Fußball ist Ansichtssache. Es sind die legendären Szenen, die im kollektiven Gedächtnis hängen bleiben. Klitzekleine Ausschnitte oft langjähriger Karrieren, die Fußballspieler auf jenen Moment reduzieren, der sie einst berühmt gemacht hat. Und nicht immer war das in der Geschichte dieses Sports ein Tor, ein Solo, eine Rettungstat. Friedel Rausch war ein toller Fußballer, aber er wird immer der Mann sein, dem ein Schäferhund ein Stück Fleisch aus dem Hintern biss. Stefan Effenberg wird der „Stinkefinger“ wahrscheinlich noch auf den Grabstein gemeißelt. Und Norbert Siegmann mag der freundlichste Kerl der Nachbarschaft sein – den reißerischen Spitznamen „Schlitzer“ wird er nach seinem Foul gegen Ewald Lienen nie wieder loswerden. Jürgen Pahl ist Bruder im Geiste der Effenbergs und Siegmanns dieser Welt. Früher, als er noch Torwart war, hat sich Pahl mal einen Ball ins eigene Tor geworfen. Er sagt: „Ohne diese Glanztat würde mich heute doch kein Schwein mehr kennen.“
Am 4. Dezember 1982 spielt Eintracht Frankfurt bei Werder Bremen. Nur 16.000 Zuschauer sind im Weserstadion, das aufgewärmte Wohnzimmer ist den Bremern dann doch lieber als ein Spiel gegen den Tabellensechzehnten der Bundesliga. Bei den Frankfurter steht Jürgen Pahl im Tor. Der 25-jährige Schlussmann hat bereits eine bewegte Vergangenheit. Gemeinsam mit Norbert Nachtweih war Pahl im November 1976 am Rande eines U‑21-Länderspiels der DDR in der Türkei nach West-Deutschland geflüchtet. Nach einer 16-monatigen Sperre fand das Duo bei Eintracht Frankfurt eine neue sportliche Heimat – eine Liaison mit Startschwierigkeiten. Die jungen „Republikflüchtlinge“ genossen in Frankfurt das westdeutsche Leben. Nachtweih hatte sich schnell ein fragwürdiges Image erarbeitet, Trainer Gyula Lorant moserte: „Der Nachtweih ist ein Nachtfalter. Der kennt sich am Bahnhof, wo die zweibeinigen Pferdchen laufen, besser aus, als auf dem Fußballplatz.“ Auch Pahl bestätigte Jahre später: „Ich habe in Saus und Braus gelebt.“ Sein Fett bekam der Keeper von Trainer Lorant allerdings aus ganz anderen Gründen weg: Als Pahl die Frankfurter Vereinsführung bat, doch nebenher Russisch studieren zu dürfen, bellte der strenge Übungsleiter: „Du fangen Bälle, nicht Vokabeln!“, und riet seinem Präsidium: „Den verkaufen wir.“ Doch Pahl blieb. Auch weil er statt Vokabeln (wie fängt man die eigentlich?) eben Bälle fing. Und das durchaus passabel. Bis zu jenem verhängnisvollen 16. Bundesliga-Spieltag am 4. Dezember 1982.
Wie der Schritt in eine Pfütze
Drei Minuten sind gespielt, da hat Jürgen Pahl seinen ersten Ballkontakt. Er nimmt den Ball mit den Händen auf, schaut sich nach einer Anspielstation um und findet Ralf Falkenmeyer. „Aber der guckte plötzlich weg“, erinnert sich der Torhüter. Einen Augenblick lang weiß der Arm nicht mehr, was das Hirn will, Pahls Finger lassen den Ball zu spät los, und das Spielgerät fliegt dem Mann, der dieses Tor eigentlich hüten soll, ins eigene Tor. Unglaublich! So unglaublich, dass die TV-Kameras längst den Schwank aufs Spielfeld getätigt haben – bis heute existieren von Pahls Eigentor keine bewegten Bilder. Er selbst findet nach dem Spiel immerhin die passenden Worte: „Das ist so, als wenn man nicht in eine Pfütze treten will, den Schritt aber schon gemacht hat und mitten reinplatscht.“ Treffer, versenkt.
Doch der Horror ist für Pahl noch nicht vorbei. Kurz vor der Pause tritt er den Bremer Norbert Maier um und muss froh sein, nicht noch vom Platz fliegen. Dafür sorgt dann Trainer Branko Zebec, der seinen Torwart für Ersatzmann Joachim Jüriens austauscht. Auch der kann die 0:3‑Niederlage für Frankfurt nicht verhindern. Pahls Jahrhundert-Selbsttor hat die achte Auswärtsniederlage im achten Auswärtsspiel eingeleitet.
Der Torhüter, der sich ein Ei ins eigene Nest gelegt hat
Klar, das am Montag danach ganz Deutschland über den Torwart lacht, der sich das Ei selbst ins Nest gelegt hat. Jürgen Pahl hat vorgesorgt: Man wird sich ewig an ihn erinnern.
Aber das Kurzzeitgedächtnis des Fußballs ist gnädig. Pahl spielt noch bis 1987 bei der Frankfurter Eintracht, nach 152 Bundesligaspielen verabschiedet er sich für zwei Jahre zum türkischen Klub Rizespor. Der Saus-und-Braus-Jüngling ist erwachsen geworden. Nach seiner Rückkehr aus der Türkei gehört Pahl 1989 zu den Gründungsmitgliedern der Spielergewerkschaft VdV (Vereinigung deutscher Vertragsspieler). Er sagt: „Meine Motivation war die Bauherren-Affäre Anfang der Achtziger, bei der Frankfurter Spieler um eine Menge Geld geprellt wurden.“ Auch Pahl gehört zu den Geschädigten. DDR-Flüchtling, Lebemann, Eigentorschütze, Türkei-Exilant, Gewerkschaftsführer. Welch ein Lebenslauf.
„Ich bin in Paraguay ein anderer Mensch geworden“
Dann ist Jürgen Pahl plötzlich weg. Die „Frankfurter Rundschau“ findet ihn 1999 wieder: Als Obstbauern in Paraguay; „auf halber Strecke zwischen der Hauptstadt Asuncion und der brasilianischen Grenze ist der Auswanderer in der deutschen Siedlung Independencia ansässig geworden.“ Längst spricht Pahl nicht mehr wie ein Fußballer, er sagt Sätze wie „Ich hatte in Deutschland keine Luft mehr zum Atmen, ich musste raus.“, oder: „Ich bin in Paraguay ein anderer Mensch geworden. Hier erkenne ich immer wieder, wie klein wir Menschen sind.“ Das hätte auch Rio Reiser singen können.
Kein Wunder, dass im Sommer 2006 die linke Tageszeitung „taz“ Kontakt zu Pahl aufnimmt, um ihn für das eigene WM-Journal „Es ist Liebe“ zu fragen, ob er denn nun für Paraguay oder Deutschland sei. Und ob er denn in Südamerika den Sinn des Leben gefunden habe. Pahl antwortet. Per „fünf Meter langem Fax“, handschriftlich gefüllt. Auszüge:
„Der Sinn des Lebens liegt nicht in Paraguay. Genausowenig wie er in Deutschland liegt. Er liegt in jedem selbst. Innere Entwicklung zur höheren Reife unseres Geistes und unserer Seele sind der einzige Sinn. Alles Materielle sollte uns nur die Basis sein, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn ich einst aus dieser Welt gehe, lächle und sage, jetzt freue ich mich auf das Neue, dann habe ich mein Ziel erreicht.“
„Der Idealist zählt in unserer Gesellschaft nichts mehr, wie der Mensch als Mensch nichts mehr gilt.“
„Warum, frage ich, sollte ich heute noch Liebe zum Fußball haben? Warum sollte ich mit diesem Brief einen kostenlosen Beitrag leisten zu einem Ereignis, bei dem sich auch nur wieder einige wenige die Taschen voll machen?“
Den Kollegen der „taz“ müssen vor Freude die Hosen geplatzt sein.
Jürgen Pahl, der Torwart, der sich einst selbst den Ball ins Tor schmiss, der Mann, der erst aus der DDR, dann aus der BRD floh, der Fußballer, der sein Glück erst bei zweibeinigen Pferdchen, dann auf einer Plantage in Südamerika fand, wird heute 55 Jahre alt. Wir gratulieren.