Herr Weise, wann haben Sie Robert Schlienz zum ersten Mal getroffen?
Das war, nachdem ich von den Stuttgarter Kickers 1957/58 zum VfB gekommen war. Da habe ich gleich mit unserm Käpt’n die Bekanntschaft gemacht. Er war schon vorher jahrelang mein großes Vorbild gewesen und wurde dann anschließend sogar mein bester Freund.
Wie wirkte er auf Sie beim ersten Treffen?
Ich sah gleich, dass er eine Respektsperson ist. Wenn man bei ihm nicht marschiert ist, dann ist er über das Feld geflitzt und hat gesagt: „Junge, aber jetzt geht’s los. Sonst kannste was erleben“. Ich wäre froh, wenn wir heute solch einen Käpt’n in der Mannschaft hätten.
Wie hoch schätzen Sie seine Bedeutung für den VfB Stuttgart ein?
Er war für mich der größte Fußballer, den es je beim VfB gegeben hat. Erstens ist er der einzige Spieler auf der Welt, der mit nur einem Arm in der Nationalmannschaft gespielt hat. Und zweitens hält er mit 45 Toren in der Süddeutschen Oberliga 1945/46 – allerdings noch mit beiden Armen – immer noch den Torrekord in einer Erstligasaison, noch vor Gerd Müller. 1995 wurde dann das Amateurstadion des VfB in Robert-Schlienz-Stadion umbenannt. Daran kann man sehen, dass er die größte VfB-Persönlichkeit aller Zeiten ist.
Wie kann man sich das Fußballspielen mit nur einem Arm überhaupt vorstellen? Wie war es für Sie als Mitspieler?
Am Anfang gewöhnungsbedürftig, aber ich habe mir nichts anmerken lassen. Zum Schluss haben wir es aber dann überhaupt nicht mehr gesehen. Für mich war es eine besondere Situation, weil ich derjenige war, der ihm nach dem Duschen immer die Manschette angezogen hat. Dadurch, dass ich ihm auch beim Ankleiden geholfen habe, bin ich ihm persönlich sehr nahe gekommen.
Was wissen Sie über seinen schweren Unfall, bei dem er einen Arm verlor?
Seine Mutter war einen Tag zuvor gestorben, und er musste privat zum Auswärtsspiel nach Aalen nachreisen, weil er es nicht mehr rechtzeitig zum Mannschaftstreffpunkt geschafft hatte. Da ist er mit seinem VW in einer Rechtskurve umgekippt und hat ihn sich abgetrennt. Und fünf Wochen später hat er schon wieder gespielt.
Das war dann die zweite große Verletzung, nach der aus dem Zweiten Weltkrieg.
Das stimmt. Wie ich gehört habe, hatte er in Russland einen Granatsplitter abbekommen und davon eine große Narbe im Gesicht fortgetragen. Aber er hat sich deswegen nie beklagt und war für mich auch aus diesem Grund das größte Vorbild, das ich jemals im Sport erlebt habe.
Bei Feiern soll er auch mit seiner Kunsthand auf den Tisch gehauen haben und den Götz von Berlichingen vorgetragen haben.
Ja, er hat da für jeden Neuen etwas ganz besonderes gehabt. Bei meiner ersten Weihnachtsfeier saßen wir unten mit den Frauen im alten Klubhaus. Robert saß neben mir, und auf einmal hat der Kauz mit der rechten Hand – mit der er ja doppelt soviel Kraft hatte – in meinen rechten Oberschenkel gekniffen. Ich hatte Tränen in den Augen vor Schmerzen. Dann hat er losgelassen und gesagt: „So Junge, weil du nicht schrien hascht, darfscht ab jetzt „Du“ zu mir sagen.“ Das werde ich meinen Lebtag nicht vergessen.
Haben Sie als Thüringer überhaupt etwas verstanden wenn er geschwäbelt hat?
Ja, das hat immer gut geklappt. Ich hatte da überhaupt keine Probleme, weil wir damals ja noch viel öfter als die Spieler heute uns zusammen ein Bierchen genehmigt haben. Und wenn wir ein großes Turnier im Ausland hatten, haben wir vorher auch immer ein bisschen was getrunken. Danach hat der Robert gesagt: „Aber eins sage ich euch: Wenn morgen beim Spiel keiner marschiert, dann gibt’s Theater.“ Und da haben wir uns alle dran gehalten.
Das war dann doch etwas anders als in diesen Tagen.
Damals waren wir noch viel bessere Kumpels untereinander und eine richtige Mannschaft, die auch mal zusammen gefeiert hat. Wenn die heute zusammen feiern, trinken die genauso ihr Bier. Aber das sehen die Leute nicht. Wir hingegen haben unser Bier öffentlich getrunken, vorm Trainer und vor der Presse.
Und das hat der Trainer dann auch erlaubt?
Wieso auch nicht? Wir haben noch unsern Beruf gehabt und nur wenig verdient. Wir haben in der höchsten Klasse gespielt, waren eine Riesentruppe – und eins kann ich sagen: Das schweißt zusammen. Wir haben ja nicht gesoffen wie die Verrückten. Wir haben uns halt gelegentlich unser Bier oder Gläschen Wein genehmigt, nach dem Spiel natürlich. Und wir haben es vor dem Trainer gemacht – nicht heimlich.
Bei der Riesentruppe war Robert Schlienz nach der Sommerpause 1959 nur noch im Kader und hat nicht mehr gespielt, bis er 1961 ohne Abschiedsspiel aufgehört hat. Warum wurde er am Ende seiner Karriere so unsanft aus der Mannschaft gedrängt?
Gute Frage. Als wir gegen eine tschechische Mannschaft spielen sollten, haben wir vor dem Spiel in der Kabine gesessen und auf ihn gewartet. Und Robert kam und kam nicht. Da hat unser Trainer Georg Wurzer gesagt: „Ihr braucht gar nicht zu warten – der kommt nicht mehr. Robert Schlienz spielt nie wieder unter mir.“ Daraufhin gab es einen Riesenzirkus. Robert war verständlicherweise total beleidigt, weil er danach nie ein Abschiedsspiel bekommen hat. Den eigentlichen Grund dafür kennen wir bis heute nicht. Ich weiß nur, dass es geheißen hat, dass wir altershalber einen Schnitt machen müssen und mit neuen, frischen Kräften in die Saison starten. Und dazu sollte der Robert nicht mehr gehören.
Wie haben Sie reagiert?
Der ganze Freundeskreis vom Robert ist auf die Barrikaden gegangen und es hat dann böse Geschichten gegeben, weil der Wurzer das bis zum Ende durchgezogen hat. Erst haben wir Robert lange nicht mehr gesehen, aber dann kam er so sukzessiv wieder zu den Spielen, weil sich der VfB bei ihm entschuldigt hatte. Schließlich ist er ist ja in die Geschichte eingegangen.
Inwiefern?
Der Robert war für uns das, was ein Fritz Walter in Kaiserslautern war. Es kann sein, dass Rolf Blessing vielleicht noch der bessere Spieler war, aber von der Wertigkeit her stand Robert über allen. Nachdem er seinen Arm verloren hatte, hat er dann hinten Libero gespielt. Das muss man sich mal vorstellen: Als Mittelstürmer Libero zu spielen! Und er hat hervorragend dort gespielt. Übrigens wurde ich jetzt gerade wieder an ihn erinnert.
Wann war das?
Letztens kam jemand, der ein Buch über die Geschichte des VfB schreibt, zu mir nach Hause und fragte mich: „Wie war das damals mit den Lederhosen?“ Daraufhin habe ich ihm erzählt, dass die Spieler für die Meisterschaft 1950 Lederhosen bekommen haben. Es gibt auch Mannschaftsfotos, auf denen alle stolz mit ihren neuen Lederhosen posieren. Und komischerweise hatte ich kurz zuvor erst ein Gespräch mit der Frau Schlienz gehabt, über das Geld, das die Spieler damals verdient haben und was sie heute bekommen und da hat sie mir erzählt, dass 1950 jeder eine Lederhose für die Meisterschaft bekommen hat. Das hatte ich vorher auch nicht gewusst.
Haben Sie von Robert Schlienz selbst jemals den Grund erfahren, warum er von Trainer Wurzer damals aus der Mannschaft gedrängt wurde?
Nein, das wusste auch er nicht. Es hat dann nur vom Wurzer geheißen, dass wir den besagten Schnitt machen – und da ist der Robert durchs Raster gefallen, weil er 1924 geboren wurde. Dadurch war er an die 38 und sollte in der neuen Saison nicht mehr auflaufen. Jeder hatte dann Hemmungen, das Gespräch darüber überhaupt anzufangen, weil er nach wie vor in allen Herzen war. Wir mussten uns damit abfinden, und es ging eine neue Ära ohne Robert los.
Irgendwann musste auch Schluss sein.
Aber doch nicht auf solch eine Art. Das haben wir alle nicht verstanden. Der Mann war einer der Größten in Deutschland, der Größte beim VfB. Da muss ich ganz ehrlich sagen: Für jeden Durchschnittsspieler wird heute ein Abschiedsspiel gemacht, während beim Robert nicht mal darüber nachgedacht wurde. So etwas finde ich unmöglich.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum er heutzutage, trotz seiner großen Erfolge, außerhalb Stuttgarts eher unbekannt ist?
Das kann ich genau sagen: Weil er nur drei Länderspiele gemacht hat. Und der Fritz Walter hat über 60 gemacht. Damals hatte der Herberger immer mindestens fünf von seinen Kaiserslauterern dabei, und ab und zu durften mal Erwin Waldner, Erich Retter oder Rolf Geiger (Anm. d. Red.: ehemalige Spieler des VfB Stuttgart in den 50er Jahren) spielen. Oder eben der Robert seine drei Mal, aber dadurch ist eben der Bekanntheitsgrad nicht so sehr gestiegen.
Sie sind – auch in Ihrer Funktion als Stadionführer – einer der letzten, die noch etwas dafür tun können.
Das stimmt. Es gibt nur noch wenige, die mit ihm zusammen gespielt haben. Aus der 50er Meistermannschaft lebt ja nur noch einer, der Erich Retter. Von der 58er-Pokalsiegermannschaft, in der auch ich gespielt habe, sind alle schon über 70. Wenn ich jetzt durchs Stadion führe und die Besucher schauen sich die Bilder der acht Meisterschaften und Pokale an, die der VfB errungen hat, dann sehen sie, dass er, zusammen mit Rolf Blessing, der einzige Spieler ist, der jeweils zwei Meisterschaften und Pokale gewonnen hat. Deswegen bin ich enttäuscht, dass er viel weniger bekannt ist als andere, die nur ein paar Jahre hier waren. Ich jedenfalls werde ihn nie vergessen. Denn auf dem Platz war Robert zwar ein Drecksack, aber nach dem Spiel war er mein bester Freund.