragt: Ist es normal, dass ich auf­höre? Er sagte mir: Ja, was sie vorher gemacht haben, das war nicht normal.

Warum haben Sie die Hilfe eines Psy­cho­logen gesucht?
Es war nicht so ein­fach, den am besten dotierten Ver­trag meiner Kar­riere beim AC Parma zu kün­digen. Aber ich spürte kein Feuer mehr in mir, also hörte ich auf.

Mit Mario Balotelli, Ste­phan El Shaarawy oder Marco Ver­ratti gibt es wieder einige inter­es­sante junge ita­lie­ni­sche Spieler. Ein Erfolg Ihrer Arbeit als Jugend­ko­or­di­nator oder Ergebnis der Spar­po­litik, weil die Klubs gezwungen sind, auf den Nach­wuchs zu setzen?
Ich hoffe, dass die Ver­eine bestimmte Ent­schei­dungen eher aus kul­tu­rellen Gründen treffen, als aus einem Zwang heraus. Die Jugend­för­de­rung ist auch für den ita­lie­ni­schen Fuß­ball von exis­ten­ti­eller Bedeu­tung, ohne Reformen geht dieser Sport ein. Deutsch­land hat gezeigt, wie man es macht. Im Jahr 2000 gab es dort mit dem Aufbau der Nach­wuchs­leis­tungs­zen­tren einen radi­kalen Wandel, dessen Ergeb­nisse heute in der Bun­des­liga und der Natio­nal­mann­schaft zu sehen sind. Leider haben wir in Ita­lien finan­ziell weniger Mög­lich­keiten, wegen der Wirt­schafts­krise wurden auch die Mittel beim Ver­band gekürzt.

Wel­chen Ideen ver­folgen Sie bei Ihrer Jugend­ar­beit?
Ich ver­suche, meinen Stil ein­zu­bringen. Von den Jüngsten der U15 bis zur U21 folgen bei­spiels­weise alle Teams ein und der­selben Spiel­phi­lo­so­phie. Hier wird nach meinen Ideen totaler Fuß­ball“ gespielt. Das ist jetzt eine Not­wen­dig­keit. Denn wer heute nicht totalen Fuß­ball spielt, ist draußen.

Gibt es Ent­wick­lungen im Welt­fuß­ball, die Sie beun­ru­higen?
Ich hoffe sehr auf das Finan­cial Fair­play. Denn ohne den Zwang zu aus­ge­gli­chenen Bilanzen wird dieser Sport kaputt­gehen. Solange die Bilanzen nicht in Ord­nung sind, haben auch die Orga­ni­sierte Kri­mi­na­lität und Wett­be­trüger leichtes Spiel. Wenn Ver­luste in den Bilanzen als normal akzep­tiert werden, beginnt man zu betrügen, zu tricksen, zu mani­pu­lieren. Außerdem brau­chen wir neue Sta­dien, um wieder mehr Zuschauer anzu­ziehen. Der Calcio muss zu seinen Wur­zeln zurück­kehren und wieder ein Spek­takel werden. Die Bun­des­liga ist in dieser Hin­sicht ein Vor­bild für uns.

Wel­ches Bun­des­li­ga­team ent­spricht am ehesten den Ideen von Arrigo Sacchi?
Die Mann­schaft von Borussia Dort­mund und meinem Freund Jürgen Klopp. Er ist ein groß­ar­tiger Trainer. Einer meiner Vor­gänger auf der Bank des AC Mai­land, Nils Lied­holm, sagte einst über mich: Ich weiß, dass Sacchi gut ist, denn er hat mein Trai­ning beob­achtet. Über Klopp kann ich heute sagen: Ich weiß, dass er ein aus­ge­zeich­neter Trainer ist. Er hat sich schließ­lich meine Trai­nings­ein­heiten ange­sehen.