In Großbritannien herrscht dieser Tage Katerstimmung. Der Brexit hat das Land im Griff. Nur bei Lincoln City will dank zweier Brüder davon niemand etwas wissen.
In Großbritannien gibt es seit drei Jahren im öffentlichen Leben ein neuerfundenes Wort, das jetzt kein Mensch mehr hören will. Das Wort ist unzählige Male pro Tag in jeder Zeitung zu lesen, und die pompösen Politiker im Parlament reden von nichts anderem mehr. Besucht man aber Verwandte, oder geht man in sein Stammlokal, ist das Wort schon längst so gut wie verboten. Man darf jetzt nur noch „das B‑Wort“ dazu sagen. Und sollte ein Außenseiter höflich oder heimtückisch fragen, wie das denn jetzt so alles liefe mit dem Brexit, kann er damit rechnen, von allen Seiten zurechtgestutzt zu werden: Darüber reden wir hier nicht mehr! Als Strafe muss er dann die Runde schmeißen und das Thema wechseln. Am besten spricht man darüber, was hier alle Leute noch interessiert: Fußball.
Bollocks to Brexit
In Lincolnshire, im Osten Englands („The East Midlands“), ist dies eine besonders sachdienliche Wahrheit. Hier stimmten 67% der Bevölkerung dafür, die Europäische Union zu verlassen – landesweit ist das die größte Mehrheit in einer einzelnen Grafschaft. In der Stadt Lincoln (Bevölkerung: 95.000) waren es 57% – deutlich weniger als in den umliegenden Gemeinden, aber trotzdem eine überdurchschnittliche Mehrheit im Vergleich zu den 52% landesweit. Das heißt aber nicht, dass man hier jede Menge begeisterte Brexiteers trifft.„Die Leute haben den ganzen Blödsinn satt“, sagt Roger Bates, der Vize-Vorsitzende von Lincoln City. Es hängen kaum Union Jacks an den Häusern, und ab und zu sieht man auf Verkehrsschildern einen einsamen Aufkleber: „Bollocks to Brexit“. Viel beliebter ist es, seine Treue zu den Farben von Lincoln City FC zu bekennnen – „The Red Imps“, nach einem kleinen Teufel benannt, der fast versteckt in eine Innenwand des Doms von Lincoln gemeisselt ist.
Hier in Lincoln sagte man Juni 2016 zwar „Nein“ zu Europa, aber man sagte „Ja!“ zu den Brüdern Danny und Nicky Cowley. Zwei junge Sportlehrer, die nie in ihrem Leben professionell Fußball gespielt hatten und die nur in Teilzeit Mannschaften in der fünften und siebten Liga trainiert hatten – das allerdings mit deutlichem Erfolg – wurden beauftragt, ein bisschen Leben in den maroden Verein der eher fußballträgen Stadt zu bringen. Was folgte, glich nicht nur einem Sportwunder, sondern diente als die schönste Ablenkung von der großen politischen Scheiße, die sich gerade auf der nationalen Bühne abspielt.
Lieber nach Nottingham
Der eher unauffällige Stammverein der Football League Lincoln City spielte ein Jahrhundert lang meistens in der dritten und vierten Liga, hockt aber seit dem Abstieg im Jahr 2011 im unteren Teil der fünften. Es fehlte an Geld, an Fans, an Erfolg und vor allem: an Begeisterung. Das Stadion Sincil Bank war an Spieltagen allzu oft ein sehr ruhiger Ort. Selbst in den erfolgreichen Zeiten der frühen 80er Jahre, als der Verein den Aufstieg in die zweite Liga zweimal knapp verpasste, gingen viele Leute lieber in das 50 Kilometer entfernte Nottingham, wo ein Europapokalsieger unter Brian Clough einen ziemlich schönen Fußball spielte.