Für unsere aktuelle Ausgabe 11FREUNDE #147 trafen wir zwei Rostocker Legenden zum Interview: Rapper Marteria und Haarikone Mike Werner. Vor dem Topspiel der dritten Liga zwischen Hansa und Heidenheim gibt es hier das Interview in voller Länge.
Marteria, wo haben Sie den Bundesliga-Aufstieg von Hansa Rostock am 11. Juni 1995 erlebt?
Marteria: Ich war zwölf Jahre alt und wie bei jedem Heimspiel mit meiner Mutter im damaligen B‑Block des Ostseestadions. Stefan Beinlich, Rocco Milde und Steffen Baumgart schossen Hannover 96 ab. Hinten in der Abwehr wehten die Haare von Werner. Nach dem Abpfiff stürmten alle auf den Rasen. Ich hab vor Freude geheult.
Sie spielten damals als rechter Verteidiger in der Jugend von Hansa. Ihnen wurde eine Profi-Karriere prognostiziert. War Mike Werner ein Vorbild?
Werner: Sag jetzt nichts Falsches. (lacht)
Marteria: Für uns waren alle Profis Götter. Beim Training hingen wir am Zaun und träumten. Prägend waren aber vor allem die Trainingsauftritte von Daniel Hoffmann.
Warum?
Marteria: Es war für uns der Mann, der den Westen zu Hansa brachte. Als einer der jüngsten Spieler im Kader kam er mit einem alten Benz zum Training. Das fanden wir ziemlich cool. Wenn es dann in der Ferne knatterte, wussten alle: Jetzt kommt Werner auf seiner Harley!
Werner: Einspruch. Ich fuhr damals noch keine Harley, sondern eine alte MZ. Aber die war auch fürchterlich laut.
Mike Werner, Sie entsprachen mit lange Haaren und einem Motorrad Ihrem Image des Ost-Rebellen.
Werner: Image? So ein Quatsch! Ich hatte zu der Zeit einfach keinen Auto-Führerschein, und irgendwie musste ich zum Training kommen. Aber als wir dann aufgestiegen sind, habe ich mir tatsächlich geholt. Das war für mich ein Ausdruck von Freiheit.
Wie haben die Hansa-Profis damals den eigenen Nachwuchs wahrgenommen?
Werner: Wir lebten in einer Blase, die Nachwuchsmannschaften haben uns Null interessiert. Die Mauer war zwar weg, aber im eigenen Verein stand sie irgendwie noch. Aus heutiger Sicht ist das selten dämlich. Schon damals hätten wir ahnen müssen, dass Hansa auf seine Jugend angewiesen sein wird.
Marteria: Die meisten Hansa-Profis waren damals noch jung, irgendwo zwischen 19 und 23. Und auf einmal öffnet sich das Land, und alle Verheißungen des Westens prasseln auf die Spieler ein. Man verdient viel Geld, fährt dicke Autos und spielt gegen Bayern München. Da ist es logisch, dass man kein Auge für den eigenen Nachwuchs hat.
Dabei war das Erfolgsrezept von Hansa in jenen Jahren doch Zusammenhalt und regionale Identifikation.
Werner: Diese Identifikation war am Anfang da, aber mit dem Erfolg hat das nachgelassen. Es kamen immer mehr Spieler, die Hansa als Durchgangsstation gesehen haben. Täglich krochen uns neue Berater in den Arsch. Irgendwann waren viele Spieler mehr mit anderen Dingen beschäftigt als mit Fußball. Das hat mich genervt.
Wilderten die Berater auch schon im Nachwuchsbereich?
Marteria: Ich hatte mal ein Angebot von Real Mallorca, weil ich bei einem C‑Jugend-Turnier vier Tore gegen die geschossen habe. Die haben dann bei meiner Mutter angerufen, aber für mich gab es nur Hansa.
Werner: Bereust Du Deine Entscheidung heute?
Marteria: Nein, ich hatte damals alles. Ich spielte mit meinen Freunden bei meinem Verein, konnte als 16 – Jähriger meine Mutter finanziell bei der Miete unterstützen. Der Klub besorgte mir sogar eine Ausbildung. Am Ende hat sich das aber als Albtraum herausgestellt.
Was war passiert?
Marteria: Für die Chefs war ich kein Auszubildender, sondern das Fußballtalent. Montagsmorgens boxten sie mir kumpelhaft in den Bauch, ich saß in der Kantine bei den Chefs am Tisch statt bei den anderen Azubis. Ich dachte mir: Ich will das alles nicht. Obwohl ich alle Freiheiten hatte, fühlte ich mich eingesperrt.
Sie lebten in einem goldenen Käfig.
Marteria: Freiheit hatte ich nur, wenn ich funktionierte. Wenn die Leistung stagnierte, wurde der Umgang schnell rauer. Zeitgleich entdeckte ich die Musik und hatte Lust über andere Dinge zu sprechen als über Fußball. Das war nicht erwünscht. Meine Gedanken sollten systematisch abgerundet werden.
Werner: Ich habe das gleiche in der DDR erlebt. Als Spieler bei Vorwärts Frankfurt bekam ich eine Ausbildung als Kfz-Schlosser zugeteilt. An ein Auto hätte man mich aber nie gelassen. Alle meinten, ich könnte sowieso nur Fußball spielen. Wenn ich wollte, wurde ich einfach krankgeschrieben.
Klingt doch erst mal fantastisch.
Werner: Es ging aber auch anders. Einen Kumpel haben Sie damals aus der Jugendmannschaft aussortiert, weil die Ärzte behaupteten, dass er nicht mehr wachsen würde. Einen Tag später war er auch seinen Ausbildungsplatz los. Er hatte nichts mehr. Und heute ist der größer als ich. Das war schon krass.
Sie beide haben dann auf Ihre eigene Weise rebelliert. Marteria beendete 1999 als frisch gebackener U17-Nationalspieler seine Karriere und ging als Model nach New York. Werner ließ sich seinerzeit die prägendste Frisur der Bundesliga-Geschichte wachsen.
Werner: Das war keine Rebellion, das war schön. Ich sah doch super aus. (lacht)
Marteria: Vorne Igel und hinten Matte. Wir nannten das den Ost-Schnitt. Warum hast Du die Haare eigentlich so getragen?
Werner: Ich wollte ursprünglich komplett lange Haare haben. Aber dann hat mir mein Trainer Uwe Reinders gesagt: „Wenn Du jemals einen Kopfball verpassen solltest, weil dir die Haare im Gesicht hängen, spielst Du nie wieder.“ Also habe ich sie mir vorne kurz geschnitten. Der konnte als Wessi einfach nicht damit umgehen, dass wir Ossis modisch weit voraus waren. (lacht)
Haben Sie beide sich eigentlich mal während Ihrer aktiven Hansa-Zeit getroffen?
Marteria: Klar. Aber ich glaube, daran kann sich Mike nicht mehr erinnern. In dem Moment hatte er andere Sorgen.
Werner: Wann war denn das?
Marteria: Am 29. August 1995.
Werner: Ach, du scheiße.
Sie erinnern sich?
Werner: An dem Tag haben wir gegen Dortmund gespielt. In der 41. Minute rannte mich Knut Reinhardt über den Haufen. Ich hörte es krachen: Mein Kreuzband war gerissen. Das war mein letztes Spiel als Profi. Aber wo haben wir uns an dem Tag getroffen?
Marteria: Ich war Balljunge im Stadion, immer in der gleichen Ecke. Genau dort rauschte Knut Reinhardt in dich rein. Ich stand nur einen Meter entfernt und hörte dich schreien. Im Stadion war es für einen Moment ganz still, weil alle wussten: Wenn Mike Werner liegen bleibt, muss es schlimm sein.
Werner: Ich habe vor kurzem noch ein Video gesehen von der Szene. Was habe ich gejammert und gemotzt. Ich hatte aber auch barbarische Schmerzen. Aber meine Auswechslung hatte auch was Gutes: Wir haben trotz 0:2‑Rückstand noch 3:2 gewonnen.
Werner ging im Anschluss für ein halbes Jahr in die Reha nach Berlin. Haben Sie seinen Weg verfolgt, Marteria?
Marteria: Er war fester Bestandteil dieser bärenstarken Mannschaft. Und von einem Tag auf den nächsten war er weg. Und kam auch nicht mehr wieder. Ich merkte, dass es im Fußball von einem Moment auf den nächsten einfach vorbei sein kann. Eine Erkenntnis, die meiner Persönlichkeitsentwicklung sehr gut getan hat.
Werner: So eine Verletzung zeigt dir, dass Fußball ein Geschäft ist und nichts anderes. Viele vermeintliche Freunde, Bekannte und Kumpels haben sich danach nie wieder gemeldet.
Sind Sie vielleicht zu blauäugig an das Profigeschäft gegangen?
Werner: Na klar. Wir haben in den Tag gelebt. Überall bekamen wir alles umsonst. Da hat niemand an morgen gedacht.
Marteria: Das ging sogar schon in meiner Jugendmannschaft los. Von Ihrem ersten Geld haben sich einige fette Autos gekauft und die Flaschen im Club geköpft. Die haben nur Scheiße gebaut. Ich denke, einige von denen fassen sich heute auch nur an den Kopf, wenn sie an diese Zeit denken. Mich hat das eher nachdenklich gemacht. Ich wollte ein Leben neben dem Fußball haben.
Bereuen Sie, keinen Lebensplan B gehabt zu haben, Mike Werner?
Werner: Ich bin nicht der Typ der irgendwas bereut. Ehrlich gesagt, bin ich nicht mal der Typ, der viel nachdenkt. Ich mache lieber. Nach der Verletzung musste ich das Leben von Null auf neu erlernen. Als Profi wurde mir alles abgenommen. Ich war schleichend entmündigt worden, ohne es zu merken. Ich wusste nicht einmal, wie ich mein Auto ummelde. Das hat mich eiskalt erwischt und meinen Blick auf den Fußball verändert.
Wurden Spieler bewusst naiv gehalten?
Marteria: Was naiv klein? Hier im Osten war Jahrzehnte lang alles auf Disziplin und Gehorsam getrimmt worden. Natürlich auch im Fußball. Und das hat sich nach der Wende nicht geändert. Ich hatte in den Auswahlmannschaften schon sehr strenge Trainer, die keine Ausreißer geduldet haben. Ich glaube, dass der Osten bis heute Probleme hat, bestimmte Dinge lockerer zu sehen.
Dabei hatte die Hansa-Mannschaft der Neunziger doch viele dieser Typen.
Werner: Und nur deshalb hat es funktioniert. Weil wir eben auch mal einen trinken gegangen sind. Weil wir nicht alles so genau genommen haben. Und weil wir auf dem Platz die richtige Mischung auf Kampfschweinen und Strategen hatten.
Marteria: Das Beste waren aber natürlich die Sololäufe von Heiko März.
Werner: Wenn er mit dem Ball am Fuß nach vorne gestürmt ist, wussten wir, dass es ins letzte Gefecht geht. Marteria: Und das ganze Stadion erhob sich und betete, dass er nicht am ersten Bein hängen bleibt. Das war wie Lotto spielen. Er war eigentlich chancenlos und ist trotzdem erstaunlich oft durchgekommen.
Werner: Heute würde jeder Trainer ihn sofort auswechseln, weil er gegen irgendein taktisches Konzept verstoßen hat. Aber mit seinen langen Beinen hat er sich immer irgendwie durchgewurschtelt.
Musste er sich dafür Sprüche anhören?
Werner: Dass man sich gegenseitig beschimpfte, war doch ganz normal. Olaf Bodden und ich haben uns zum Beispiel ständig in die Haare gekriegt.
Marteria: Bei deiner Matte war das ja auch kein Problem (lacht)
Werner: Er war stinkig, weil ich ihn im Training immer so hart gedeckt habe, dass er nichts zeigen konnte. Da flogen die Fetzen. Aber nachher haben wir uns die Hand geschüttelt und sind zusammen in die Disco gegangen.
Wusste man der Hansa-Nachwuchs eigentlich, wo die Profis nach dem Training Ihre Freizeit verbringen?
Marteria: Von einigen wussten wir, wo sie wohnen. Es gab mal einen Spieler mit dem unglaublichen Namen Andreas Babendererde. Der wohnte bei mir im Stadtteil Groß Klein im sogenannten Würfelhaus. Da sind wir dann mit ein paar Jungs hingegangen, um uns Autogramme zu holen. Er war sehr nett.
Werner: Und warum hast Du nie bei mir geklingelt?
Marteria: Ich wusste nicht, wo Du wohnst.
Werner: Als Andreas 1991 gehen musste, habe ich seine Wohnung übernommen.
Marteria: Du hast auch im Würfelhaus gewohnt? Warum hat mir niemand erzählt, dass wir Nachbarn waren? Immerhin wussten wir immer, wenn ihr irgendwo feiern wart.
Rostock ist offenbar ein Dorf.
Werner: Ich erinnere mich noch an das „Fun“. Die ganze Mannschaft verhielt sich alles andere als professionell. Aber woher sollten auch wissen, wie das geht? Uns hat nie jemand gezeigt, wie man Profi wird. Wir haben uns in diesen Job reingelebt. Noch öfter waren wir allerdings im „Shanty“.
Marteria: Da hattet ihr euren abgetrennten Bereich, mit roter Kordel und Sektkühler. Das war schon Chef. Auf der anderen Seite haben an unserem Bier genippt.
Werner: Das Kuriose war, dass wir da nie was bezahlen mussten. Schon komisch: Wir hatten das Geld und feierten umsonst und die Leute um uns herum, mussten sich die Getränke vom Mund absparen. Ich hab mir immer die Frage gestellt: Was soll das?
Es ist erstaunlich, dass sie zusammen in der gleichen Disco waren. Marteria steht auf Rap, Mike Werner hört eher Rock.
Marteria: Rostock hatte nun mal nur Großraumdiscotheken. Ich finde das auch gar nicht schlecht. Wo sonst kommen so viele unterschiedliche Leute zusammen, die sich im Leben nicht miteinander abgeben würden? Natürlich gab es auch unglaublich viele Schlägereien, aber man hat seine Stadt in dieser Disco besser kennengelernt, als wenn man 20 Jahre jedes Wochenende durch die Einkaufsstraße geht. Wir mussten uns mit Nazis prügeln und den Ravern das Bier klauen, um zu zeigen, wer wir sind.
Und Mike Werner moshte auf dem Hardrock-Floor.
Werner: Ich habe gerne deutsche Musik gehört, weil mein Englisch nicht so gut war. Aber Luftgitarre habe ich nie gespielt. Ich habe immer gerne Wodka getrunken. Und im Nachhinein weiß ich, dass das natürlich alles zu viel war.
Das Ostdeutschland der Neunziger hat das Bild vieler Menschen geprägt. Noch heute halten viele Rostock für eine Stadt voller Nazis. Was ist schief gelaufen?
Marteria: Als Jugendlicher war man mit Baggy-Pants in Rostock ein Außenseiter. Und wenn man um die falsche Ecke bog, konnte es sein, dass da ein paar Glatzen warteten und dir auf die Fresse gehauen haben. Und dann kam Lichtenhagen.
Woran denken Sie als erstes, wenn Sie an die Anschläge denken?
Marteria: Das Haus in Lichtenhagen war direkt bei mir um die Ecke. Meine Mutter hat die ganze Zeit geweint, weil sie sich so für diese Idioten geschämt hat. Einmal kam ein Fernsehsender an unsere Schule und bot jedem 50 Mark, der vor der Kamera den Hitlergruß macht. Manche haben das Geld genommen, ich bin lieber abgehauen.
Werner: Wir sind vom Verein so abgeschirmt worden, dass wir nicht einmal richtig mitbekommen haben, was 1992 in Lichtenhagen los war. Daran sieht man, dass wir in einer Seifenblase gehalten wurden.
Der Ruf von Rostock war nach den Anschlägen miserabel.
Marteria: Rostock wurde zur Todeszone. Uns hat das sauer gemacht. Wir wussten natürlich, dass es hier viele Nazis gibt. Aber es gab auch uns: die Rapper, die Sprayer, die Alternativen. Nur die hat niemand wahrgenommen. Deswegen haben wir das exzessiv ausgelebt.
Gibt es dafür ein Beispiel?
Marteria: Niemand wollte etwas mit Rostock zu tun haben, natürlich auch keine geilen Bands. Hier gab es kulturell nichts für uns. Also haben wir uns die ersten Wu-Tang-Pullis selbst im Copyshop gemacht und in der Stadt unsere Rap-Tapes verteilt. Für viele waren wir wie Aliens. Aber für uns war Rap eine Form der Rebellion, unsere Version des Punks.
Kann der Lindenberg-Fan Mike Werner eigentlich was mit der Musik von Marteria anfangen?
Werner: Ich mochte Rap nie sonderlich. Und wenn wir uns hier nicht getroffen hätten, würde ich dich wohl auch nicht kennen. Aber meine Tochter hat mir deine Musik gezeigt und ich muss sagen: Du machst das gar nicht mal so schlecht.
Marteria: Das ist wie ein Ritterschlag. Nun kann ich mich zur Ruhe setzen.