Um 18:40 Uhr am Sonntagabend dürften sich einige Fans des SC Freiburg verwundert die Augen gerieben haben. Der BVB führt zu diesem Zeitpunkt hoch verdient mit 2:0. Urplötzlich erhebt sich das gesamte Westfalenstadion, Standing Ovation. Es ist kein Tor gefallen. Auch kein Elfmeterpfiff ist zu hören. Im Gegenteil: Einer der wenigen Freiburger Angriffe rollt auf das Tor von Roman Weidenfeller. Doch in diesem Moment sind die wenigsten der 80.720 Augenpaare auf das Spielfeld gerichtet.
An der Seitenlinie schickt Trainer Jürgen Klopp seine zweite Garde zum Warmmachen. Unter ihnen ein unscheinbarer Mann von durchschnittlicher Statur. Dunkle Haut, Fleischmütze: Leonardo de Deus Santos, genannt Dede. Nicht erst seit seiner bewegenden Abschiedspressekonferenz vor gut einem Monat wird der Brasilianer mit den Ruhrpott-Tugenden abgöttisch von den Fans verehrt. Dass das Warmmachen in eine halbe Ehrenrunde ausartet, darf dennoch als etwas Besonderes in der heutigen Fußballwelt gewertet werden.
Warmmachen wird zur Ehrenrunde
In einer Bundesligasaison, in der Fußballprofis gleich reihenweise ihren Abschied provozierten, Trainer innerhalb von nur drei Wochen auf beiden Trainerbänken im Stadion Platz nahmen, blicken die Fans nun auf einen, der auf sie wirken muss wie die Idee aus einer vergangenen Epoche. Bei der Einwechselung von Dede in der 82. Minute für den überragenden Jungspund Mario Götze, stimmt selbst Stadionsprecher Norbert Dickel in den Gesang der Südtribüne ein. „Dortmunder Jungs“, schallt es über die Stadionmikrofone, während Götze und Dede sich für zehn Sekunden fast liebevoll in den Arm nehmen.
„Ich war früher schon Borusse„
Trainer Jürgen Klopp bleibt gar nichts anders übrig, als den Brasilianer, der in 13 Jahren 320 Spielen für den BVB bestritt, einzuwechseln. Zwanzig Minuten lang fordert ihn das Publikum mit aller Vehemenz. Das Spiel: Nebensache. In der Folge wird jede Ballberührung frenetisch gefeiert. Nach dem Abpfiff das Bad in der Menge, ausgelassenes Feiern mit den Mitspieler – Schweineberg inklusive. Dann Dede allein mit den Fans, auf dem Zaun. Wäre er nicht irgendwann in den Katakomben verschwunden, das Westfalenstadion wäre wohl heute noch zu zwei Dritteln gefüllt.
Seit Wochen mit Klos im Hals
Im Interview nach dem Spiel mit dem hauseigenen Sender BVB-TV spricht Dede mit dem Klos im Hals, der seit Wochen nicht weichen will. Von einem Ereignis, bei dem alles gepasst hat, erzählt er: ein klarer Sieg, die Meisterschaft in greifbarer Nähe, die Fans, sein (Fast-)Geburtstag.
Dass der Brasilianer nicht nur von den Fans mit Liebe überschüttet wird, sondern auch innerhalb der Mannschaft die Rolle des „großen Bruders“ innehat, hört und sieht man dieser Tage zuhauf. Mario Götze schickte nach der Bekanntgabe des Abschieds einen T‑Shirt-Gruß in Richtung des Brasilianers. Marcel Schmelzer scheint es fast unangenehm zu sein, dass er seinem Idol den Stammplatz weggenommen hat. Mit Kevin Großkreutz, diesem real gewordenen Traum eines jeden Südtribühnen-Stehers, verbrachte Dede seinen Sommerurlaub in der brasilianischen Heimat.
Kein Platzhirsch-Gehabe
In der Übergangsphase zwischen fußballerischer Alphatieren und den neuen flachen Hierarchien, ist Dede eine wohltuende Ausnahme: kein Platzhirsch-Gehabe des alten Hasen. Die gesamte Mannschaft und der Trainerstab spricht in den höchsten Tönen von ihm. Allen voran Marcel Schmelzer, dem Dede nicht etwa das Leben im Training schwer machte, sondern ihn noch pushte, ihm die Angst vor den ersten großen Bewährungsproben nahm. „Respektsperson“ und „Vorbildcharakter“ sind die Attribute, mit denen jeder im BVB-Umfeld den Brasilianer adelt.
Doch das Kapitel BVB neigt sich für Dede nach 13 Jahren dem Ende zu. Er möchte noch Fußball spielen, auch wenn er seine Karriere gerne in schwarz-gelb beendet hätte. Es ist noch nichts spruchreif, aber die Wahrscheinlichkeit, Dede weiter in der Bundesliga kicken zu sehen, ist groß. Die Fans im Dortmunder Westfalenstadion werden sich wohl kollektiv die Augen reiben, wenn „ihr“ Dede künftig als Gast den Rasen betritt. Doch der Mann aus Brasilien, der in Dortmund so viel erlebt hat, dass es für zwei Fußballer-Leben reicht, muss keine Angst haben.
Die Fans werden ihn feiern. Er hat sich den Respekt verdient. Und Respekt weiß Dede zu schätzen. In blau-weiß wird man ihn nie sehen. „Zu Schalke? Ich bin 13 Jahre lang bei Dortmund. Das ist auch eine Frage des Respekts. Einmal schwarz-gelb, immer schwarz-gelb.“ Auch weil man Dede Gegensatz zu einigen seiner wappenküssenden Fußballkollegen diese Worte abnimmt, feierten die Fans am Montag weiter. 1500 Anhänger trafen sich an Dedes 33. Geburtstag zu einem Marsch durch die Dortmunder Innenstadt. „Flashmob“ nennt man das heute. Ein Wort, das es noch nicht gab, als Dede im Sommer 1998 sein erstes Spiel im Trikot von Borussia Dortmund bestritt.