Herr Deisler, Sie haben Ihre Karriere beendet und seitdem nichts mehr in der Öffentlichkeit gesagt. Warum, und wie geht es Ihnen?
Sebastian Deisler: Danke, mir geht es gut. Ich habe erst einmal Abstand gebraucht und die Ruhe genossen. Daran möchte ich auch nichts ändern. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte kein neues Thema werden. Ich möchte jetzt ein Leben führen, das ich allein bestimme. Aber ich kann mich öffnen und Ihnen einen kleinen Einblick geben, was mich dazu bewogen hat, meine Karriere zu beenden.
Sie taten das mit 27, im besten Fußballeralter. Fehlt Ihnen nicht der Fußball?
Sebastian Deisler: Der Fußball, der mir fehlt, ist ein anderer als der, den ich verlassen habe. Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass ich so, wie alles gelaufen ist, nicht geschaffen war für dieses Geschäft. Am Ende war ich leer, ich war alt, ich war müde. Ich bin so weit gelaufen, wie mich meine Beine getragen haben, mehr ging nicht.
Lassen Sie uns das ein wenig ordnen. Sie haben Ihren Entschluss zum Ausstieg Anfang des Jahres in Dubai, im Trainingslager des FC Bayern, getroffen.
Sebastian Deisler: Ich habe für mich keine andere Lösung mehr gesehen. Ich war verbittert, auch über mich selbst. Ich kann auch nicht verlangen, dass mich jeder versteht. Langsam finde ich zu mir zurück und möchte mir fernab der Öffentlichkeit etwas Neues aufbauen. Ich bitte nur, dass man dies respektiert.
Wie verliefen die Tage nach Ihrer Entscheidung?
Sebastian Deisler: Ich war froh, ich habe Erleichterung empfunden. Ich hatte mich nach Verletzungen so oft herangekämpft, aber am Ende ist mir die Kraft ausgegangen. Ich brauchte ein paar Monate, um einen neuen Rhythmus zu finden. Das war nicht einfach. Mittlerweile komme ich damit gut zurecht.
Uli Hoeneß sagte damals: Wir haben den Kampf um Sebastian Deisler verloren. Empfanden Sie das auch so: Haben Sie den Kampf um sich verloren?
Sebastian Deisler: Nein, ich sehe das anders. Wissen Sie, ich habe so lange gekämpft gegen mich, ich habe Krieg geführt gegen mich, bis ich es nicht mehr ausgehalten habe. Deswegen habe ich einen Schlussstrich gezogen. Uli Hoeneß bin ich dankbar dafür, dass er mir zugehört hat, dass er mich verstanden hat. Aber im Januar war ich an einen Punkt gekommen, an dem ich mich maßlos überfordert hatte mit all meinen Problemen, meinen Schmerzen und mit meinem Träumen. Im letzten Testspiel in Dubai, gegen Marseille, hätte ich mich fast wieder verletzt, es war kurz davor. Ich hatte mich noch gerade über Wasser halten können.
Was ist diese Entscheidung heute?
Sebastian Deisler: Ein Sieg, aber einer, der in seiner Tragweite auch bitter war. Ich habe mich lange und intensiv mit meiner Vergangenheit auseinandergesetzt. Für mich ist heute vieles klarer. Ich kann mir erklären, warum es so gelaufen ist, ja, warum es am Ende einfach nicht funktionieren konnte.
Lassen Sie uns an Ihren Erkenntnissen teilhaben? Wie konnte es dazu kommen?
Sebastian Deisler: Da muss ich weit zurück in meinem Leben. Ich kann Ihnen davon erzählen, weil ich heute glaube, dass in meiner Vergangenheit Gründe liegen. Ich bin ja praktisch nur mit einem Bein aus dem Haus gelaufen. In meiner Heimat Lörrach waren wir damals mehrere Jungs, die im Hof Fußball spielten. Ich war immer der Kleinste. Wir waren damals 14 oder 15. Ich war nicht mal einssechzig groß. Ich spielte viel besser Fußball als die anderen. Irgendwann fingen meine Freunde an, mich auszulachen. Sie machten sich lustig über mich wegen meiner Körpergröße. Im Kampf um die neuesten Markenartikel konnte ich auch nicht mithalten, da meine Eltern andere Werte gesetzt haben. Heute bin ich ihnen dafür sehr dankbar, damals war es eine Qual. Ich litt sehr darunter.
Aber das waren doch Kinder.
Sebastian Deisler: Ja, aber ich war ja auch noch eins. Die Sache nahm für mich ungeheure Ausmaße an. Zum Teil Kinderkram, ich weiß, aber damals traf es mich sehr.
Was sagten Ihre Eltern damals?
Sebastian Deisler: Ich hatte ein gutes Elternhaus, aber meine Eltern konnten mir damals nicht so helfen. Sie hatten eigene Probleme, Probleme, die es in vielen Familien gibt. Mein Zuhause war damals für mich nicht der Ort, an dem ich mich hätte zurückziehen können. Meine Mutter wollte nicht, dass ich gehe. Aber ich sah für mich nur noch darin eine Chance. Diese Dinge haben mich von zu Hause weggehen lassen. Heute weiß ich, dass es viel zu früh war. Ich wollte es damals auf Teufel komm raus meinen Freunden und mir zeigen.
Und mit diesem Schmerz und Druck zogen Sie los.
Sebastian Deisler: Ja, mit diesem Ballast. Und dann kamen mein Ehrgeiz und mein Talent dazu. Ich ging ab wie eine Rakete. Das war Ende der neunziger Jahre. Heute weiß ich, dass das alles viel zu schnell ging und viel zu viel war. Die Welle, die über mich kam, war nicht mehr aufzuhalten.
Der deutsche Fußball lag am Boden. Sie waren der Hoffungsträger. Eine ganze Nation projizierte ihre Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen auf Sie.
Sebastian Deisler: Ja, das müssen Sie sich mal vorstellen. Ich galt als Heilsbringer des deutschen Fußballs. Ich war 19!
Mittlerweile waren Sie über Mönchengladbach in Berlin gelandet.
Sebastian Deisler: Oh ja, Berlin – wo plötzlich alles anders war als normal. In Berlin ging es für mich von null auf tausend. Jeder wollte wissen, welche Jeans ich trage und welches Parfüm. Über Nacht hatte ich kein Privatleben mehr. Man wollte aus mir den Beckham von der Spree machen, aber das war ich nicht. Trotzdem habe ich versucht, es, so gut es ging, zu machen. Ich wollte es zum Guten steuern, dass etwas anderes rüberkommt.
Was sollte rüberkommen?
Sebastian Deisler: Ich habe bei Autogrammstunden versucht, jedem etwas Persönliches mit auf den Weg zu geben. Mich hat es deprimiert, wenn die zweite Frage war: Welches Auto fährst du, wie viel Geld verdienst du? Wenn es allen nur noch darum geht, dann gute Nacht. Ich freue mich auch, ein schönes Auto zu fahren, ich freue mich, dass ich heute meine Familie unterstützen kann. Aber damals hat mich das alles sehr irritiert.
Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen: Ich war nicht geschaffen für dieses Geschäft?
Sebastian Deisler: Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich wollte ja auch dazugehören. Es geht im Fußball sehr viel um Status, um Titel, um Ego, um Macht. Das habe ich gesehen in dieser Welt. Ich habe lange versucht, den Schein zu wahren. Ich trug eine Maske, innerlich habe ich dagegen rebelliert. Ich habe andere Dinge gesucht.
Welche Dinge haben Sie gesucht?
Sebastian Deisler: Ich wollte Spaß und Freude vermitteln. Mir waren die Gucci-Brillen und Prada-Shirts nicht so wichtig. Aber klar, es gab auch Phasen, in denen ich versucht habe, mich über Äußerlichkeiten zu definieren. Aber ich kam mir so lächerlich vor. Wissen Sie, in Berlin habe ich in meiner Wohnung gesessen, ich war bekannt in ganz Deutschland, ich war oben angekommen, und vor der Tür stand ein Mercedes. Aber das alles hat mich nicht glücklich gemacht. Ich habe mich gefragt, war’s das jetzt? Ich war todunglücklich.
Warum haben Sie nichts dagegen unternommen?
Sebastian Deisler: Das ist gar nicht leicht. Ich hatte schon in Berlin das Gefühl, dass es gegen die Wand fährt. In Berlin gab es diese Geschichte mit dem Scheck.
Im Oktober 2001 tauchte in der „Bild“-Zeitung der Auszug Ihres Kontos auf. Der FC Bayern hatte Ihnen 20 Millionen Mark dafür überwiesen, dass Sie im Sommer 2002 nach München wechseln…
Sebastian Deisler: Ja, das war am Vormittag, und am Nachmittag habe ich gegen den HSV gespielt und mir meine erste ganz schwere Verletzung zugezogen. Monate vorher, im Sommer 2001, hatte ich Herthas Manager Dieter Hoeneß gesagt, dass ich im Sommer 2002 nach München wechsele. Er bat mich, damit nicht an die Öffentlichkeit zu gehen, sondern ein halbes Jahr zu warten, um keine Unruhe aufkommen zu lassen. Das hatte ich verstanden, schließlich hatte ich dem Verein einiges zu verdanken, ich bin in dieser Zeit Nationalspieler geworden. Aber es war schlimm für mich, nichts sagen zu können. Jeden Tag wurde ich gefragt, von Fans, von Journalisten, von meinen Mitspielern. Im Oktober platzte dann die Geschichte. Und ich stand da wie ein Verräter. Plötzlich wurde ich gehasst in Berlin. Ich wurde beschimpft, als ich mit Krücken auf der Tribüne saß und nicht spielen konnte. Ich hätte damals aufhören müssen, aber ich konnte noch nicht loslassen.
Erzählen Sie weiter…
Sebastian Deisler: Ich wollte nicht so abtreten. Ich wollte Berlin erhobenen Hauptes verlassen. Ich wollte in den verbleibenden Monaten zeigen, dass ich alles für diesen Verein tue, aber ich war verletzt. Heute weiß ich, dass ich damals hätte sagen müssen, was mir auf der Seele lag. Ich wurde schuldig gemacht für etwas, wofür ich gar nichts konnte. Heute wundert mich, warum ich nicht durchgedreht bin.
Warum nicht?
Sebastian Deisler: Ich zog mich damals massiv zurück, ich ließ niemanden mehr an mich ran. Ich wollte einfach nur noch meine Ruhe haben. Ich habe vor drei Wochen ein Foto von mir gesehen. Das hängt in Berlin in einem griechischen Restaurant. Der frühere Hertha-Mitspieler Kostas Konstantinidis hatte mich damals, es muss 2001 gewesen sein, mitgenommen. Wir machten ein Foto mit dem Besitzer. Ich habe dieses Foto erst jetzt gesehen. Das ist ein Bild von mir, das ich nicht mehr sehen kann. Ich erkenne in diesem Bild meinen ganzen Schmerz, meine ganzen Probleme. Heute kann ich darüber sprechen, weil ich erkannt habe, wie es dazu kommen konnte. Aber damals war ich einfach noch nicht so weit. Ich bin sehr depressiv geworden.
Sie waren mittlerweile beim FC Bayern.
Sebastian Deisler: Ja, ich glaubte, im Kreise vieler Stars untertauchen zu können. Aber eigentlich kam ich schon verletzt nach München. Mein Knie war kaputt und auch mein Kopf. Später ließ ich, wie bekannt ist, meine Depressionen behandeln. Kein einfacher Schritt. Aber gut, ich schaffte wieder den Anschluss. Ich wollte es noch einmal versuchen. Dabei hatte ich mich längst übernommen. Mein Gott, ich hatte utopische Träume. Ich wollte beim FC Bayern in die Mitte des Spiels kommen, um einen neuen Geist hereinzubringen, mehr Freude am Spiel, mehr miteinander und nicht dieses Egobetonte.
War es nicht naiv, zu glauben, ein Spieler wie Sie könnte den FC Bayern ändern?
Sebastian Deisler: Bei Hertha und in der Nationalmannschaft war ich in der Mitte. Dort konnte ich führen, eine Richtung vorgeben. Als zentraler Spieler hat man die Stellung, die man dazu benötigt. Mir ging es darum, andere neben mir gut aussehen zu lassen. Der Nebenmann merkt, oh, da kommt was Positives rüber, dann gebe ich zurück. Aber ich hatte nicht mehr die Position dafür, nicht mehr die Voraussetzungen und am Ende auch nicht mehr die Kraft.
Sie resignierten?
Sebastian Deisler: Mir fehlte von Anfang an ein festeres, ein stärkeres Fundament. Ich habe mit 15 alles auf die Karte Fußball gesetzt, habe viel zu früh mein Elternhaus verlassen. Ich hatte damals schon Probleme. Mein Talent im Fußball wurde zu meinem Schutz. Auch im Fußballgeschäft gibt es Leute, denen es um etwas anderes geht. Roque Santa Cruz beispielsweise habe ich wegen seines Fundaments beneidet. Ich habe versucht, mich freizuschwimmen. 2002 habe ich dann meine Lebenspartnerin kennengelernt. Bei ihr habe ich Halt gefunden. Wir bekamen einen Sohn, der ist jetzt dreieinhalb. Sie gaben mir die Kraft, vielleicht doch den Traum zu verwirklichen: Fußball zu spielen und trotzdem eine eigene Welt zu haben. Ich habe an Roque so bewundert, dass er so eingebettet ist in einer großen Familie. Er trägt sein Herz offen, ich habe meins zugemacht.
Weswegen nur?
Sebastian Deisler: Ich wollte nicht mehr verletzt werden wie damals mit 15. Ich habe versucht, in diesem Geschäft zu überleben. Dabei bin ich so weit übers Ziel hinausgeschossen. Ich hätte eher auf meinen Körper hören sollen. Ich habe versucht, vieles zu verstecken.
Und Sie gaben den Kampf um Ihren Traum auf?
Sebastian Deisler: Ich habe lange probiert, so zu sein wie viele der Fußballer. Oliver Kahn hat mal gesagt: Man stumpft ab in diesem Geschäft. Das ist auch so. Ich kann das aber nicht. Ich lebe als Fußballer und Mensch von meiner Intuition, von meinem Gefühl. Ich hatte auf dem Feld nicht diesen einen festen Plan, ich habe gesehen, wo die Stärken und Schwächen meiner Mitspieler waren, ich habe gesehen, welchen Ball, welchen Pass wer braucht. Verstehen Sie, was ich meine? Das ist meine Intuition, meine Kreativität, das ist meine Fantasie. Das ist es, warum ich so gut Fußball gespielt habe in meiner guten Zeit.
Sie hatten Angst davor, abzustumpfen und Ihr Fußballspiel zu verlieren?
Sebastian Deisler: Am Ende habe ich versucht, mit dem Gedanken zurechtzukommen, nur noch auf der rechten Seite zu spielen. Aber dieser Spieler war ich nie. Einen Meter neben der Außenlinie habe ich mich eingeengt gefühlt. Ich habe mich mit dieser Begrenzung nicht abfinden können, war aber andererseits froh darüber, überhaupt weiterspielen zu können mit meinem Knie. Ich hatte am Ende keine Kraft mehr, ich war müde. Deswegen musste ich Schluss machen.
Haben Sie ihre Entscheidung bereut?
Sebastian Deisler: Oh nein. Anfangs kamen viele Dinge hoch. Ich denke heute schon etwas anders darüber. Ich bin kein Mitläufertyp, dafür war ich auch zu gut. Aber ich bin auch kein Effenberg. Ich habe lange versucht, im Fußball zu überleben, wollte hart und kühl sein. Aber so bin ich nicht. Ich habe mich selbst verletzt. Ich hätte früher versuchen sollen, mich zu öffnen. Aber ich hatte Angst davor.
Sie wollten nicht, dass es heißt: Sie sind zu schwach?
Sebastian Deisler: Das bin ich nicht, glauben Sie mir. Vielleicht gelte ich jetzt als zu weich für dieses Geschäft, aber ich habe etwas getragen und ausgehalten, was nicht jeder in diesem Geschäft erleben muss. Stellen Sie sich mal damals die Schlagzeile vor: Der Retter des deutschen Fußballs muss gerettet werden. In dieser Welt ist man nur jemand, wenn man keine Schwächen zeigt: Entweder du gewinnst, oder du verlierst. Ich hätte mich gern mal angelehnt, mich ausgeruht. Sollte ich das der „Bild“-Zeitung sagen?
Sie sagen es ja jetzt.
Sebastian Deisler: Ja, und zum letzten Mal. Das Geschäft hat zu schnell Besitz ergriffen von mir. Ich habe nie die Zeit gehabt zum Wachsen, nie die Zeit, erwachsen zu werden, ich hatte nicht mal die Zeit, Fehler zu machen. Beim FC Bayern hat man dann versucht, mir Zeit zu geben. Dafür bin ich Uli Hoeneß sehr dankbar. Er hat bis zum Schluss an mich geglaubt, aber es ging einfach nicht mehr. Kurz: Es ist alles ein bisschen dumm gelaufen, oder?
Sie sind zynisch gegen sich selbst?
Sebastian Deisler: Nein, heute kann ich das so sagen. Das ist mein kleiner Sieg.
Was wollen Sie jetzt tun?
Sebastian Deisler: Da fällt mir eine kleine Geschichte ein. Als ich noch bei Hertha war, saß ich im Mannschaftsbus und blickte aus dem Fenster. Ich sah drei junge Männer. Vielleicht 19, 20 Jahre alt, so wie ich damals, sie hatten Schultaschen über den Schultern, es waren Studenten. Was hätte ich damals dafür gegeben, mit ihnen zu tauschen. Momentan arbeite ich an einem Buch, das andere hole ich bestimmt nach. Ich freue mich drauf.
Herr Deisler, welches Bild soll von Ihnen bleiben?
Sebastian Deisler: Er hat seinen Weg gefunden.