Weltmeister, Weltfußballer, Weltstar! Doch zugleich haftet Lothar Matthäus der Ruf des Dampfplauderers an, der kein Fettnäpfchen auslässt. Ein Gespräch über starke Schultern und Schubladendenken.
Dieses Interview erschien erstmals in 11FREUNDE #134. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich. Lothar Matthäus wird heute 63 Jahre alt.
Lothar Matthäus, sind Sie ein Vorbild?
Ich denke schon.
Zumindest zu Ihrer aktiven Zeit waren Sie das sportliche Vorbild einer ganzen Generation von Nachwuchsfußballern. Ist das motivierend oder eher eine Last?
Es gab Momente in meiner Karriere, da bin ich an diesem Erwartungsdruck fast erstickt. Immer der Beste und gleichzeitig ein Vorbild sein zu wollen, das ist nicht einfach. Ich habe schnell gemerkt, dass es nicht nur mich etwas anging, wenn ich jemandem in die Beine grätschte oder in der Kneipe ein Bier zu viel trank, sondern dass es Millionen Menschen registrierten. Mir sind beim Fußball häufig die Sicherungen durchgebrannt, ich hatte viele Momente, in denen ich mich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Wenn ich dann wieder klar denken konnte, klingelte es in meinem Kopf: Das hätte mir nicht passieren sollen.
1979 wechselten Sie in die Bundesliga zu Borussia Mönchengladbach. Wie wichtig war es für Sie als junger Fußballprofi, ein Vorbild zu sein?
Ich stand damals noch nicht annähernd so in der Öffentlichkeit, wie ich es heute tue. Nicht jeder Fehltritt wurde mir am nächsten Tag um die Ohren gehauen. Aber die Vereine und vor allem der DFB haben uns Spieler vor den großen Partien oder Turnieren immer wieder darauf hingewiesen: Denkt daran, euch schauen heute so und so viele Millionen Kinder zu! Wir wurden dazu erzogen, die Vorbildfunktion auch anzunehmen.
Sie haben Ihre Kindheit in Herzogenaurach verbracht. Hatten Sie ein Idol?
Nein, keinen einzelnen Spieler. Aber einen Verein, der von Anfang an meine Sympathien hatte. Mein Vater arbeitete bei Puma, Puma war unter anderem der Ausstatter von Borussia Mönchengladbach. Also war die Borussia mein Verein, und über meinem Bett hing ein Poster von Günter Netzer. Die Bayern waren Adidas, also für mich nicht interessant.
Einer Ihrer großen Mentoren war Jupp Heynckes, von 1979 bis 1987 Trainer bei Borussia Mönchengladbach. Sie schreiben in Ihrer Biografie allerdings von einigen Enttäuschungen in der Beziehung zu Heynckes.
Das kam erst später, als er 1987 Trainer von Bayern München wurde. In Mönchengladbach hatten wir fünf großartige gemeinsame Jahre. Jupp hat mich geformt, gefördert, kritisiert und wieder aufgebaut. In den ersten Jahren meiner Laufbahn war er sicherlich der beste Trainer, den ich mir wünschen konnte. Der erste Kratzer in dieser Beziehung war das Pokalfinale 1984 gegen die Bayern, als er mich dazu zwang, beim Elfmeterschießen anzutreten. Ich wollte das eigentlich nicht, hatte ein ungutes Gefühl dabei. Und was passierte? Ich verschoss und war in Mönchengladbach der große Buhmann.
Nach der Saison 1983/84 wechselten Sie zum FC Bayern. Fans und sogar Vereinsvertreter aus Mönchengladbach warfen Ihnen vor, Sie hätten den Elfmeter absichtlich verschossen. Im ersten Spiel als Bayern-Profi auf dem Bökelberg wurden Sie als „Judas“ beschimpft. An welcher starken Schulter konnten Sie sich als damals gerade 23-Jähriger ausheulen?
Starke Schulter? Die brauchte ich nicht. Die hatte ich selbst mit 18 nicht mehr nötig. Ratschläge von älteren Mitspielern habe ich mir zwar angehört und auch befolgt, wenn ich der Meinung war, dass es sinnvoll ist. Aber eigentlich habe ich mir immer ganz gut selbst helfen können.
Dafür muss man ziemlich stark sein.
Kann sein. Ich musste schon immer meinen eigenen Weg gehen. Meine Eltern waren und sind gute Eltern, aber ihr Leben bestand nur aus Arbeit. Ich war früh auf mich allein gestellt. Als ich mit 18 meinen Heimatort verließ, war mir klar, dass ich mich durchboxen muss.
Ticken Fußballprofis heute auch noch so?
Fußballer sind, was Disziplin und Eigenverantwortung betrifft, relativ frühreif. Wer heute als 18-Jähriger zu den Bayern kommt, der muss die wichtigen Entscheidungen noch immer allein treffen. Da nimmt dich keiner zur Seite und erklärt dir das Leben, die Welt und wie du dich richtig auf dem Platz verhältst. Es geht im Leben doch immer darum, die richtigen Entscheidungen zu treffen und für die selbstgesteckten Ziele zu arbeiten.
Sie haben als Fußballer in München, Mailand und New York gespielt, als Trainer wirkten Sie in Österreich, Ungarn, Serbien, Bulgarien, Israel und Brasilien. Ihren Vater, der nach dem Zweiten Weltkrieg aus seiner schlesischen Heimat fliehen musste, zitieren Sie in Ihrer Biografie mit dem Satz: „Freiheit haben wir eigentlich nie groß gehabt“. Treibt Sie der Wunsch nach Freiheit bis heute um die Welt?
Ich erinnere mich noch an einen anderen Satz meines Vaters: „Erst kommt die Pflicht und dann die Freiheit.“ Nach diesem Motto lebe ich auch heute noch.
Im Sinne von: Wenn ich im Job meine Leistung bringe, kann ich auch mal Fünfe gerade sein lassen?
Nein. Ich will meine Leistung generell bringen. Immer. Ob im Job oder im Leben. Nur das garantiert mir meine Freiheit.
Apropos Job: Was ärgert Sie eigentlich daran, wenn Journalisten Ihnen den Beinamen „der gelernte Innenausstatter aus Herzogenaurach“ geben?
Das dient nicht der Information, das ist eine bewusste Verniedlichung.
Sind Sie eigentlich stolz auf Ihre Herkunft und den erlernten Beruf?
Natürlich!