Der Gastgeber ist im WM-Viertelfinale gegen Kroatien ausgeschieden. Aber die Mannschaft hat den Russen die Liebe zum Fußball zurückgebracht. Ein wenig jedenfalls.
Um kurz nach Mitternacht steht ein Musiker mit seiner Gitarre an der Strandpromenade von Sotschi und spielt einen Song der russischen Rockband Chizh & Co. Rund 200 Menschen haben sich um ihn versammelt, sie halten sich an den Händen und singen lauthals mit. Übersetzt geht der Text so: „Lasst uns ein Lied über die Liebe schreiben. Aber nein, eine Saite ist gerissen und mein Stift schreibt nicht mehr. Vergib mir, vielleicht nächstes Mal. Es ist Zeit, schlafen zu gehen.“
Was für ein Turnier!
Gastgeber Russland ist wenige Minuten zuvor im Viertelfinale der WM ausgeschieden. 3:4 im Elfmeterschießen gegen Kroatien. Ein großes Spiel, ein großer Kampf. Denis Tscheryschew schoss eines der schönsten Tore dieses Turniers. Doppelpass, Dribbling, Schuss aus 20 Metern, drin. Kroatiens Torhüter Danijel Subasic staunte nicht schlecht, als der Ball im Winkel einschlug. In der Verlängerung erst der Rückschlag, 1:2 durch Domagoj Vida, und dann das fulminante Comeback kurz vor Abpfif, Mario Fernandes’ Kopfball zum 2:2. Was für ein Spiel! Was für ein Turnier!
Am Tag danach überschlägt sich die russische Presse vor Lobeshymnen. „Weine ruhig, Dsjuba“, schreibt „Argumenty I Fakty“. „Wir haben jetzt eine Mannschaft, und diese Mannschaft hat eine Zukunft“. Der Stürmer habe die Tränen eines „echten Mannes“ vergossen. Vor allem Trainer Stanislaw Tschertschessow wird in etlichen Medien gewürdigt. Auf Championat.com prangt in der linken oberen Ecke ein stilisierter Schnauzer statt des Webseiten-Logos. Diese Leistung, da scheinen sich Fans und Journalisten einig, hatte niemand erwartet.
Gegensätze
Vor etwa einem Monat, kurz vor dem Eröffnungsspiel gegen Saudi-Arabien, sah die ganze Sache noch anders aus. „Wir wollen unsere Fans einfach nur stolz machen“, verkündete damals Russlands Mittelfeldspieler Alexander Samedow, aber der Satz wirkte beinahe grotesk, denn eigentlich glaubte niemand außer Tschertschessow daran, dass diese Mannschaft die Vorrunde überstehen würde. Von den letzten sieben Testspielen vor der WM hatte sie kein einziges gewonnen. Na gut, vielleicht würde es zu einem Unentschieden gegen Saudi-Arabien reichen.
Man fragte sich außerdem, welche Fans Samedow in seiner Ansprache eigentlich gemeint hatte. Russischer Fußball war in den vergangenen Jahren nicht gerade ein Publikumsmagnet. Selbst zu Heimspielen von großen Traditionsklubs wie Dynamo Moskau kommen im Schnitt kaum mehr als 5000 Zuschauer. Einige glauben, es liege an der Qualität der Liga. Viele Mannschaften seien nicht mal auf deutschem Zweitliganiveau. Für die meisten liegt der heimische Fußball aber schlichtweg auf dem Sterbebett. Regelmäßig sieht man Nazibanner auf den Tribünen, fünf Mal in der vergangenen Saison musste alleine Spartak Moskau Spiele vor leeren Rängen austragen. Dann sind da noch die korrupten Funktionäre und die reichen Oligarchen, die ihre Vereine wie Spielzeuge halten. Alle paar Wochen passieren im russischen Fußball Dinge, die eher an eine Bananenrepublik erinnern.