Seinen Kindheitsidolen zu begegnen, ist oftmals keine gute Idee. Als unser Autor Ronaldo traf, war das anders.
Als ich zehn Jahre alt war, passte die ganze Welt in die Fingerkuppe meines rechten Zeigefingers. Ein Ball, ein paar Freunde, zwei Tore, ein Pass, ein Schuss, dann der Finger, der mich, im Jubel abdrehend, für ein paar kurze Schwenker des Handgelenks in den größten Stürmer der Welt verwandelte: Ronaldo.
1994 kam Ronaldo Luís Nazário de Lima über die Fußballwelt wie ein Gewitter. Ich sah ihn das erste mal – und ich kann mir beim besten Willen nicht mehr erklären, warum ich dieses Spiel überhaupt sah – in der Uefa-Cup-Partie zwischen Bayer Leverkusen und PSV Eindhoven. Ronaldo war damals gerade 18 geworden, sieben Jahre älter als ich, und es war, als würde mit ihm höchstpersönlich eine neue Fußballära eingeleitet werden. Auf der einen Seite Spieler wie Markus Happe oder Jens Melzig, die sich ab einem gewissen Zeitpunkt im Spiel eher kriechend fortzubewegen schienen. Auf der anderen Seite diese personifizierte Dynamik, dieser schmächtige und trotzdem kraftvolle Typ auf silbernen Schuhen, gerade dem Schulhof entwachsen, der seine Sprints zündete wie andere Menschen Silvesterraketen.
„Einen so ausgefuchsten Fußballer mit knapp 18 Jahren habe ich noch nie gesehen“, sagte der damalige RTL-Kommentator. Ich saß wie gebannt vor dieser Übertragung und konnte die schiere Klasse dieses Spielers, von dem ich noch nie gehört hatte, einfach nicht fassen. Fortan war ich, selbst Stürmer in der Jugend meines Dorfvereins, ein Jünger Ronaldos. Auf dem Bolzplatz, auf dem Schulhof, auf der Straße, im Garten, im Training – ich wollte immer nur noch Ronaldo sein, diese Weltsensation bei PSV, dann Barca, dann Inter. Der nächste Pele, hieß es, und vielleicht sogar mehr als das. Und wenn er eines seiner unglaublichen Soli mit dem trockenen Schuss ins lange Eck, oder noch häufiger: mit dem Umkurven des Torwarts krönte, drehte er anschließend ab und schwenkte seinen Zeigefinger gen Welt, als wollte er sie sachte tadeln: Seht her, so wird das gemacht.
Seine Idole zu treffen, ist oftmals keine gute Idee. Der Abgleich von Mythos und Realität verläuft meist enttäuschend, die verdammten Idole sind ja auch nur Menschen. Das gilt vor allem, will man unken, für Fußballer. Als ich die Zusage für ein Interview mit Ronaldo bekam, machte ich trotzdem, was ich seit ich klein bin immer mache, wenn ich mich freue: ich wackelte mit dem Zeigefinger. Der Termin wurde von Ronaldos Ausrüster Nike ausgerichtet. Fünfzehn Minuten Gespräch mit Ronaldo, hieß es, anschließend, möglicherweise, eine kleine Trainingseinheit mit ihm auf dem Trainingsgelände von Inter. Ich mit Ronaldo auf dem Fußballplatz? Irgendwo tief in mir drin eskalierte mein zehnjähriges Ich, und ich bedauerte, nur zwei Zeigefinger zum Schwenken zu haben.