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Her­mann Klauck, Sie sind nicht nur Manager der U23 des FC St. Pauli, son­dern leiten auch den Chor des Alten Stamms“, der bei beson­deren Ver­eins­an­lässen vor bis zu 20.000 Zuschauern auf­tritt. Ben Tohmfor, Sie peit­schen als USP-Vor­sänger die Massen auf der Süd­tri­büne des Mill­erntor-Sta­dions ein. Wie sind Sie zu Ihren jewei­ligen Rollen gekommen?
Her­mann Klauck: Das hat sich ein­fach so ergeben! Wir sind ja ursprüng­lich kein Chor, son­dern ein­fach eine gesel­lige Runde der ältesten St. Pau­lianer. 2008 sind wir mit dem Alten Stamm“ erst­mals öffent­lich auf­ge­treten, beim Spiel gegen die kuba­ni­sche Natio­nal­mann­schaft zur Ein­wei­hung der neuen Süd­tri­büne. Und weil ich beim Proben als erster und ein­ziger den Mut hatte, mich vorne hin­zu­stellen und vor­zu­singen, haben die Jungs gesagt: Her­mann, Du bist jetzt unser Chor­leiter!“ Mitt­ler­weile werde ich intern schon der Karajan vom Mill­erntor“ genannt – dabei kann ich nicht einmal Noten lesen (lacht)!

Ben Tohmfor: (Lacht mit) Ich auch nicht! Ich war zwar mal drei Jahre lang in einer Musik­klasse – aber auch nur, weil meine Freunde da waren. Das waren harte Jahre an der Tri­angel … Was meine Rolle als Vor­sänger angeht, ging es mir ähn­lich wie Her­mann: Ich bin für einen guten Freund ein­ge­sprungen, weil’s keinen anderen gab. Zum Glück sind als Vor­sänger im Fuß­ball andere Qua­li­täten wich­tiger als Musi­ka­lität.

Was zeichnet einen guten Vor­sänger denn aus?
Ben Tohmfor: Idea­ler­weise ein Rod-Ste­wart-Organ: Laut und in einer Stimm­lage, die sich vom Klang­tep­pich in der Kurve abhebt. Und man muss ein Stück weit Ram­pensau sein. Wenn man als Typ intro­ver­tiert ist, kann man sich weder als Chor­leiter noch als Vor­sänger hin­stellen. Außerdem: Wenn es am Anfang schief­geht – und das ging es bei mir öfter –, dann muss man damit leben können und ein­fach wei­ter­ma­chen.

Wie haben Sie Ihr erstes Mal auf dem Zaun erlebt? Auf­ge­regt?
Ben Tohmfor: Schon, aber weniger wegen der Funk­tion, son­dern weil sich dadurch die Optik so radikal ver­än­dert hat. Als ich das erste Mal aufs Vor­sän­ger­po­dest geklet­tert bin, hatte ich einen ganz anderen Blick. Es ist eine alte Mär, dass man als Vor­sänger weniger vom Spiel mit­be­kommt. Das ist nicht so. Wenn man ein paar Jahre dabei ist, weiß man schon auf­grund der Akustik, was gerade auf dem Spiel­feld pas­siert.

Her­mann Klauck: Und dann kann man sich ja im rich­tigen Moment umdrehen.

Ben Tohmfor: Genau! Man anti­zi­piert die Situa­tion 20 Sekunden vorher, dreht sich um und hat einen viel bes­seren Blick auf das Geschehen.

Wie wichtig sind Fan­ge­sänge für die Unter­stüt­zung der Mann­schaft?
Her­mann Klauck: Ich bin ja eher bei der U23. Da bekommt man selten Fan­ge­sänge zu hören, weil viel weniger Zuschauer kommen. Ich bin ohnehin nicht über­zeugt, dass Gesang leis­tungs­stei­gernd wirkt – obwohl ich Fan­ge­sänge sehr gerne höre. Außer der Gegner wird ver­un­glimpft, aber das ist bei uns ja sehr selten.

Ben Tohmfor: Situa­ti­ons­be­dingt kann das Sta­dion eine Mann­schaft schon puschen. Aber wenn heute ein lang­wei­liges Spiel läuft, rutscht man viel zu schnell in einen Mantra-ähn­li­chen Sing­sang ab – und der kann wirk­lich nichts bringen.

Her­mann Klauck: Ich denke, der Gesang spie­gelt eher das Geschehen auf dem Rasen wider: Wenn die Leis­tung erbracht ist, nach ein, zwei guten Aktionen – dann kommt die Stim­mung.

Ben Tohmfor: Wobei sich ande­rer­seits die Frage stellt, woher eigent­lich so ein Heim­vor­teil kommt. Das kann ja heut­zu­tage kaum daran liegen, dass die Anreise für den Gegner so stra­pa­ziös wäre. Wahr­schein­lich ist das Pro­blem eher, dass für ihn alles etwas anders ist.

Stellt der Aus­wärts­sup­port also den Ver­such dar, das Zuhause akus­tisch mit­zu­nehmen?
Ben Tohmfor: Natür­lich! Oder im besten Fall daraus ein Heim­spiel zu machen.

Machen Sie sich vor dem Spiel eigent­lich eine Art akus­ti­schen Mas­ter­plan“?

Ben Tohmfor: Eigent­lich nicht. Man über­legt sich ja auch nicht, wie man mor­gens die Zähne putzt. Das ist zugleich ein Punkt, den viele bei USP kri­tisch sehen: Man­ches ist zum Trott geworden. Es gibt Bestre­bungen, das wieder kna­ckiger zu halten. Ein biss­chen mehr, wie’s früher war, auch mal ein biss­chen Stak­kato dazwi­schen.

Her­mann Klauck: Ihr habt ja auch das Pro­blem, dass ihr jede Woche oder alle 14 Tage Stim­mung machen müsst. Dann ist es schwierig, immer etwas Neues zu bringen. Wir vom Alten Stamm“ haben es leichter, weil wir nur selten auf­treten. Dann kommt das besser an, obwohl wir unser Reper­toire bewusst auf drei Lieder beschränken: Das Herz von St. Pauli“, den Ham­borger Veer­master“ und Das gibt’s nur bei uns am Mill­erntor“.

Her­mann Klauck, wie ist das eigent­lich bei Ihnen in der FC St. Pauli U23? Wird da noch gesungen?
Her­mann Klauck: Ich denke, dass früher viel mehr gesungen wurde. Ich hab das ja selbst noch erlebt, als ich fuß­bal­le­risch groß­ge­worden bin bei Komet Blan­ke­nese. Heute sind die Jungs im Bus eher mit ihren Handys beschäf­tigt.

Ben Tohmfor: Das kenne ich. Im Grunde sind das bei uns ja die glei­chen 18-Jäh­rigen wie bei Euch – nur dass die bei uns nicht so gut Fuß­ball spielen (lacht). Das ist das gleiche Prinzip wie wenn die Mann­schaft ein­steigt in den Bus und alle gleich ihre Smart­phones her­aus­holen und da rein­kli­cken. Du musst man­chen schon ziem­lich in den Arsch treten, damit sie aus sich her­aus­kommen!

Her­mann Klauck: Ja, Du musst immer wieder auf­for­dern und mit­reißen. Auto­ma­tismen gibt es da nicht.

Ben Tohmfor: Auf dem Zaun mache ich in letzter Zeit meist ohne Mega­phon den Kas­per­modus“. Das hat zwei Gründe: Der eine ist, jedem 18-Jäh­rigen zu zeigen: Es gibt kei­nerlei Aus­rede, gäh­nend in der Kurve zu stehen! Nicht solange einer, der 20 Jahre älter ist, ein­fach nur den Schalter in seinem Kopf umlegen muss, und schon geht das Duracell-Männ­chen’ los (klatscht rhyth­misch).

Und der andere Grund?
Ben Tohmfor: Ich möchte nicht ris­kieren, belei­di­gend zu werden (schmun­zelt). Es ist ja ein Irr­glaube, dass alle bei USP immer zufrieden sind mit dem, was in der Süd“ von­statten geht. Also ich schon mal gar nicht. Wenn du mal so etwas wie Bes­iktas Istanbul erlebt hat, wo das kom­plette Sta­dion mit 32.000 Leuten 90 Minuten lang abgeht – ob 40, 80 oder 10 Jahre alt, alle zusammen, dass der Beton wackelt! – dann kannst du gar nicht mehr zufrieden sein mit dem, wie’s hier ist. Und wenn wir so was wie bei Bes­iktas auch wollen, dann darf keiner da rum­stehen und schon mit seiner Kör­per­sprache signa­li­sieren, dass ihm das eigent­lich egal ist, ob das nun 0:0 oder 1:0 aus­geht.

Her­mann Klauck: Macht das Vor­singen bei euch eigent­lich nur jeweils einer alleine?

Ben Tohmfor: Nein, wir machen das zu meh­reren, alle zehn Meter einer – ein biss­chen wie die Hühner auf der Stange. Der Steh­platz­be­reich in der Süd“ ist ja eine Art Lind­wurm. Ich glaube, 74 Meter ist der lang, bei nur 10 Metern Höhe. Da kannst du als ein­zelner gar nicht alle direkt errei­chen, zumal ja auch der Schall eine Weile braucht. Besser ist so etwas wie die gelb-schwarze Wand“ in Dort­mund. Das geht da hoch wie ein Qua­drat. So ähn­lich werden ja auch klas­si­sche Chöre auf­ge­baut.
Wie syn­chro­ni­sieren Sie sich denn unter­ein­ander auf dem Zaun?
Ben Tohmfor: Das ist relativ ein­fach, weil die Leute, die da sitzen, alle schon min­des­tens 15 Jahre dabei sind. Die müssen nicht lange über­legen und setzen dann auch schon zum rich­tigen Zeit­punkt ein.

Her­mann Klauck: Also, wenn ich das alles so höre, bin ich ganz froh, dass ich nur eine begrenzte Anzahl über­bli­cken muss in meinem Chor. Das ist natür­lich wesent­lich ein­fa­cher, als so eine ganze Masse in Wal­lung zu bringen.

Hätten Sie denn Lust, mal die Süd­kurve ein­zu­peit­schen, Herr Klauck?
Her­mann Klauck: Ich könnte doch schon auf­grund meines Alters keine 90 Minuten da oben stehen (schmun­zelt)! Aber wenn ich die Gewähr hätte, dass die Leute auf­merksam sind und mich als Chor­leiter akzep­tieren – viel­leicht könnte ich das mal über­legen. Beim Ham­borger Veer­master“ mach ich ja auch immer den Vor­sänger.

Ben Tohmfor: Was man tat­säch­lich pro­bieren könnte: Dass du mal das Aux armes“ bei Spiel­be­ginn anstimmst! („Aux armes“ – fran­zö­sisch Zu den Waffen“ – ist ein von Olym­pique Mar­seille über­nom­mener Wech­sel­ge­sang, mit dem die Süd­kurve und das übrige Sta­dion am Mill­erntor das Spiel ein­leiten, d. Red.) Wenn man das richtig ver­breitet im Vor­feld, dann würde ich glatt behaupten, dass das Sta­dion gleich dop­pelt so laut wäre (schmun­zelt).

Und wie wäre es umge­kehrt mit der einen oder anderen Über­nahme aus der Süd­kurve für den Alten Stamm“ – ein biss­chen wie der Shan­ty­chor, der beim Jubi­lä­ums­kon­zert zum 100. Geburtstag des FC St. Pauli am Mill­erntor Fan­ge­sänge vor­trug?
Her­mann Klauck: Ich weiß nicht … Der Chor vom Alten Stamm“ ist ein reiner Hob­by­chor, und wenn man das viel­sei­tiger machen wollte, müsste man schon wesent­lich mehr üben. Und viel­leicht auch gesang­lich noch ein biss­chen mehr bringen.

Ben Tohmfor: Ach komm schon, Her­mann! 95 Pro­zent aller Leute, die in einem Sta­dion stehen, können doch über­haupt nicht singen. Dabei es gar nicht so sehr um das Organ. Die Atem­technik ist das Pro­blem! Darum kann ein Groß­teil der Leute ihr Poten­tial nicht voll abrufen. Wenn ich keine Atem­technik habe, kann ich keinen Ton halten, ziehe alles über den Kehl­kopf, ent­spre­chend klingt das auch.

Her­mann Klauck: Genau richtig. Die Atem­technik ist ent­schei­dend.

Ben Tohmfor: Aber im Zusam­men­spiel von ganz, ganz vielen Leuten, die nicht singen können, ent­steht letzten Endes etwas, dass man als völlig normal emp­findet – oder sogar als erhaben. Ich glaube, da könntet ihr nicht viel falsch machen!

Her­mann Klauck: (Schmun­zelt) Na ja, ich werde das mal mit den anderen bespre­chen.

Viel­leicht der erste Schritt zu einem gemein­samen Chor?
Ben Tohmfor: Ich hätte nichts dagegen (lacht)!

Zum Abschluss noch die Grund­satz­frage: Warum singt man über­haupt beim Fuß­ball?

Ben Tohmfor: Da gibt es ja diverse Erklä­rungs­ver­suche. Oft werden reli­giöse Ursprünge her­an­ge­zogen oder Chor­tra­di­tionen, gerade auch in Eng­land. Andere behaupten, das wären eine Art Stam­mes­ge­sänge.

Her­mann Klauck: Ich glaube, der Gesang demons­triert ein Gemein­schafts­ge­fühl, die Zuge­hö­rig­keit zu einer Sache. Es gibt ja auch Sport­arten, wo über­haupt nicht gesungen wird. Aber im Fuß­ball will man sagen: Ich gehöre dazu. Man will Zusam­men­halt ver­mit­teln – und eine gute Stim­mung. Warum wird jemand aus­ge­pfiffen? Weil man unzu­frieden ist. Aber wer singt, ist nicht unzu­frieden.

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Dieses Inter­view erschien in ähn­li­cher Form auch in der Sta­di­on­zei­tung VIVA ST. PAULI, Heft Nr. 173.
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