Bastian Pauly ist Anhänger von Chemie Leipzig und Journalist. Das Gesetz schützt die Presse vor Überwachungsmaßnahmen. Außer wenn in Sachsen gegen linke Fußballfans ermittelt wird. Ein Erfahrungsbericht.
Das Herz klopft, die Finger werden feucht, und im Kopf spielt sich wieder der Film ab. Darin schließen sich die Türen der U‑Bahn und ein paar breitschultrige Typen reißen mich mit einem ruppigen „Guten Tag, die Fahrausweise, bitte!“ aus den Tagträumen. Mein Puls geht hoch, hektisch greife ich zum Portemonnaie und suche mit zittrigen Händen das Ticket. Die Sekunden werden lang, ich fühle mich verdächtig. Dabei müsste ich mir keiner Schuld bewusst sein, schließlich bin ich deshalb noch nie beim Schwarzfahren erwischt worden, weil ich nie ohne Fahrkarte unterwegs bin. Dann habe ich sie gefunden, Entwarnung! Ich entspanne mich, aber das Gefühl kommt immer wieder.
Auch an diesem Tag im Hochsommer 2018 ist es so, als ich in meinen Briefkasten schaue. Erwartet habe ich Werbung oder Rechnungen aber keinen Brief von der Generalstaatsanwaltschaft Dresden. Bin ich zu schnell gefahren? Soll ich als Zeuge vernommen werden? Was ist los? Aufgeregt überfliege ich das Schreiben. „Ermittlungsverfahren“, steht fett im Betreff, „wegen des Tatvorwurfs der Bildung einer kriminellen Vereinigung“. Ich bin erschrocken und erleichtert zugleich. Immerhin ist das Verfahren eingestellt worden und hat sich nicht gegen mich gerichtet, lese ich. Aber wie sich meine Wege mit der Mafia, kriminellen Rockern oder einem Drogenring gekreuzt haben sollen, will mir nicht einleuchten.
Mobilfunkanschluss überwacht
Zumindest kommt mir das beim Begriff „kriminelle Vereinigung“ nach § 129 des Strafgesetzbuchs in den Sinn. Ich atme tief durch und lese, dass mein Mobilfunkanschluss überwacht worden ist. Offenbar gab es Kontakt zu einem Beschuldigten, aber so richtig schlau werde ich aus dem Bürokratendeutsch nicht. Dass ich als Journalist arbeite, haben die Ermittler zumindest festgestellt. Als sogenannter Berufsgeheimnisträger genieße ich eigentlich besonderen Schutz, wie auch Ärzte und Rechtsanwälte, die ebenfalls nicht abgehört werden – es sei denn, es geht um schwerste Straftaten wie Mord.
In den folgenden Wochen wird langsam klarer, wo ich hineingeraten bin. Fünf Jahre lang und über zwei Verfahren zogen sich die Ermittlungen. Allein im ersten Verfahren wurden 56 118 Telefonate und Nachrichten aufgezeichnet, 838 Anschlussinhaber identifiziert und viele zehntausend Seiten Protokolle angefertigt, die 80 Leitzordner füllen. Doch eine kriminelle Vereinigung konnte nicht mal die High-End-Kameraanlage entdecken, die eigens in einem leerstehenden Haus installiert worden war. Warum aber drangen die sächsischen Ermittler in die Privatsphäre hunderter Menschen ein, belauschten selbst die intimsten Gespräche zwischen Lebenspartnern, um nach jahrelangen Ermittlungen festzustellen, dass der Vorwurf einer kriminellen Vereinigung „mangels hinreichenden Verdachts“ nicht zu halten sei? Und warum folgte auf dieses erste, ergebnislose Verfahren prompt ein zweites, das von 14 auf 24 Beschuldigte ausgeweitet wurde?
Die Geschichte dreht sich um Fußball, aber vor allem um Politik, und spielt in meiner Heimatstadt Leipzig. Der Heldenstadt, auf deren Straßen die Friedliche Revolution ihren Anfang nahm. Wo der junge Goethe studierte, Napoleon bezwungen und der DFB gegründet wurde. In der alten Handels- und Messestadt pflegt man bis heute einen Freigeist, wie man ihn im übrigen Sachsen schmerzvoll vermisst. Immer wieder gerät der Freistaat wegen rechter Tendenzen in die Schlagzeilen, ob als Rückzugsort des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, als Heimstätte von Pegida oder als das Bundesland mit dem höchsten Anteil an AfD-Wählern.
Erbitterte Rivalität
Auch in Leipzig gibt es Neonazis, aber sie hatten schon immer einen schweren Stand. Das linksalternative Szeneviertel Connewitz etwa, im Süden der Stadt, wurde für sie nach der Wiedervereinigung sogar zur No-go-Area. Zugleich überlagerte sich in den Fußballstadien der Stadt die Rivalität von zwei Traditionsvereinen auf eine Weise mit politischer Konfrontation, die in Deutschland ihresgleichen sucht. Gemeint sind der 1. FC Lokomotive und die BSG Chemie. Zu Lok, den Blau-Gelben aus Probstheida, gehen die Rechten, zu Chemie, den Grün-Weißen aus Leutzsch, die Linken, heißt es landläufig. Darin steckt viel Wahres, aber so einfach ist es nicht und war es nie.
Die erbitterte Rivalität entstand schon zu DDR-Zeiten, weil der SED-Staat Lok als Leistungszentrum förderte und Chemie als Betriebssportgemeinschaft klein hielt. Die besten Spieler wurden von Leutzsch nach Probstheida delegiert, trotzdem holte Chemie zweimal die Meisterschaft. Die Fans von Chemie galten als rebellisch, die von Lok als angepasst. Ich verlor mein Herz zu einer Zeit an Chemie, als diese alten Gewissheiten neu verhandelt wurden. Als Elfjähriger kam ich 1997 das erste Mal nach Leutzsch. Der Verein hieß damals FC Sachsen Leipzig, aber alle sprachen nur von „Schäämie“ und den alten Zeiten.
Auf den Rängen war es damals nicht viel anders als in vielen ostdeutschen Stadien. Unverhohlen huldigte man dem „Führer“, besang den Bau einer U‑Bahn „von Probstheida bis nach Auschwitz“ und bekannte: „Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher!“ Nicht, dass ich dieses braune Geplärre so richtig verstanden hätte, als Heranwachsender erkannte ich darin allenfalls die größtmögliche Provokation.
Um die Jahrtausendwende begann sich das Klima zu wandeln
Um die Jahrtausendwende begann sich das Klima jedoch zu wandeln. Mit der aufkommenden Ultra-Bewegung kamen neue, überwiegend junge Fans ins Stadion, denen es um Unabhängigkeit, Basisdemokratie und Antirassismus ging. Bald prägte diese linke Fanszene den gesamten Verein, während in Probstheida eine braune Melange aus Alt-Hools, Neonazi-Kadern und Kampfsportlern den Ton angab. Plötzlich hieß es in der geteilten Fußballstadt Leipzig nicht mehr nur Chemie gegen Lok, sondern links gegen rechts. Und mir schmeichelte das Gefühl, irgendwie auf der guten Seite zu stehen. Die Nebenwirkungen dieser Entwicklung waren allerdings beträchtlich.
Als Chemie-Fan war es unklug, sich jenseits des Stadions in Grün-Weiß durch die Stadt zu bewegen. Im Dezember 2007 überfiel eine Horde Vermummter eine Weihnachtsfeier von Chemie-Fans in Leutzsch. Die Angreifer waren mit Messern, Stangen und Totschlägern bewaffnet, sie riefen „Wir sind Nazis“ und „L‑O-K“. In der grün-weißen Fanszene reifte die Überzeugung, dem etwas entgegensetzen zu müssen. Auf den Rechtsstaat konnten oder wollten sich viele nicht verlassen; einige wollten mit der Polizei nichts zu tun haben, andere fühlten sich von ihr im Stich gelassen. So wurde es normal, Kampfsport zu trainieren, und die Gelegenheiten, sich darin auszuprobieren, häuften sich.
Mal dreht sich die Gewaltspirale schneller, mal langsamer
Diese Erfahrung machte man auch bei Roter Stern Leipzig. Der Connewitzer Verein begreift sich eher als linkes politisches Projekt denn als Fußballklub. Zu Chemie pflegt man gute Beziehungen und umgekehrt. Allein deshalb gab es im Oktober 2009 beim Auswärtsspiel in der sächsischen Kleinstadt Brandis nicht noch mehr als drei Schwerverletzte, als ein brauner Mob die Spieler und Fans von Roter Stern mit Holzlatten und Eisenstangen überfiel. Bis die Polizei eintraf, waren die Angegriffenen auf sich allein gestellt. Bei Roter Stern will man bis heute nicht daran denken, wie es ausgegangen wäre, wenn es keine schlagkräftige Unterstützung von Chemie gegeben hätte. So geht das seit Jahren. Mal dreht sich die Gewaltspirale schneller, mal langsamer, und man verliert leicht den Überblick, welche Seite die nächste Eskalationsstufe gezündet hat. Oft wird das als Hooliganismus abgetan. Auch von den sächsischen Sicherheitsbehörden. Dort gelten jedoch oft nicht die Rechtsextremisten als Problem, sondern jene, die sich ihnen entgegenstellen.
Der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf hat in seiner Zeit als Ministerpräsident den berühmten Satz gesagt: „Die Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus.“ Um dieses schiefe Selbstbild herum ist eine politische Kultur entstanden, in der rechtsextreme Umtriebe notorisch verharmlost und relativiert werden. In Sachsen kann kein Neonazi einen Hitlergruß zeigen, ohne dass nicht irgendein Repräsentant der konservativen Nomenklatura „die Linksextremisten“ zum eigentlichen Staatsfeind stilisiert. In diese Kategorie kann schon fallen, wer einen Polizeieinsatz als unrechtmäßig kritisiert oder sich gegen rechts engagiert. Als wir mit der Faninitiative „Bunte Kurve“ antirassistische Kampagnen planten, fühlten wir uns ständig unter Generalverdacht. Entweder wurde uns vorgehalten, Politik habe im Stadion nichts verloren, oder man hielt uns gleich für verkappte Linksextremisten.