In Ausgabe #96 erinnerten wir einst mit dem Titelthema „Die große Freiheit“ daran, wie die Stars des DDR-Fußballs die Wende erlebten. Lest hier den kompletten Text.
Kaffeeduft in der Luft. Kuchen mit Sahne. Eine gedeckte Tafel. Die Kinder haben ein Geschenk vorbereitet. Muttern wurschtelt in der Küche. Ein paar Flaschen Bier hat Hans-Uwe Pilz auch kalt gestellt. Die Gäste können kommen. Es gibt etwas zu feiern. Der Mittelfeldregisseur der SG Dynamo Dresden hat zu seinem einunddreißigsten Geburtstag geladen. Doch die Klingel bleibt an diesem Abend stumm. Ist das olle Ding kaputt? Nee, es kommt nur keiner. Denn alle Freunde sind weggefahren. Haben sich in ihre Trabis, ihre Wartburgs und Ladas gesetzt, um sich an der Grenze nach Westen in die endlosen Blechlawinen einzureihen, die vor den Übergängen im Stau stehen. Es ist Freitag und seit gestern Abend steht fest: Die Grenze ist auf, die Menschen tanzen in Berlin auf der Mauer. Pilz muss seinen Geburtstag im Dresdener Plattenbau an diesem Tag allein mit der Familie feiern. In diesem historischen Augenblick zählen Jahrestage und ein privates Anliegen wenig. Es ist der 10. November 1989, der Moment des kollektiven Glücks.
West-Außenminister Hans-Dietrich Genscher verkündet vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin gerade, dass weitere Grenzübergänge in der Mauerstadt geöffnet werden. Deutschland feiert den Beginn der Einheit wie im Rausch. Das Glänzen in den Augen der Menschen – im Osten wie im Westen eines Landes, das 40 Jahre lang geteilt war. Der Beginn auch der Vereinigung zweier Fußballsysteme. Bis vorgestern bestand für Hans-Uwe Pilz kein Zweifel daran, dass er in drei, vier Jahren bei Dynamo die Fußballschuhe an den Nagel hängen würde, um irgendwo als Trainer zu arbeiten. So ist es im Arbeiter- und Bauernstaat vorgesehen für verdiente Top-Kicker wie ihn. Viele Fragen bleiben da nicht offen. Pilz greift zum Flaschenöffner. Vorsichtig drückt er den Kronkorken der Bierflasche nach oben. Der Jubilar schenkt seiner Frau und sich das goldgelb sprudelnde Getränk in zwei Gläser und sagt: „…vielleicht spiele ich nun doch noch einmal Bundesliga.“
5. April 1989, Dresden
Es ist der vorläufige Höhepunkt in einer Entwicklung, die sich seit einem halben Jahr in der DDR vollzieht. Schon im Frühjahr scheint ein Umdenken in den Führungsetagen des Deutschen Fußball Verbands (DFV) stattzufinden: Im Vorfeld des UEFA-Pokal-Halbfinals gegen den VfB Stuttgart wird den Akteuren von Dynamo Dresden in Aussicht gestellt, mit ihren Ehefrauen zum Auswärtsspiel ins Schwabenland reisen zu können. Ein Goodie für den großen Erfolg im Europacup. Visa für die Eheleute werden beantragt, doch kurz vor der Abreise erklärt der für den Klub zuständige Parteisekretär beim freitäglichen Politikunterricht, dass die Spielerfrauen doch daheim bleiben müssten. Doch kein Spieler kommt deshalb auf die Idee aufzumucken. Zu warm der Kokon, in dem sich die privilegierten Kicker in dem Staat befinden, der sportliche Erfolge stets auch als Propagandainstrument einsetzt. Fußballer haben schon in der Jugend die Möglichkeit, zu Spielen und Trainingslagern ins westliche Ausland zu reisen. Nur die wenigsten nutzen dies zur Flucht. Die Bedingungen für Oberligaspieler – die offiziell als Amateure gelten – sind optimal. Selbst wenn ein Akteur insgeheim von einer dauerhaften Ausreise träumt, die Furcht vor Repressalien gegenüber den Angehörigen überwiegt bei den meisten.
23. Juni 1989, Revfülöp, Ungarn
Der Keeper des BFC Dynamo Berlin, Bodo Rudwaleit, verbringt seinen Sommerurlaub mit Frau und Sohn auf einem Zeltplatz am Balaton. Während des zweiwöchigen Aufenthalts fallen ihm immer wieder seltsame Dinge auf. „Leute, die gestern noch da waren, waren plötzlich weg. Auf dem Zeltplatz gab es immer wieder Ansammlungen von Menschen.“ Die DDR ist in Bewegung. Seit Mai baut Ungarn die Grenzanlagen zu Österreich ab. Kurz darauf unterstreichen der österreichische Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn ihre Politik der Verständigung und Reisefreiheit medienwirksam mit der symbolischen Durchtrennung des Stacheldrahtzauns.
4. September 1989, Leipzig/Berlin
In Leipzig schließt sich an die Friedensgebete in der Nikolaikirche die erste Montagsdemonstration an. Gegenüber dem Gotteshaus liegt der Schuhladen, in dem die Frau von Lok-Leipzig-Spieler Heiko Scholz arbeitet. Zunächst noch ungläubig, nimmt das Ehepaar das Treiben auf der Straße wahr. Als die Veranstaltungen dort immer mehr Zulauf erhalten, muss der Schuhladen montags bald via behördlicher Anweisung bereits um 15 Uhr schließen. Die Spieler von Lok werden in den Sitzungssaal am Trainingszentrum beordert. Die Mitteilung an die Kicker lautet: „Eine Beteiligung an einer Demonstration ist nicht förderlich.“ Auch in Berlin schreitet die Revolution mit Siebenmeilenstiefeln voran. Bei den Partien des BFC Dynamo, dessen Vorsitzender Stasi-Boss Erich Mielke ist, fällt Bodo Rudwaleit auf, wie die Tribünen ihr Gesicht verändern: „Plötzlich waren die Leute von der Staatssicherheit, mit denen wir beim BFC täglich zu tun hatten, nicht mehr so präsent. Hatten wohl Wichtigeres zu tun.“
4. Oktober 1989, Dresden
Im Zusammenhang mit der Ausreise von DDR-Flüchtlingen über die Prager Botschaft werden vier Züge durch den Dresdner Hauptbahnhof geleitet. Am Bahnhof versammeln sich 5000 Menschen, die teilweise versuchen, gewaltsam in die Wagons zu gelangen. Als die Polizei einschreitet und den Bahnhof räumt, kommt es zu Krawallen, bei denen Bürger die Polizei mit Pflastersteinen bewerfen und Teile des Bahnhofs demoliert werden. Ein Polizeifahrzeug wird angezündet. Viele hundert Personen werden festgenommen und erst tags darauf wieder auf freien Fuß gesetzt. Als es am Hauptbahnhof brennt, ist auch Dynamo-Spieler Ralf Hauptmann dabei. Als Mitglied des Polizeisportvereins versteht es sich von selbst, dass er sich nicht am Aufruhr beteiligt. Aber ein bisschen gucken muss doch gestattet sein. Als Hauptmann aus einiger Entfernung den Ereignissen zusieht, fragt ein Passant den populären Kicker, der im Zweitberuf Polizeileutnant ist, ob er sich im verdeckten Einsatz befinde. Hauptmann: „Ich kannte die Antwort nicht. Ich war Polizist – aber war ich im Dienst?“
5. Oktober 1989, Dresden/Berlin
Die Parteileitung bleibt eine Antwort nicht lange schuldig. Freitags treten die Spieler von Dynamo wie gewohnt zur Agitation im Versammlungsraum an. Der Platzwart fragt den Parteisekretär, was von der Situation zu halten sei. Der Funktionär druckst herum. Doch die Spieler bekommen einen Alarmplan ausgehändigt, falls es in den nächsten Tagen weiterhin zu Ausschreitungen kommen sollte. Minutiös ist dort aufgelistet, welcher Spieler welchen Kollegen anzurufen hat, sollte der Fall eintreten, dass Dynamo-Spieler die Staatsmacht beim Kampf gegen die Aufrührer unterstützen müssten. Es ist das erste und einzige Mal, dass Männern wie Torsten Gütschow, Ralf Minge, Hans-Uwe Pilz, Ulf Kirsten und Matthias Sammer bewusst wird, dass sie im Zivilberuf Polizisten sind.
18. Oktober 1989, Karl-Marx-Stadt
Vor drei Tagen hat Egon Krenz Erich Honecker als Staatsratsvorsitzenden ersetzt. Nach dem Vorbild anderer Städte treffen sich nun auch in der St. Jakobikirche in Karl-Marx-Stadt die Menschen zu Friedensgebeten und Diskussionen. Rico Steinmann ist an diesem Abend auch unter den Besuchern. Freiheitliche Empfindungen wollen bei dem Star des FC Karl-Marx-Stadt nicht aufkommen. Noch immer besteht die Angst, dass Demonstrationen von der Volkspolizei gewaltsam aufgelöst werden. Wie viele Stasi-Leute haben sich wohl unter die Besucher gemischt? Der Nationalspieler ist da, aber auch nicht. Zu groß ist die Angst vor Sanktionen. „Ich habe darauf geachtet, an einer Position zu stehen, von wo aus mich nicht jeder sehen konnte.“
21. Oktober 1989, Rostock
Mit 3:1 schickt Hansa den BFC Dynamo nach Hause, doch auch an der Ostsee ist Fußball längst zur Nebensache geworden. Seit sich vor zwei Tagen erstmals Demonstranten aus der Petrikirche auf die Straße wagten, ist auch Rostock freiheitsbewegt. Hansas Rainer Jarohs hat sich nach Spielende in seinen Wartburg gesetzt und ist in die Innenstadt gefahren, für heute ist eine Demo geplant. Zu Fuß erreicht Jarohs die Lange Straße, dort trifft gerade der Zug aus der Petrikirche ein. Die Demonstranten erkennen ihn, sie rufen: „Rainer! Komm her, schließ dich uns an!“ Jarohs bleibt stehen, bis auch der Letzte vorbeigezogen ist. Bis heute macht er sich Vorwürfe: „Als normal denkender Mensch hätte ich mitgehen müssen.“
Ende Oktober 1989, Berlin
Auf einem Tisch liegen dutzende Papierstapel. Ein Büro in der Zentrale des DFV. Die Funktionäre um Verbandschef Wolfgang Spitzner stellen die Weichen für eine bessere Zukunft. Alle Oberliga- und DDR-Liga-Spieler müssen per Beschluss einen Lizenzvertrag unterschreiben, der den Statuten der FIFA entspricht. Nachdem im Juni und Juli in kürzester Zeit der Rostocker Axel Kruse und die Spieler Jens König, Thomas Weiß und André Köhler von Wismut Aue Partien in Schweden zur Flucht in den Westen genutzt haben, will sich der Verband gegen einen weiteren Exodus guter Kicker absichern und gleichzeitig auch Vorkehrungen für zukünftige Transfers von DDR-Spielern in den Nicht-Sozialistischen-Wirtschaftsraum treffen. Denn auch den Funktionären ist klar: Stars wie Andreas Thom oder Matthias Sammer werden mittelfristig nicht zu halten sein. Es könnte also ein wichtiges Signal für die Öffnung zum Westen und für allgemeine Reisefreiheit sein, wenn DDR-Stars zukünftig auch in anderen Ländern spielen. Die Vorsitzenden der Klubs holen die Verträge beim Verband ab, um sie in einigen Tage unterschrieben zurückzubringen. Durch diese konzertierte Aktion kann plötzlich kein DDR-Spieler mehr ohne Freigabe vom DFV für einen neuen Verein spielen – auch nicht nach der bis dahin üblichen zwölfmonatigen Sperre.
9. November 1989, Leipzig
Für manchen beginnt der alles entscheidende Tag bereits mit einem Highlight: Um 7 Uhr morgens geht Heiko Scholz zur Fahrzeugauslieferung, um dort für 36 500 Ostmark seinen neuen Wartburg abzuholen. Am späten Vormittag muss er mit dem Neuwagen nach Abtnaundorf im Nordosten von Leipzig, wo sich die Nationalmannschaft trifft. In ein paar Tagen spielt das Team in Wien sein alles entscheidendes WM-Qualifikationsspiel gegen Österreich. Mit einem Sieg kann sich die DDR für die WM in Italien qualifizieren. Am Abend hockt die Mannschaft in der Sportschule zusammen, der Fernseher läuft. Matthias Sammer: „Stunde um Stunde jagte eine Meldung die andere. Reisefreiheit, Geldumtausch, Löcher in der Mauer. Menschenauflauf am Brandenburger Tor. Und bei uns knallten die Champagner-Korken.“ Nicht jeder Akteur erlebt die Stunden in Abtnaundorf ähnlich gelöst. Immerhin steht die Elf vor dem wichtigsten Länderspiel seit der WM 1974. Die Magdeburger Dirk Heyne und Dirk Stahmann schlummern bereits, als die Nachricht von der Maueröffnung über die Bildschirme kommt. Für ihr Leben als Fußballer – so glauben sie – hat es keine besondere Bedeutung mehr, denn die Routiniers sind schon deutlich über dreißig und glauben nicht mehr daran, ein Angebot aus dem Westen zu bekommen. Rico Steinmann geht es anders. Er wird im Dezember erst 22. Er sitzt mit dem Team im Gemeinschaftsraum: „Als wir die Bilder von der Grenzöffnung sahen, hatten wohl alle jungen Spieler denselben Gedanken: Dass nun der Traum Bundesliga in Erfüllung gehen könnte …“
10. November 1989, überall in der DDR
Freitagmorgen bei der morgendlichen Übungseinheit von Hansa Rostock fehlen einige Spieler, die noch in der Nacht nach Berlin gefahren sind. Trainer Werner Voigt gibt seinem Team bis Montag frei. Jung- star Florian Weichert ruft seinen Schwiegervater an und erbettelt dessen Trabant. Im Rathaus von Mölln holen er und seine Frau Susi am Nachmittag ihr Begrüßungsgeld ab, um in Lübeck ein Kuscheltier für den Sohn zu kaufen. Als sie in Ratzeburg an einer Kreuzung nach dem Weg fragen, schenkt ein Passant ihnen einen Atlas. Das Ehepaar muss genau aufpassen, dass es sich nicht zu weit von der Grenze entfernt, denn im Westen gibt es keinen Sprit für ihr DDR-Fahrzeug.
Ralf Hauptmann, Sven Kmetsch und Rocco Milde sitzen derweil in einem Moskowitsch auf der Autobahn bei Plauen. Nichts geht mehr. Ein unendlicher Stau vor der deutsch-deutschen Grenze. Die drei Spieler von Dynamo Dresden sind auf dem Weg nach Bayreuth. Aus dem Kassettenrekorder dudelt pausenlos das Album „Bunte Republik Deutschland“ von Udo Lindenberg. Hochstimmung.
DDR-Rekordnationalspieler Joachim Streich absolviert eine fünftägige Trainerhospitanz beim PSV Eindhoven. Beim Morgentraining wird der Altinternationale von den Niederländern mit der Neuigkeit begrüßt: Die Mauer ist auf. Streichs Rückflug nach Berlin-Schönefeld geht am nächsten Tag. Doch die Maschine der DDR-Linie „Interflug“ verpasst den Anschluss in Amsterdam wegen Nebels. Ein Mitarbeiter des „Wissenschaftlichen Zentrums“, der den Jungtrainer auf seiner Reise begleitet, sagt: „Es geht noch ein Flug nach Tegel – lass uns den nehmen.“ Reisen zum Westberliner Flughafen sind DDR-Bürgern bislang verboten. Aber was zählt das jetzt noch? Die beiden nehmen den Flug. Als Streich später am Checkpoint Charlie in die DDR einreisen will, begrüßt ihn bereits ein freundlicher Grenzer mit den Worten: „Ach, Herr Streich, waren Sie auch schon drüben.“
Jörg Neubauer, der Pressesprecher des DFV, sitzt in einer Maschine nach Wien. Er ist unterwegs, um vom Österreichischen Verband 9000 Eintrittskarten für das Spiel am kommenden Mittwoch abzuholen. Sie sollen in den freien Verkauf gehen – schließlich hat jetzt jeder DDR-Bürger theoretisch die Möglichkeit, zum Qualifikationsspiel zu reisen. Doch die Bevölkerung hat derzeit anderes im Kopf. Nur 7367 Gästekarten werden verkauft.
Samstag, 11. November 1989, überall in der DDR
Am Otto-Grotewohl-Ring in der Rostocker Südstadt startet Rainer Jarohs seinen weißen Wartburg. Auf der Rückbank sitzen Sohn Daniel und Tochter Sandy. Jarohs übernimmt das Steuer, neben ihm rutscht aufgeregt seine Frau Angelika auf dem Beifahrersitz hin und her. „Eine Wiedervereinigung hatte ich längst abgehakt“, sagt Jarohs. Über Feldwege im Zickzackkurs erreicht die Familie die Grenzkontrollen bei Ratzeburg. Dort werden die Neuankömmlinge jubelnd empfangen, wildfremde Menschen werfen Geschenke durch die Autofenster. Auf dem Beifahrersitz wird Angelika Jarohs von ihren Gefühlen überwältigt und fängt an zu weinen.
BFC-Libero Frank Rohde steht derweil an der Steglitzer Schlossstraße in Berlin und traut seinen Augen nicht. Eigentlich wollte er ein ruhiges Wochenende in einem Potsdamer Hotel verleben – aber seine Frau hat darauf beharrt, endlich einen Trip nach Westen machen zu dürfen. Er hat seinen Kindern ein Eis gekauft und beobachtet, wie seine Landsleute vom Kaufrausch erfasst werden. „Die Läden hatten überall diese Grabbelkisten aufgestellt – erschreckend, wie nun alle darüber herfielen.“
15. November 1989, Wien
Auch wenn der DDR-Verband versucht hat, die aktuellen Nachrichten von den Nationalspielern fernzuhalten – es hat nicht gereicht, um die Konzentration vollends aufrechtzuerhalten. Schon vor dem Spiel drücken sich im Quartier in Lindabrunn Spielerberater in der Hotel-Lobby herum und versuchen, mit den Sportlern ins Gespräch zu kommen. Drei Tore von Toni Polster entscheiden die Partie im Praterstadion. Rico Steinmann verschießt einen Elfmeter und fragt sich: „Hätte ich den reingemacht, wenn die Mauer nicht gefallen wäre?“
Die Männer von Eduard Geyer schleichen traurig vom Platz. Während des Spiels haben sich nicht nur auf dem Rasen außergewöhnliche Dinge ereignet: Auf der VIP-Tribüne halten bereits Vertreter von Borussia Dortmund, Bayern München und Werder Bremen Ausschau nach interessanten Spielern. Leverkusen-Manager Reiner Calmund, der in Köln dem Spiel BRD gegen Wales beiwohnt, hat seine Scouts Dieter Herzog und Manfred Ziegler geschickt – und noch einen Mann, von dem „Calli“ sagt: „Wenn der vorne aus der Disco rausfliegt, klettert er durchs Kellerfenster wieder rein.“ Wolfgang Karnath hat sich Zutritt zum Innenraum des Praterstadions verschafft. Sein Auftrag: „Bring mir die Kontaktdaten zu Ulf Kirsten, Matthias Sammer und Andreas Thom.“ Calmund behauptet, er habe den Scout mit einem Fotografenleibchen dort eingeschleust, Karnath selbst sagt, er sei mittels seines Sanitäterpasses aus Bundeswehrzeiten an den Ordnern vorbeigekommen.
Als Matthias Sammer in der 79. Minute für Uwe Weidemann ausgewechselt wird, sitzt neben ihm auf der Bank plötzlich ein stämmiger Mann mit buschigem Haar, den er noch nie gesehen hat. Der sagt: „Schönen Gruß von Herrn Calmund, wir wollen Sie nach Leverkusen holen. Lassen Sie uns nach dem Spiel im Hotel Lindabrunn reden.“ Als der Schlusspfiff ertönt, verlässt Andreas Thom mit hängendem Kopf das Spielfeld, als ihm plötzlich derselbe Mann – „einer, der wie ein Fotograf aussah“ – auf die Schulter tippt. Man vertagt sich auf später an der Hotelbar.
Unter die Enttäuschung der verpassten WM-Chance mischt sich schon bald die Hoffnung auf eine neue, ganz andere Zukunft. In Lindabrunn bekommt Karnath, was er will. Die exakte Adresse von Andreas Thom in Berlin unweit der Jannowitzbrücke: Holzmarktstraße, Block, Wohnung. An den Klingeln der dortigen Plattenbauten stehen keine Namen. Calmund braucht also exakte Angaben. Auch mit Kirsten und Sammer beraumt Karnath ein Verhandlungsgespräch an.
In der Lobby des Sporthotels ist jetzt ohnehin viel los. Rico Steinmann erhält eine Nachricht von Werder-Manager Willi Lemke, ob man sich auf ein Gespräch zusammensetzen könne. Auch Rainer Ernst steht im Fokus der mehr oder weniger seriösen Leute, die sich im Mannschaftsquartier einfinden. Ernst: „Abends im Bett überlegte ich, wo mein Weg jetzt hinführt.“
16. November 1989, Berlin/Karl-Marx-Stadt
Mancher muss nicht lange überlegen. Auf einem der billigen Plätze der „Interflug“-Maschine, die am Mittag mit der DDR-Mannschaft zurück nach Berlin fliegt, sitzt Wolfgang Karnath. In einer „Lufthansa“-Maschine aus Köln hat Reiner Calmund Platz genommen, der, getreu seines Mottos „Nicht die Großen fressen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen“, keine Zeit zu verlieren hat. Im KaDeWe kauft er eine Schachtel Pralinen und einen Blumenstrauß für Tina Thom, ein paar Spielsachen für die Tochter des Paars. Andreas Thom sagt: „Später wurde immer von einer Eisenbahn geschrieben. Die suchen Calmund und ich bis heute.“
Beim Treffen wirkt der soeben aus Wien zurückgekehrte Spieler auf den gemütlichen Rheinländer nervös. Calmund: „Kein Wunder. Mir war sofort klar, dass in dieser Wohnung die Wände riesige Ohren hatten.“ Der Bayer-Manager fasst sein Anliegen in sachliche Worte, um unsichtbare Mithörer nicht auf dumme Gedanken zu bringen: „Andreas, das ist eine offizielle Sache. Ich möchte nur wissen, ob du dir vorstellen kannst, für Bayer Leverkusen zu spielen. Wenn ja, bin ich morgen früh beim Verband und lasse die Drähte glühen.“ Als Calmund gegangen ist, ruft Thom beim Kollegen Frank Rohde durch. „Wuschi, der Calmund will mich haben, kann ich vorbeikommen?“ Der stämmige Abwehrboss ist für viele in der Mannschaft des BFC ein väterlicher Freund. Die halbe Nacht wälzen sie Gedanken, wie nun vorzugehen sei.
Als Rico Steinmann in Karl-Marx-Stadt seine Wohnung aufschließt, kommt seine Lebensgefährtin auf ihn zugestürmt. Das Telefon klingelt in einer Tour. Spielerberater wollen sich mit ihm treffen. „Fast ein halbes Dutzend – und fast jeder wollte sofort einen Beratervertrag unterschrieben haben.“ Einer gibt sich sogar als offizieller Vertreter des 1. FC Köln aus. „Er legte mir einen Vertrag mit konkreten Zahlen vor“, erinnert sich Steinmann. Später stellt sich heraus, dass der Mann überhaupt kein Mandat vom FC besitzt. Als Steinmann handschriftliche Korrekturen an dem vermeintlichen Kontrakt vornimmt, wertet der angebliche Berater dies als Vereinbarung und droht mit einem Anwalt, sollte Steinmann sich nicht an die vorgelegte Vereinbarung halten oder einen anderen Berater zu Rate ziehen. Steinmann: „So wie die Zahlen war auch diese Drohung völlig aus der Luft gegriffen.“
17. November 1989, Berlin
Reiner Calmund hat einen vollen Terminkalender. Er muss beim Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) ein förmliches Anschreiben wegen des Thom-Transfers einreichen, auch, um den Spieler zu beruhigen, dass alles den behördlichen Weg geht. Am Abend trifft er im Grand Hotel Ulf Kirsten und Matthias Sammer, die aus Dresden anreisen. Vorbehaltlich einer Freigabe durch den DDR-Verband bekommt er am Ende des Treffens von beiden eine Unterschrift unter einen Vorvertrag.
Ende November 1989, Berlin
Bodo Rudwaleit macht mit der Familie einen Westausflug. Ziel: die Neuköllner Karl-Marx-Straße. Im Rathaus holen sie sich ihr Begrüßungsgeld ab. „Wir wussten ganz genau, was wir kaufen: Ein Paar Tennisschuhe für meinen Sohn.“ Der Keeper hat ein bisschen Westgeld, das er schwarz getauscht hat. In der Kurfürstenstraße entdeckt er ein Schild: „Autos zu verkaufen“. Kurz überlegt er, ob er sich einen 3,2 Liter Ford Granada zulegen soll, dann kauft er den acht Jahre alten Mercedes 280 in braun-metallic für 6500 DM. Seinen Lada Niva, den er erst ein Jahr vorher mit Hilfe des BFC gekauft hat, gibt er in Zahlung. Für das 36 500 Ostmark teure Modell bekommt er noch 2000 Westmark.
Ende November 1989, Berlin
Günter Netzer schwärmt: „Das sind ja traumhafte Zustände bei Ihnen.“ Als Vertreter des Schweizer Sportvermarkters CWL ist Netzer zum DFV gekommen, um mit dem Verband über die TV-Rechte und Bandenwerbung in der Oberliga zu verhandeln. Es ist für die Klubchefs die erste Begegnung mit der Marktwirtschaft. Und wie in der DDR üblich, haben sich alle Vorsitzenden der Vereine pünktlich zum Termin an einem Tisch versammelt, um Netzers Vortrag zu lauschen. In anderen Ländern muss er mühsam jeden Klub-Präsidenten einzeln aufsuchen. Die Ideen der CWL sind interessant – doch zu diesem Zeitpunkt kann sich der Verband nicht zu einem Vertragsabschluss durchringen. Erst im März 1990 gelingt es der CWL, mit Energie Cottbus den ersten privaten Vertrag über Marketingrechte abzuschließen.
5. Dezember 1989 Berlin/Köln
Frank Rohde und Andreas Thom fahren mit dem Taxi vom Jahnsportpark im Prenzlauer Berg nach Tegel. Vor drei Wochen noch ein Ding der Unmöglichkeit. Der BFC-Libero begleitet den umgarnten Stürmer nach Köln, wo Thom von Ulli Potofski für die RTL-Sendung „Anpfiff“ interviewt werden soll. An Bord der Maschine ist ein alter Bekannter. Rohde: „Calli hat den Kleenen in Manndeckung genommen, der hat an Andy keine Luft mehr gelassen.“ Calmund hat längst begriffen, dass Rohde großen Einfluss auf Thom besitzt. Im Westen geht der Manager mit den beiden Kickern in ein Sportgeschäft und beginnt, große Taschen zu füllen. „Herr Calmund, lassen Sie das, ich bin nicht käuflich“, zischt Rohde den bemühten Bayer-Funktionär an.
9. Dezember 1989, Berlin
DFV-Pressesprecher Jörg Neubauer sitzt im Wohnzimmer der Thoms in der Holzmarktstraße. Tina Thom hat ihm einen Kaffee gemacht. Gemeinsam warten sie auf die Rückkehr des BFC-Spielers aus Frankfurt/Oder, wo der Hauptstadtklub an diesem Abend sein Pokal-Viertelfinale mit 0:2 verloren hat. Als Andreas Thom nach Hause kommt, überbringt Neubauer die freudige Nachricht. Der DFV ist sich mit Bayer Leverkusen über eine Ablöse von 2,8 Millionen Mark einig geworden. Der Großteil der Summe wird an den BFC gehen, ein kleiner Teil dieser ersten Transfersumme in der Geschichte der DDR wandert in die Kassen des Gesundheitswesens. Unter die Freude mischt sich bei den Thoms auch ein Hauch von Abschiedsmelancholie. In drei Tagen wird der Deal im Grand Hotel mit den Bayer-Granden besiegelt. Nun gibt es kein Zurück mehr.
20. Dezember 1989, Dresden
Auf dem Platz vor der Frauenkirche hält Helmut Kohl eine gefeierte Rede. Ein Vorbote der baldigen Wiedervereinigung. Später am Abend sitzt der Kanzler mit den Spitzen des Bayer-Konzerns zusammen und drängt darauf, von den Transferplänen weiterer Spitzenspieler vorerst Abstand zu nehmen: „Überlegen Sie, was dies für Folgen für das Image der Bayer AG haben wird. Sie können die DDR nicht einfach so leerkaufen.“
22. Dezember 1989, Prien
Am Chiemsee hat Reiner Calmund seine Winterresidenz aufgeschlagen. Dorthin kommen Familie Kirsten und Matthias Sammer, die gemeinsam im Lada anreisen. In den Gesprächen kommt die Runde vom Ästchen aufs Stöckchen. Ulf Kirsten offenbart sogar, dass er als IM bei der Staatssicherheit geführt wird. Calmund interessiert die Vergangenheit der Spieler nicht, er führt keine moralischen Diskussionen. Er deutet an, dass er wegen des Kohl-Erlasses von den Vorverträgen Abstand nehmen wird. Sammer gibt zu, dass er sich bereits mit dem VfB Stuttgart verständigt. Der Bayer-Manager macht im Beisein von Karnath und Kirsten eine Handbewegung, die das Zerreißen eines Papiers andeutet. Kirsten signalisiert, dass er gerne zum VfL Bochum wechseln würde.
26. Dezember 1989, Berlin
Der politische Wind hat sich gedreht. Auch den Fußballern des BFC bleibt das nicht mehr verborgen. Beim traditionellen Weihnachtsturnier in der Werner-Seelenbinder-Halle fühlt sich Frank Rohde fast wie Freiwild. Dass der Hauptstadtverein bei den Fans aufgrund seiner Verbindung zur Stasi in der DDR nicht beliebt ist, weiß der Abwehrspieler. Doch der Hass eskaliert an diesem Tag. Durch die Fangnetze werden die Spieler von Zuschauern bespuckt. „Stasi-Schwein“ ist an diesem Tag eine der netteren Beleidigungen, die der Libero hört.
6. Januar 1990, Westdeutschland
Rainer Ernst landet am Düsseldorfer Flughafen. Der Berliner verhandelt seit einigen Wochen mit dem BVB. Manager Michael Meier empfängt den BFC-Kicker am Gate. Im Mercedes geht es nach Dortmund. Meier heizt mit 240 km/h über die Autobahn und fängt an, mit der rechten Hand das Autotelefon zu bedienen. Ernst wird Angst und Bange, sein am Berliner Flughafen geparkter Wartburg fährt nur 130. Er übernachtet im BVB-Mannschaftshotel und spricht dort mit Coach Horst Köppel. „Ich wollte raus, er wollte mich haben. Wir wurden uns schnell einig.“ Der BFC-Spieler wird hofiert, schleckt mit Präsident Gerd Niebaum im Möwenpick ein Eis. Im Berliner Palasthotel soll in einigen Tagen der Deal perfekt gemacht werden.
10. Januar 1990, Berlin
In der „Bild“ erscheint ein Interview mit Rainer Ernst. Darin gibt der wechselwillige Spieler zu Protokoll: „Ich habe viele meiner Tore auf Video. Und bei manchen Elfmetern muss ich im Nachhinein schmunzeln.“ In den Augen der BFC-Bosse stellt Ernst damit die gewonnenen Meistertitel in Frage, denn mit seiner Aussage nährt der Spieler das Gerücht, Partien des Rekordmeisters seien regelmäßig manipuliert worden. Der BFC geht daraufhin nicht mehr auf das Angebot der Dortmunder ein. Ernst bekommt keine Freigabe erteilt. Statt sofort für rund 2,2 Millionen Mark zu wechseln, wird Ernst erst im Sommer für 750 000 Mark nach Kaiserslautern transferiert.
In diesen Tagen wird auch ein weiterer Ost-West-Deal perfekt gemacht. Nachdem Calmund Matthias Sammer aus Staatsräson aus seinen Verpflichtungen gegenüber Bayer 04 entlassen hat, unterschreibt der Rotschopf beim VfB Stuttgart. 1,8 Millionen Mark Ablöse nimmt eine Delegation von Dynamo in den Tagen darauf aus Stuttgart in bar in einer Tasche mit. Für Transaktionen dieser Art gibt es in der DDR weder ein geltendes Steuerrecht, noch entsprechende Konten. Weitere Abmachungen in dem Vertrag sind ein Abschiedsspiel für Sammer, das nie zustande kommen wird, sowie ein Mannschaftsbus für die Dresdner. VfB-Präses Gerhard Mayer-Vorfelder macht es sich leicht: Er schickt ein gebrauchtes Leasing-Fahrzeug mit bezahlten Raten für einen Zeitraum von drei Monaten. Weitere Raten gehen zu Lasten von Dynamo.
19. Januar 1990, Dresden
Hans-Uwe Pilz tritt zu einem Vertragsgespräch beim Dynamo-Vorsitzenden Alfons Saupe an. Dem 31-jährigen Mittelfeldspieler wird eröffnet, dass er bei den Planungen keine Rolle mehr spielt. Zu der Erkenntnis, dass nichts mehr wie vorher ist, kommen in diesen Tagen vor Rückrundenstart viele gestandene DDR-Spieler. Bis vor einigen Wochen lebten sie in dem Bewusstsein, dass sie nach der Karriere Klub- oder Verbandstrainer würden. Doch die überfallartige Marktwirtschaft zwingt sie zum Umdenken. Über Ulf Kirsten sucht „Champi“ Pilz den Kontakt zu Wolfgang Karnath, der anfängt, den Markt für den ausgemusterten Leistungsträger zu sondieren. Jean Löring, Mäzen von Fortuna Köln, will ein Schnäppchen auf dem neuen Markt machen. Sein Trainer, Jupp Tenhagen, hält Pilz und dessen Teamkollegen Andreas Trautmann und Matthias Döschner für geeignet.
20. Februar 1990, Berlin
Der BFC Dynamo Berlin benennt sich in FC Berlin um. Mit dem Stasi-Image des BFC ist es schwer, Sponsoren an Land zu ziehen. Durch die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit, dem Träger des Vereins, verliert der BFC seine Existenzgrundlage. Der Kapitalismus ist längst auch in der Oberliga angekommen. Überall im Land haben drei Tage vor Rückrundenstart Geldgeber – längst nicht nur seriöse – Zugang zu den Vereinen erhalten. Die Spieler der Top-Klubs bekommen nun auch harte Westwährung auf ihr DDR-Gehalt gezahlt: In Dresden erhält jeder Spieler ab dem Frühjahr 1000 D‑Mark zusätzlich zum Einkommen. Auf der Brust wirbt das westdeutsche Versandhaus „Klingel“ für eine sechsstellige Summe. Auch Rico Steinmann vom FC Karl-Marx-Stadt erhält in der Rückserie Geld von einem Sponsor. Mit seiner Frau zieht er aus der gemeinsamen Zweiraumwohnung in ein kleines Häuschen.
10. März 1990, Rostock
Uwe Reinders sitzt auf der Rückbank einer Limousine und fährt durch Rostock. Schon bald wird festgelegt werden: Durch die Zusammenführung der Oberliga und der Bundesliga können nur zwei DDR-Klubs das Oberhaus erreichen – fünf weitere qualifizieren sich für die zweite Liga. Das ist das Minimalziel für Rostock. Dafür braucht der Hansa-Vorsitzende Robert Pischke einen Trainer mit Bundesliga-Know-how. Bei den Verhandlungen lässt sich Reinders bauernschlau neben dem Grundgehalt auch eine Meisterschaftsprämie in den Vertrag schrei- ben. Pischke sagt: „Mensch, wir haben nicht nur einen guten, sondern auch einen lustigen Trainer geholt.“ Reinders drängt desweiteren auf eine Prämie im Falle des Pokalsiegs und beim Triumph im Europapokal. Heute sagt er: „Die kannten sich mit Prämien überhaupt nicht aus, rechneten allenfalls mit einem Platz im Mittelfeld der Oberliga, also haben sie unterschrieben.“
April 1990, Autobahn Hamburg/Berlin/Dresden
Die A 24 ist eine Rennstrecke. Die Piloten an diesem Tag heißen Ralf Minge, Ralf Hauptmann oder Torsten Gütschow. Das Hamburger Autohaus Burmester spendiert Dynamo Dresden dreißig blaue „Audi 80“-Limousinen. Auf dem Fahrzeug aufgedruckt ist der Slogan: „Dynamischer geht’s nicht!“ Das Motto für eine bessere Zukunft – oder schon das Pfeifen im Walde? Sogar die Nummernschilder sind einheitlich: Der Präsident fährt mit dem Kennzeichen DD-DY‑1. Die Nummer DD-DY‑4, die eigentlich dem Trainer vorbehalten ist, hat sich frech Torjäger Torsten Gütschow gesichert.
25. April 1990, Berlin/Dresden
Ulf Kirsten ist vor dem Absprung aus Dresden. Er steht nun bei Borussia Dortmund im Wort. Manager Michael Meier aber lässt sich Zeit bei den Verhandlungen. Er hat keine Eile, denn er hat die Zusage von Calmund auf ein Vorkaufsrecht. Am Tag nach dem Freundschaftsspiel der DDR in Schottland erhält „Calli“ jedoch einen Anruf von Bayer-04-Präsident Gert-Achim Fischer: „Wir können Kirsten doch holen. Die Konzernspitze gibt grünes Licht.“ In Berlin-Schönefeld fängt der Bayer-Impressario den Nationalstürmer nach der Landung der Maschine aus Schottland ab und bugsiert ihn in ein Auto. Calmund weiß: „Jetzt spring ich in die Scheiße! Egal!“ Auf der Autofahrt nach Dresden bearbeiten Calmund und Berater Karnath den Stürmer so lange, bis er von seiner Zusage beim BVB Abstand nimmt und in Leverkusen unterschreibt. Kurz darauf stehen Dynamo-Manager Dieter Kießling und Busfahrer Rainer Nikol im Rheinland auf der Matte. Sie holen 3,75 Millionen Mark Ablöse in bar auf der Bayer-Geschäftsstelle ab. Noch eingeschweißt liefert ein Security-Service die Scheine in Calmunds Arbeitszimmer an. Kießling erinnert sich später: „Wir transportierten das viele Geld im Audi 80 durch Deutschland. Mir stehen noch heute die Schweißperlen auf der Stirn.“
28. April 1990, Köln
Reiner Calmund besucht eine Sport-Gala in Köln. Im Moment gelingt ihm einfach alles. Bei der Tombola gewinnt die rheinische Frohnatur ein Auto. Als er dort BVB-Manager Michael Meier trifft, feuert der ehemalige Klosterschüler eine Kanonade aus Schimpfwörtern auf ihn ab, dass selbst dem sonst so redseligen Geschäftsmann für einen Moment die Spucke wegbleibt. Calmund aber gibt zu: „Im umgekehrten Fall wäre es nicht beim Tobsuchtsanfall geblieben. Ich hätte die Türen der Geschäftsstelle eingetreten und wäre handgreiflich geworden.“
26. Mai 1990, überall in der DDR
Die vorletzte Oberliga-Saison der Geschichte endet. Das Double holt Dynamo Dresden. Die Westvereine haben sich im Osten reichlich bedient. Nach der Saison verlassen Matthias Sammer, Ulf Kirsten, Hans-Uwe Pilz, Andreas Trautmann und Matthias Döschner Dynamo gen Westen. Uwe Weidemann aus Erfurt kickt fortan beim 1. FC Nürnberg, Dirk Schuster verlässt Magdeburg zugunsten von Eintracht Braunschweig. Der FC Berlin wird in Zukunft ohne Frank Rohde und Thomas Doll auskommen müssen, die zum HSV wechseln. Rainer Ernst spielt ab der kommenden Saison beim 1. FC Kaiserslautern. Rico Steinmann vom Vizemeister FC Karl-Marx-Stadt kann nur durch eine deutliche Gehaltsaufbesserung im Osten gehalten werden.
28. Mai 1990, Rostock
Ehe die Treibjagd der West-Manager auf weitere Spieler beginnt, will Hansa Rostock seine jungen Talente mit Verträgen ausstatten. Einer nach dem anderen wird vom Trainingsplatz in das Büro des Vorsitzenden Pischke gerufen. Florian Weichert hat seinen Termin um 10 Uhr morgens. Pischke bietet ihm 2500 D‑Mark monatliches Grundgehalt an. Eine Menge Geld für den gelernten Kfz-Mechaniker. Als der Klubchef merkt, dass der Jungstar zaudert, zückt er ein Bündel Geldscheine und legt nach und nach Tausender auf den Tisch: „Und wenn du diesen Ein-Jahres-Vertrag jetzt direkt unterschreibst, kriegst du noch … acht‑, neun‑, zehntausend Mark obendrauf.“ Weichert unterzeichnet. Am nächsten Tag fährt er mit dem Bargeld und seinem DDR-Sparbuch im Trabant des Schwiegervaters nach Lübeck zu einem Autohändler. Da steht ein weißer Peugeot 309 auf dem Parkplatz. 12 000 Mark. Weichert handelt nicht, er zahlt gleich in bar.
2. Juli 1990, Rostock
Auf dem Gelände von Hansa Rostock an der Kopernikusstraße stellt sich die Mannschaft wie gewohnt bei Trainingsbeginn in einer Reihe an der Außenlinie auf. Tags zuvor hat Uwe Reinders seinen Dienst an der Ostsee angetreten. Er fragt Co-Trainer Jürgen Decker, was das zu bedeuten habe. Der sagt: „Trainer, die warten auf Sie.“ In der DDR ist es üblich, eine Übungseinheit mit dem Sportgruß zu beginnen. Reinders soll an das Team gewandt rufen: „Wir beginnen unsere Übung mit einem einfachen Sport …“ Die Spieler vollenden daraufhin mit: „… frei!“ Reinders betritt den Rasen und mustert seine brav aufgereihte Mannschaft. „Ist hier irgendwo ein General in der Nähe, oder was?“, raunzt der 35-Jährige. In Zukunft laufen Trainer und Mannschaft gemeinsam auf den Trainingsplatz, in eine Reihe stellt sich niemand mehr.
17 Uhr. Trainingsende. Reinders ergreift das Wort: „Gut trainiert. Jetzt lasst euch behandeln, geht duschen und in die Sauna. Um 19 Uhr könnt ihr nach Hause.“ Kapitän Juri Schlünz sieht sich zu einer Antwort gezwungen: „Trainer, ich muss bis 18 Uhr mein Kind abholen, meine Frau hat Spätschicht.“ Der Westdeutsche versteht die Welt nicht mehr, zumal Schlünz beileibe kein Einzelfall ist: „Das ändert sich ab morgen. Sagt zuhause Bescheid, ab heute verdient ihr das Geld. Eure Frauen brauchen nicht mehr arbeiten zu gehen.“ Noch steht die Mannschaft durchgeschwitzt auf dem Platz. Reinders sagt: „Männer, von nun an bin ich Tag und Nacht für euch da. Ihr könnt mich jederzeit anrufen, hier ist meine Nummer.“ Wieder tritt Juri Schlünz vor: „Ich muss noch was beichten.“ Die meisten aus der Rostocker Mannschaft besitzen kein Telefon.
Juli 1990, Tegernsee
Dariusz Wosz, gerade 21 Jahre alt geworden, weilt für ein paar Tage mit seiner Frau am See. Das Management des VfL Bochum hat eingeladen. Der Verein aus dem Ruhrgebiet bekundet großes Interesse an einer Verpflichtung des Spielers vom Halleschen FC. Der Manager hält Wosz einen weißen Zettel vor die Nase. Er soll blanko unterschreiben, die Modalitäten später eingefügt werden, damit der Wechsel möglichst schnell über die Bühne gehen kann. Wosz heute: „Ein Riesenfehler. Damals habe ich allen blind vertraut und mir gesagt: Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass ich in der Bundesliga spielen muss.“
Doch dann meldet sich der VfL ein halbes Jahr nicht mehr. Wosz ist mittlerweile nicht mehr an einem Transfer interessiert. Das Talent bekommt andere Angebote, aus der Bundesliga und aus dem Ausland. Eines Tages steht plötzlich ein Wagen mit Bochumer Kennzeichen auf dem HFC-Parkplatz. Wosz will sich verstecken, doch der Mann aus dem Westen kommt schon auf ihn zu. „Ich will dir was zeigen.“ Er öffnet den Kofferraum des Autos. Darin befindet sich ein Koffer mit 50 000 D‑Mark. „Schönen Gruß, richten Sie Ihren Auftraggebern aus, ich bin nicht käuflich“, sagt Wosz knapp und lässt den Geldboten stehen. Schließlich wird die Angelegenheit vor dem DFB-Gericht in Frankfurt geklärt. Der 22-Jährige muss am Ende nach Bochum gehen – der Hallesche FC erhält 1,2 Millionen D‑Mark als Transfererlös.
1. Juli 1990, Braunschweig
Die Eintracht verpflichtet als Trainer eine Legende: Joachim Streich, 102 Länderspiele für die DDR, Europapokalsieger mit dem 1. FC Magdeburg. Bis zum letzten Spieltag der Vorsaison hat er als Coach seines Stammvereins um die Oberligameisterschaft mitgespielt. Ein guter Fang für den Zweitligisten. Doch die Verpflichtung des ersten Ost-Trainers im Westen zieht Probleme nach sich: Die Belastung während der Einheiten ist wesentlich höher, als Westprofis gewohnt sind. Während Streichs Vorgänger Uwe Reinders derzeit in Rostock das Pensum runterkocht und wesentlich mehr Wert auf Regeneration legt, verlangt Streich seinen Akteuren alles ab. Hinzu kommt, dass den Westdeutschen ein gehöriges Stück Respekt vor ihrem Coach fehlt. Streich erkennt schnell, dass nach einer Nicht-Berücksichtigung ein Spieler postwendend anfängt, Opposition gegen den Trainer zu machen. In der DDR verlief es nach dem Gehorsamsprinzip – jede Aufstellung wurde ohne Murren hingenommen. Sogar über den Trainingsbeginn um 9 Uhr beschweren sich einige. Streich verlegt die morgendliche Einheit daraufhin auf 9.30 Uhr. Er sagt: „Dann hörte ich auch bald von dem Klischee, dass wir Ossis uns tot trainieren.“ Nach einer 0:3‑Niederlage in Hannover wird er im März 1991 entlassen. Das Experiment ist gescheitert.
Juli 1990, Karl-Marx-Stadt
Rico Steinmann ist standhaft geblieben. Werder Bremen, der BVB und auch Kölns Sportdirektor Udo Lattek haben sich um den Star aus Karl-Marx-Stadt gerissen, der sich in seiner Heimat der Verantwortung stellt. Nur durch massiven finanziellen Aufwand ist die Mannschaft des Vize-Meisters zusammengeblieben. Nun muss es mit der Qualifikation zur Bundesliga klappen. In der lokalen Zeitung aber tauchen Mutmaßungen auf, wie hoch das Salär des umgarnten Kickers sei. „Plötzlich wurde in einem Team, das bisher nach dem Gleichheitsprinzip zusammengespielt hatte, bekannt, dass es Unterschiede gibt.“ Ein unbekanntes Gefühl beginnt, die Atmosphäre in der Mannschaft von Hans Meyer zu vergiften: Neid. Als der Klub mit einem Fehlstart in die Saison geht, kommt viel Unruhe auf. Denn eins ist klar: Schafft der FC die Qualifikation zur Bundesliga nicht, ist Steinmann weg. Bei einer Krisensitzung steht ein Mitspieler auf und sagt: „Es kotzt mich an, warum geht es hier eigentlich nur noch um Steinmann?“
11. August 1990, überall in der DDR
Die Oberliga startet in ihre letzte Saison. Für die 14 Klubs geht es um die Existenz. 29 Rote und 544 Gelbe Karten an 26 Spiel tagen signalisieren, wie umkämpft die Spielzeit ist. In den Medien brandet schon bald die Diskussion auf, ob Top-Spieler besser geschützt werden müssten. Das Zuschauerinteresse an dieser K.O.-Liga ist verheerend. Der Zuschauerschnitt sinkt von bislang 8033 auf nur noch 4807 Besucher pro Spiel.
Dynamo Dresden ist ein gutes Beispiel, wie verzweifelt die Vereine ums Überleben kämpfen. Die Transferpolitik des Klubs zeugt nur bedingt von Fußballkompetenz. Die Abgänge werden nur teilweise kompensiert. Abgehalfterte Bundesligastars wie Sergio Allevi und Peter Lux ergänzen den Kader – und kassieren für überschaubare Leistungen fürstliche Gehälter. Mit Heiko Scholz von Lok Leipzig tätigt der Klub den ersten Millionentransfer eines DDR-Teams, im Winter kommt auch noch Uwe Rösler für 1,2 Millionen Mark Ablöse aus Magdeburg. Der Dauerverletzte Ralf Minge muss für den Klub in die Bresche springen und wird für jedes Spiel fitgespritzt. Am Ende der Saison muss er mit gerade mal 31 Jahren als Sportinvalide seine Karriere beenden.
9. September 1990, Berlin/Brüssel
Als Nationalcoach Eduard Geyer die Einladungen zum 293. und letzten Länderspiel der DDR drei Tage später gegen Belgien verschickt, hagelt es Absagen. Dirk Schuster lässt mitteilen, dass er ab sofort Westdeutscher sei. Rainer Ernst ist zurückgetreten. Andere geben Verletzungen als Grund für ihr Fernbleiben an. Als sich die Spieler in der Sportschule Kienbaum treffen, sind von 36 potentiellen Nationalspielern nur 12 anwesend. Nach etlichen Telefonaten sagen zumindest noch Heiko Bonan und Torsten Kracht zu. Der einzige Profi aus der Bundesliga, der anreist, ist Matthias Sammer. Die Unterkunft ist primitiv, das Essen schlecht. Sammer kommt ein düsterer Gedanke. Er will nicht als Kapitän der schlechtesten DDR-Nationalmannschaft in die Geschichte eingehen. Abends fährt er zum Flughafen in Tegel und will zurück nach Stuttgart fliegen. Doch es geht kein Jet mehr raus. Sammer entschließt sich daraufhin – angeblich hat VfB-Manager Dieter Hoeneß ihn überredet – doch mit dem Team nach Belgien zu fliegen.
Im Mannschaftshotel in Brüssel sitzen die Nationalspieler mit ihren Beratern über die Lobby verteilt, diskutieren über Klubs und Gehälter. Teamgeist: Fehlanzeige. Als Taschengeld bekommen sie 20 Mark pro Tag ausgezahlt, dazu 1500 Mark Antrittsprämie. Der Rest vom Schützenfest. Um den sportlichen Ehrgeiz ein letztes Mal zu schüren, lobt der Verband für die 14 Spieler eine Siegprämie von 70 000 Mark aus. Es nützt: Durch zwei Sammer-Tore verabschiedet sich die DDR doch noch mit einem Sieg aus der Fußballgeschichte.
20./21. November 1990, Leipzig
Der DFV löst sich auf und wird daraufhin als Nordostdeutscher Fußballverband (NOFV) ein neuer Regionalverband des DFB.
Herbst 1990, Köln
Die Mauer ist noch kein Jahr gefallen, Deutschland ist wiedervereinigt, und nicht nur im Fußball erlebt die Wende-Euphorie erste Abnutzungserscheinungen. Hans-Uwe Pilz ist kreuzunglücklich bei Fortuna Köln. Der Verein hat ihm einen roten BMW vor die Tür gestellt. Seine Familie wohnt in einem Reihenhaus in einem schicken Kölner Vorort in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Familien Döschner und Trautmann. Doch mit Rheinländern kommen sie nicht so recht in Kontakt. Seit dem herzlichen Empfang durch Jean Löring ist das Klima abgekühlt. „Die Spieler krochen dem Präsidenten in den Hintern. Es war schlimmer als zu DDR-Zeiten. Wenn ich in der Kabine den Mund aufriss, petzte es irgendeiner weiter und ich musste zum Rapport bei Löring antreten“, erklärt Pilz. Dynamo-Manager Bernd Kießling kontaktiert den Mittelfeldspieler. Schnell ist klar, dass „Champi“ und auch der verletzte Kollege Andreas Trautmann bei Fortuna nicht alt werden. Dynamo verhandelt mit Löring über die Rücksendung der beiden Abtrünnigen. Doch der kölsche Patriarch will Kohle sehen. Vor Weihnachten kauft der sächsische Klub Pilz und Trautmann zurück, Matthias Döschner bleibt in Köln. Dynamo zahlt nun dieselbe Ablöse für zwei Spieler, die es vorher für drei Abgänge erhalten hat.
20. März 1991, Dresden
Der Mob regiert im Stadion im neuen Deutschland. Ein Wiedervereinigungsspiel im Leipziger Volksstadion zwischen einer BRD- und einer DDR-Auswahl wurde im Herbst 1990 bereits wegen „Sicherheitsbedenken“ abgesagt. Zu DDR-Zeiten wurden Hooligans als „asoziale Elemente“ klassifiziert und vor Prestigeduellen vorsichtshalber in Gewahrsam genommen. Nun stellen in vielen Oberliga-Spielstätten – auch wegen der mangelhaften Besucherzahlen – gewaltbereite Zuschauer eine gewichtige Gruppe dar. Wie sehr die Anarchie regiert, zeigt sich an diesem Abend im Europapokal der Landesmeister. Vor 11 000 Zuschauern spielt Dynamo gegen Roter Stern Belgrad. Die Lage ist aussichtslos. Dresden hat das Hinspiel 0:3 verloren. Als die Serben in der zweiten Halbzeit mit 2:1 in Führung gehen, wird es unruhig auf den Rängen. Es fliegen Steine, Raketen und Mülltonnen auf das Spielfeld. Hans-Uwe Pilz will beschwichtigen: „Aber wir kamen da gar nicht hin. Die warfen sogar mit Steinen auf uns.“ Das Match wird in der 78. Minute abgebrochen.
18. Mai 1991, Dresden
Ralf Minge gibt eine rauschende Feier. Der 31-Jährige hat genug. Er hat sich eine Spielzeit lang geschunden. So viel Schmerzen, so viel Entbehrungen – alles für die Qualifikation von Dynamo zur Teilnahme an der Bundesliga. Jetzt feiert er in der „Linie 6“ das Ende seine Spielerkarriere – und das offizielle Ende des DDR-Fußballs. Hansa Rostock hat überraschend das Double geholt. Traditionsklubs wie der 1. FC Magdeburg, Sachsen Leipzig und der FC Berlin treten den Gang in die Drittklassigkeit an.
3. August 1991, 15.58 Uhr, Rostock
Florian Weichert sprintet über den Platz im Ostseestadion. Eben hat Stefan Böger den Ball erobert. Vor Beginn der ersten gesamtdeutschen Bundesligasaison galt Hansa Rostock als sicherer Abstiegskandidat. Doch am ersten Spieltag segelt die Hansa-Kogge hart am Wind. Böger ist einen Schritt schneller als sein Gegenspieler Kay Friedmann. Der Ball kommt nach innen. Weichert grätscht hinein, ohne wirkliche Hoffnung, die Kugel noch zu erreichen. Doch eine Laune des Schicksals lässt ihm in diesem Moment Flügel wachsen, er streckt sich, dehnt sich, geht auf volle Körperspannung. Bloß nicht drüber nachdenken. Weicherts Schuhsohle berührt den Ball und lenkt ihn ins Netz. 1:0 für Hansa Rostock gegen den 1. FC Nürnberg. Für Florian Weichert ist es das Tor seines Lebens. Hansa gewinnt mit 4:0. Deutschland ist eine Einheit. Und der Spitzenreiter der Bundesliga heißt für fünf Spieltage Hansa Rostock.
Für Momente blicken alle Augen im Land nach Osten. Da steht er, ein 21-jähriger Fußballspieler, ein Kfz-Schlosser aus Rostock, der seinen Traum lebt. Einen Traum, der keine zwei Jahre zuvor nichts als eine naive Utopie war. Der Traum vom Bundesligastar wird auch für Matthias Sammer, Ulf Kirsten, Thomas Doll, Andreas Thom oder Dariusz Wosz wahr. Auch für Hans-Uwe Pilz – allerdings anders als er sich vorgestellt hat. Er spielt noch vier Jahre mit Dynamo im Oberhaus, ehe er 1995 – am Ende seiner Laufbahn – mit seinem Klub in die zweite Liga absteigt. Andere kriegen vor dem Wechsel in den Westen plötzlich Manschetten. Als Reiner Calmund den Dresdner Ralf Hauptmann nach Leverkusen holen will, sagt dieser ab. Er fürchtet, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Rico Steinmann wechselt 1991 als neuer Star zum 1. FC Köln, doch der Chemnitzer fasst nie richtig Fuß. Er sagt: „So einen Konkurrenzkampf kannte ich aus der DDR nicht.“ Sechs Jahre beim FC erlebt er zumeist aus der Perspektive des Edelreservisten. Auch Florian Weicherts hoffnungsvolle Karriere stagniert nach einem Wechsel. Das letzte Quäntchen Selbstvertrauen, um sich beim HSV durchzusetzen, fehlt ihm. Der Druck ist zu groß. Weichert sagt: „Im Westen fing ich an, sogar unter Schmerzen zu trainieren. Im Osten hatten wir den Beruf Fußballprofi eben nicht gelernt.“ Mit 30 zwingt ihn eine Knieverletzung zum Aufhören.
An diesem Samstag im August 1991 aber scheint es, als sei die Freiheit vollends in der ehemaligen DDR angekommen. Als würde es hinterm Horizont immer weitergehen.