In London wurde Jens Lehmann zur deutschen Nummer eins und lernte Demut. In unserem langen Interview spricht er unter anderem über Partys bei Ron Wood, seine Streitigkeiten mit Wenger und „Mad Jens“
Jens Lehmann, Sie wechselten zur Saison 2003/2004 von Borussia Dortmund zum FC Arsenal. Wie groß war die Umstellung?
Die Bundesliga und London unterscheiden sich in vielen Punkten. Den ersten kulturellen Unterschied erlebte ich jedoch im Trainingslager in Österreich.
Wieso denn das?
Nach der ersten Einheit kam ich in die Sauna. Nackt, so wie ich es aus Deutschland kannte. Dort saßen meine Mitspieler allesamt in Badehose. Irgendeiner sagte: „Jens, are you crazy? Wenn sich hier ein Fotograf der „Sun“ eingeschlichen hat, bist du morgen auf der Titelseite.“ Für die war es ausgeschlossen, nackt zu saunieren. Die Boulevardmedien in London sind unbarmherzig. In der „Sun“ steht in der Fußnote sinngemäß der Satz: „Wenn Sie in Verbindung zu einem Prominenten stehen, rufen Sie uns an. Es winkt eine Belohnung von bis zu 10 000 Pfund.“
Haben Sie diesen rustikalen Umgang mit öffentlichen Personen auch am eigenen Leib zu spüren bekommen?
Nein. Wenn ich einen Fehler machte, haben mich natürlich auch die britischen Medien zerrissen. Aber die Art von polemischer Kritik wie bei uns gibt es in England nicht.
Das heißt?
In Deutschland überstrahlt ein Fehler des Torwarts oft die gesamte Leistung. In England heißt es „Oh, what a dummy“, macht er zwei Minuten später aber eine Parade, ruft der Reporter auch wieder: „What a great save!“
Dennoch war Ihre sehr spielorientierte Auslegung der Torwartposition für das Londoner Publikum gewöhnungsbedürftig.
Dass sich ein Torwart ständig ins Spiel einschaltet, hatten sie noch nicht gesehen. Anfangs wurde ich regelrecht für verrückt erklärt. Im ersten Derby gegen Tottenham Hotspur nahm ich zehn Meter hinter der Mittellinie einen Ball an, Teddy Sheringham kam auf mich zu, foulte mich, und erst im letzten Augenblick gelang es mir, ihm den Ball abzulaufen. Die Leute auf der Tribüne sind ausgerastet. Bob Wilson, der Torwarttrainer meines Vorgängers David Seaman im Arsenal-Kasten, sagte: „Was spielt der Lehmann für einen Scheiß, das ist kein Torwart.“ Bald war ich für alle nur noch „Mad Jens“.
Klingt auch irgendwie hochachtungsvoll.
In dem Punkt sind Briten sehr ambivalent. Sie verfluchen Leute, die bereit sind, Risiken einzugehen, aber insgeheim lieben sie einen auch dafür.
Wie lange brauchten Sie, um die Herzen der Londoner zu erobern?
Im erwähnten Derby gegen Tottenham gab es ein weiteres Zusammentreffen mit Sheringham. Was ich nicht wusste: Er war bei Arsenal-Fans schon zu seinen Zeiten bei Man United verhasst. Als er zu Tottenham wechselte, wurde diese Abneigung noch stärker. Es kam eine Flanke in meinen Strafraum, ich grätschte und erwischte nicht nur den Ball, sondern auch ihn, was einem „Abräumen“ nahe kam. Wieder war auf der Tribüne der Teufel los, diesmal jedoch vor Begeisterung. Ich hatte instinktiv das Richtige gemacht.
Die Rivalität zwischen den Nordlondoner Klubs Arsenal und Tottenham ist wohl die extremste in der Stadt. Ist so ein Spiel noch intensiver als das Revierderby?
Die Stimmung ist vergleichbar. Die Distanz zwischen den Stadien ist nur noch kleiner als zwischen Gelsenkirchen und Dortmund.
Wie gestalten sich die Animositäten zu den anderen Stadtrivalen: zu West Ham United, dem FC Millwall, Crystal Palace, FC Chelsea oder zum FC Fulham?
Die Rivalität zu Chelsea hielt sich zu meiner Zeit noch sehr in Grenzen, weil sie historisch nie so ausgeprägt war. Kann sein, dass sich das durch Chelseas Erfolge in den letzten Jahren verändert hat. Den FC Fulham mag irgendwie jeder in London. Crystal Palace ist im Gegensatz zu Arsenal ein kleiner Klub irgendwo in Südlondon. Der einzige Verein neben Chelsea, der über ähnliche Möglichkeiten wie Arsenal verfügt und noch dazu sein Zuhause um die Ecke hat, ist Tottenham. Wobei man sagen muss, dass Antipathien aus deren Richtung schlimmer sind, weil sie noch nie groß was gewonnen haben. Wenn wir dort spielten, war die Stimmung derart aufgeheizt, dass uns die Fans sogar die Fensterscheiben am Bus einschlugen.
Wäre ein Wechsel von Arsenal innerhalb Londons möglich?
Sol Campbell ist von Tottenham zu Arsenal gegangen. Ihm ging es wie mir in Dortmund, wo ich immer der Schalker geblieben bin. Der Hass auf ihn dauert bis heute an.
Wie müssen wir uns das Leben in einem Londoner Team vorstellen?
Relaxter als bei uns. Wenn man eine Zeit lang in London lebt, wird man automatisch irgendwie entspannter.
Woran liegt das?
Weil das Leben in der Stadt stressig genug ist. Sobald man die Straße betritt, geht alles in einem Wahnsinnstempo. Irgendwie trägt der äußere Stress dazu bei, dass die Leute innerlich entschleunigen.
Wie schlägt sich das im Alltag nieder?
Bei Schalke und Dortmund trafen wir uns immer einen Tag vorm Heimspiel, in London erst rund fünf Stunden vor Anstoß. Vorm ersten Match hatte ich die Rechnung ohne den Straßenverkehr gemacht. Ich stand im Stau und mir wurde klar, dass ich mindestens zehn Minuten zu spät sein würde. Bei Matthias Sammer in Dortmund hätte das ein Donnerwetter bedeutet. Als ich jedoch panisch beim Teammanager anrief, war der ganz entspannt: „Kein Stress, wenn zur vollen Stunde Treffpunkt ist, gibt es immer eine Viertelstunde Karenzzeit, schließlich ist Londons Verkehr unberechenbar.“