Zur vollkommen verhunzten Debatte um den Özil-Rücktritt
Alle verlieren
Mesut Özil tritt mit einem Paukenschlag zurück – und schon Minuten später gruppieren sich in Deutschland zwei Lager. Eine reichlich dämliche Reaktion. Die zur Affäre und der Debattenkultur im Jahr 2018 leider bestens passt.
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Gestern ließ Mesut Özil es knallen. Die Menschen in Deutschland hatten darauf gewartet, Özils Kritiker genauso wie seine Fans, Du genauso wie ich, und Özil lieferte in einer Form, die wir so nicht unbedingt von ihm – einem in der Öffentlichkeit sonst sehr zurückhaltenden und wortkargen Fußballprofi – erwartet hatten: ausführlich, gedanklich gut sortiert und extrem angriffslustig.
In drei über den Tag verteilt veröffentlichten Texten äußerte er sich zunächst und erstmals zu seinem Treffen mit dem türkischen Präsidenten Erdogan, kritisierte dann, ohne Namen zu nennen, deutsche Medien und DFB-Sponsoren, um abschließend seinen Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft zu erklären. Unter anderem mit der Begründung, DFB-Präsident Reinhard Grindel habe sich rassistisch und dilettantisch verhalten.
In den Kommentarspalten: Chaos
Drei Texte, über die wir trefflich diskutieren könnten. Texte, in denen Özil Dinge zur Sprache bringt, die nicht nur uns – Medien, Experten, Fans – in unserer Fußballblase etwas angehen. Sondern die dieses aufgeheizte Land in Gänze angehen. Was ist eigentlich deutsch? Leben Menschen mit deutschem Pass und türkischen Wurzeln hier noch immer auf Bewährung? Was bedeutet Identifikation? Und lässt sich ein politisches Amt von der das Amt ausfüllenden Person tatsächlich so bedenkenlos trennen, wie Özil es im Fall von Erdogan behauptet? Auf all diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Doch trotzdem wurden – jeweils knapp neun Sekunden nach Veröffentlichung der Texte - gleich tausende einfache Antworten gegeben.
Will man ein Gefühl dafür bekommen, was in der Debatte um den Ex-Nationalspieler und in so vielen anderen Debatten dieser Zeit so eklatant schief läuft, muss man sich nur die Antworten auf Özils erstes Statement genauer anschauen. Unter der Überschrift »I/III Meeting President Erdogan« veröffentlichte Özil gestern gegen 13:00 Uhr einen Text in englischer Sprache, in dem er erstmals selber Stellung bezog zu seinem Treffen und dem entstandenen Foto mit Recep Tayyip Erdogan.
Özil schreibt darin unter anderem: »Ich sehe ein, dass das schwer zu verstehen ist, da die politischen Führer in den meisten Kulturen nicht von der Person getrennt gedacht werden können. Aber in diesem Fall ist das anders. Was auch immer das Ergebnis in dieser letzten Wahl gewesen wäre, oder in der Wahl davor, ich hätte das Foto immer noch gemacht.« Um 13:12 Uhr veröffentlicht der Nachrichtendienst »SID« folgende »Topmeldung«: »Özil: Würde das Erdogan-Foto ›wieder machen‹.« Weitere zehn Minuten später macht genau dieser Satz, den Özil gar nicht aufgeschrieben hat, im Internet die Runde. In den Kommentarspalten darunter: Chaos.
Es gibt kein Dazwischen
Aufflammende Wut von Menschen, die sich entweder gar nicht erst die Mühe machten, den Originaltext überhaupt zu lesen oder schlicht nicht dazu in der Lage waren. Erwartbare Hetze von Trollen, die den Übersetzungsfehler gar nicht benötigt hätten, um ihre Ansichten loszuwerden. Was auf der anderen Seite dazu führte, dass sich als Reaktion darauf sofort das #TeamÖzil formierte. Ein Dazwischen? Kaum zu erkennen.
Dabei muss man den Übersetzungsfehler einer großen deutschen Nachrichtenagentur natürlich kritisieren. Und sich vor allem fragen, warum andere Redaktionen diesen einfach so übernahmen. Und muss das erste Statement, dass Özil gestern gegen 13:00 Uhr ins Internet feuerte, trotzdem kritisieren. Darf es einem 29-jährigen Mann, der in Gelsenkirchen geboren und zur Schule gegangen ist, wirklich egal sein, ob er sich mit Frank-Walter Steinmeier trifft oder mit einem Präsidenten wie Erdogan, der Journalisten, Lehrer, Richter und Studenten zu Abertausenden und ohne Verfahren einsperren lässt? Kann ein 29-jähriger Mann, der Verträge über zig Millionen Euro unterzeichnet, wirklich so naiv sein? Darf sich ein Fußballer von allem Politischen freisprechen, weil er mit einem Präsidenten im Wahlkampf nur über Fußball spricht? Nein. Absolut nicht. - Entweder man war für ihn oder gegen ihn
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Und trotzdem stürzten sich die allermeisten auf dieses eine, falsche Zitat. Was die Diskussion vergiftete, bevor sie überhaupt inhaltlich werden konnte. Was wiederum Özil und seine Fans, von denen nicht wenige einen ähnlichen familiären Background haben wie der Fußballstar selber, nur tiefer in die Wagenburg hineintreiben dürfte. Eine fatale Entwicklung.
Zumal es für Özil und diejenigen, die es bedingungslos mit ihm halten, durchaus Gründe gibt, sich in der Wagenburg zu verkriechen. Was Özil in seinem zweiten und dritten Statement eindrücklich und treffend beschreibt. Denn natürlich kippte die Stimmung ihm Gegenüber und natürlich ist es – anders als die »BILD« das behauptet – unfassbar rassistisch, wenn ein SPD(!)-Politiker wie Bernd Holzhauer Mesut Özil und Ilkay Gündogan als »zwei Ziegenficker« bezeichnet.
Und natürlich hat der DFB und dessen Präsident es verpasst, sich deutlich gegen die rassistische Stimmung zu positionieren. Im Gegenteil: Wer kurz nach dem WM-Aus gleich zwei autorisierte, also gegengelesene, Interviews gibt – so wie Oliver Bierhoff und Grindel es taten – in denen Mesut Özil als der Hauptschuldige für das blamable sportlicher Abschneiden dargestellt wird, der schüttet Wasser auf die Mühlen derjenigen, die Özil längst aus fremdenfeindlichen Motiven heraus wie eine Sau durchs Dorf trieben. Die ihren Hass unzulässigerweise mit Sportlichem vermengten und die nur darauf warteten, einem wie Özil endlich mal ans Bein pinkeln zu können.
Entweder man war für ihn oder gegen ihn
Obwohl Özil, rein sportlich gesehen, seit bald zehn Jahren konstant einer der fünf besten deutschen Fußballer ist. Er spielt effektiv, bereitet Tore vor, kreiert Chancen und trifft regelmäßig selber. Er macht seine Mitspieler besser, mit Arsenal gewann er dreimal den FA-Cup, mit Deutschland wurde er Weltmeister. Und trotzdem polarisiert er selbst als Fußballer schon seit Jahren.
Die einen lieben ihn für seine genialen Pässe und die Leichtigkeit, die er auch im engsten Getümmel des gegnerischen Strafraums ausstrahlt, die anderen werfen ihm vor, er würde in wichtigen Spielen stets abtauchen und zu schnell die Schultern hängen lassen. Jemand, dem Özil komplett egal ist? Gab es auch vor dem Erdogan-Foto, eigentlich sogar in seiner gesamten Karriere, kaum. Jeder hatte stets eine Meinung zu ihm, vom »Alibifußballer« bis zum »Genie« war alles dabei, »Komiker« wie Oliver Pocher machten sich über sein Äußeres lustig, englische Fans huldigten ihn mit eigenen Songs. Entweder man war für ihn. Oder gegen ihn.
Jetzt wiederholt sich diese Sichtweise. Dafür oder dagegen, seine Seite oder die andere, gut oder schlecht. Doch dummerweise gibt es bei diesem Thema keine gute Seite. Sondern auf allen Seiten nur eines: Verlierer. Özil, weil er ohne einen Funken Selbstkritik auf sein eigenes Verhalten schaut. Grindel und Bierhoff, weil sie auf einen am Boden liegenden Spieler eintraten, um die eigene Haut zu retten. Der deutsche Fußball, weil ihm der vielleicht talentierteste Spieler einer gesamten Generation nicht mehr helfen will und wird. Und all die Krakeeler, die auf komplett vermintem Gebiet lieber blindlings nach vorne preschen, statt die Sprengfallen mit Bedacht zu umgehen. Was extrem ärgerlich ist. Schließlich könnte Bedacht der bisher so verhunzten Diskussion tatsächlich helfen.