Arthur Friedenreich war der erste schwarze König des Fußballs. Doch 40 Jahre vor Pelé war für einen wie ihn die Zeit noch nicht reif. So trat er leise ab, ohne sich bei einem Turnier mit den Weltbesten messen zu können. Heute wäre er 130 Jahre alt geworden.
Über den König des Fußballs gibt es etliche Erzählungen. Eine trug sich am 11. Juli 1971 zu, als Edson Arantes do Nascimento das Spielfeld verließ und 175.000 Menschen sich von ihren Sitzen erhoben. Manche standen andächtig auf den Tribünen, Tränen liefen über ihre Wangen, andere schrien: „Fica!“ („Bleib!“) Es war ein verzweifeltes Echo, das auf den Rängen des Estádio do Maracanã verhallte. Denn Arantes do Nascimento, den alle nur Pelé nennen, hatte sich längst entschieden: Das Länderspiel gegen Österreich wird sein letztes gewesen sein. Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge, und die Fans setzten ihm eine Krone aus Gold auf, die linke Hand hielt ein Zepter. Er verließ die Bühne als Rei do Futbol. Als erster König des Fußballs.
Pelé sagt: „Artur war ein ganz großer Spieler!“
In Wahrheit hatte es zu dem Zeitpunkt längst einen König gegeben. Er hieß Arthur Friedenreich, und Pelé hatte sich immer wieder auf ihn berufen. Dabei war er, als Brasilien mit Friedenreich zum ersten Mal die Südamerikameisterschaft gewann, nicht mal geboren. Pelé kannte die Geschichten jenes Turniers nur aus den Erzählungen der Alten. Doch er wusste um all die Mythen, die sich um den wahren König rankten. „Arthur war ein ganz großer Spieler in Brasilien“, sagte Pelé später mal. „Mein Vater hat oft von seinen Toren geschwärmt.“
554 Treffer habe Friedenreich erzielt, schreibt sein Biograf Alexandre da Costa. Die Legende (und mit ihr die FIFA-Statistik) indes behauptet, Friedenreich sei der erfolgreichste Torjäger aller Zeiten gewesen. Da ist von 1239 Spielen und 1329 Toren die Rede, von einem Rekord, der alle anderen Stürmer, auch Pelé und Gerd Müller, auf die Plätze verweisen würde. Einigen kann man sich immerhin auf Friedenreichs wichtigstes Tor.
Sekunden danach scheint nichts mehr wie zuvor
Er erzielt es im Jahr 1919, im Finale jener Copa América, im längsten Spiel ihrer Geschichte. Weil es zwischen Brasilien und Uruguay nach 90 Minuten 0:0 steht, wird eine Verlängerung von viermal 15 Minuten anberaumt. Lange sieht es so aus, als müsse ein Münzwurf über Sieg oder Niederlage entscheiden. Doch dann in der 150. Minute, der letzten des Spiels, erwacht ein ganzes Land aus seiner Apathie. Friedenreich trifft zum 1:0, Sekunden danach ist das Spiel aus. Und Sekunden danach scheint nichts mehr wie zuvor. Die nationalen Zeitungen berichten erstmals ausführlich von einem Fußballspiel, später wird jene 150. Minute gar zur Geburtsstunde des brasilianischen Fußballs stilisiert und Arthur Friedenreich zum Inbegriff des Homo ludens, des spielenden Menschen, der im wahrsten Sinne des Wortes sein eigenes Elend überspielt.
Dabei erzählt das Leben von Arthur Friedenreich gar nicht die Geschichte des gebeutelten Jungen aus den Favelas. Zwar kommt er am 18. Juli 1892 in Luz, einem Viertel von São Paulo, zur Welt, doch seine Geschichte beginnt in Europa, in Hamburg. Von dort emigriert sein Vater, der Ingenieur Oscar Friedenreich, nach Brasilien. 1897 folgt ihm Hans Nobiling, ein ehemaliger Spieler des SC Germania Hamburg, und gründet zwei Jahre später den Sport Club Germânia São Paulo.
Friedenreich lebt zwischen den Welten
Arthur Friedenreich lebt bis dahin zwischen den Welten. Als Sohn eines deutschen Vaters genießt er in einigen Kreisen Privilegien, andererseits stößt er aufgrund seiner Hautfarbe – seine Mutter ist eine afro-brasilianische Wäscherin – vielerorts auf Ressentiments. Im Brasilien des frühen 20. Jahrhunderts ist Fußball der weißen Oberschicht vorbehalten. So bleibt Friedenreich die Mitgliedschaft in einem Klub bis 1909 verwehrt. Erst nach einer Änderung der Vereinssatzung des SC Germânia darf er mitspielen. Doch feit ihn auch der neue Paragraf nicht vor dem Rassismus in den brasilianischen Stadien. Der Stürmer muss sich vor den Spielen die krausen Locken mit Pomade glätten. Mitunter wird Friedenreich sogar dazu genötigt, seine Haut mit Reismehl zu weißen. Die Freude am Fußball lässt er sich aber nicht nehmen. Er entwickelt eine ausgefeilte Schusstechnik, überrascht die Torhüter mit einem bis dahin unbekannten Effetschuss und die Abwehrspieler mit eleganten Körpertäuschungen. Die aber sind auch bitter nötig, da Fouls an dunkelhäutigen Spielern selten geahndet werden.
Mit seiner Leichtfüßigkeit führt Friedenreich das behäbige Spiel der Europäer ad absurdum. „In den feierlichen Ernst der weißen Stadien“, schreibt der uruguayische Dichter Eduardo Gallano, „brachte Friedenreich die frech-vergnügte Unbotmäßigkeit der kaffeebraunen Jungen.“ Friedenreich begreift den Fußball als das, was er ursprünglich ist: ein Spiel. Die französische Nationalmannschaft erfährt dies Mitte der 20er Jahre, als die Brasilianer sie auf einer Europatournee vorführen und mit 7:2 deklassieren. In seiner Heimat trägt Friedenreich zu dieser Zeit bereits den Künstlernamen Pé de Ouro – Goldfuß. Nun kürt man ihn in Paris zum Roi du Football. Doch ist er das wirklich, ein König des Fußballs? Der Einsatz bei einer Weltmeisterschaft bleibt ihm verwehrt. Nach Streitereien im brasilianischen Verband werden alle Spieler aus São Paulo von der Teilnahme an der ersten WM 1930 in Uruguay ausgeschlossen. 1934 ist Friedenreich bereits 42 Jahre alt und lässt seine Karriere bei Flamengo ausklingen. Er beginnt in einer Brauerei zu arbeiten. Am 6. September 1969 stirbt er, schwer gebeutelt von der Parkinson-Krankheit, einsam und verarmt in São Paulo.
Ein ganz leiser Abschied
In Europa ist Friedenreich längst in Vergessenheit geraten. In seiner Heimatstadt erinnert heute zumindest ein Denkmal an ihn, jenen Meisters des Balles, den sie zwar „König“ nannten, der aber nicht als solcher Abschied nahm. Arthur Friedenreich verließ die Fußballbühne ganz leise. Zu einer Zeit, in der das große Spiel noch gar nicht richtig begonnen hatte.
Dieser Text erschien erstmals im Februar 2014 als Teil unserer Serie „WM-Geschichte“.