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Kaf­fee­duft in der Luft. Kuchen mit Sahne. Eine gedeckte Tafel. Die Kinder haben ein Geschenk vor­be­reitet. Mut­tern wursch­telt in der Küche. Ein paar Fla­schen Bier hat Hans-Uwe Pilz auch kalt gestellt. Die Gäste können kommen. Es gibt etwas zu feiern. Der Mit­tel­feld­re­gis­seur der SG Dynamo Dresden hat zu seinem ein­und­drei­ßigsten Geburtstag geladen. Doch die Klingel bleibt an diesem Abend stumm. Ist das olle Ding kaputt? Nee, es kommt nur keiner. Denn alle Freunde sind weg­ge­fahren. Haben sich in ihre Trabis, ihre Wart­burgs und Ladas gesetzt, um sich an der Grenze nach Westen in die end­losen Blech­la­winen ein­zu­reihen, die vor den Über­gängen im Stau stehen. Es ist Freitag und seit ges­tern Abend steht fest: Die Grenze ist auf, die Men­schen tanzen in Berlin auf der Mauer. Pilz muss seinen Geburtstag im Dres­dener Plat­tenbau an diesem Tag allein mit der Familie feiern. In diesem his­to­ri­schen Augen­blick zählen Jah­res­tage und ein pri­vates Anliegen wenig. Es ist der 10. November 1989, der Moment des kol­lek­tiven Glücks.

West-Außen­mi­nister Hans-Diet­rich Gen­scher ver­kündet vor dem Schö­ne­berger Rat­haus in Berlin gerade, dass wei­tere Grenz­über­gänge in der Mau­er­stadt geöffnet werden. Deutsch­land feiert den Beginn der Ein­heit wie im Rausch. Das Glänzen in den Augen der Men­schen – im Osten wie im Westen eines Landes, das 40 Jahre lang geteilt war. Der Beginn auch der Ver­ei­ni­gung zweier Fuß­ball­sys­teme. Bis vor­ges­tern bestand für Hans-Uwe Pilz kein Zweifel daran, dass er in drei, vier Jahren bei Dynamo die Fuß­ball­schuhe an den Nagel hängen würde, um irgendwo als Trainer zu arbeiten. So ist es im Arbeiter- und Bau­ern­staat vor­ge­sehen für ver­diente Top-Kicker wie ihn. Viele Fragen bleiben da nicht offen. Pilz greift zum Fla­schen­öffner. Vor­sichtig drückt er den Kron­korken der Bier­fla­sche nach oben. Der Jubilar schenkt seiner Frau und sich das gold­gelb spru­delnde Getränk in zwei Gläser und sagt: „…viel­leicht spiele ich nun doch noch einmal Bun­des­liga.“

5. April 1989, Dresden
Es ist der vor­läu­fige Höhe­punkt in einer Ent­wick­lung, die sich seit einem halben Jahr in der DDR voll­zieht. Schon im Früh­jahr scheint ein Umdenken in den Füh­rungs­etagen des Deut­schen Fuß­ball Ver­bands (DFV) statt­zu­finden: Im Vor­feld des UEFA-Pokal-Halb­fi­nals gegen den VfB Stutt­gart wird den Akteuren von Dynamo Dresden in Aus­sicht gestellt, mit ihren Ehe­frauen zum Aus­wärts­spiel ins Schwa­ben­land reisen zu können. Ein Goodie für den großen Erfolg im Euro­pacup. Visa für die Ehe­leute werden bean­tragt, doch kurz vor der Abreise erklärt der für den Klub zustän­dige Par­tei­se­kretär beim frei­täg­li­chen Poli­tik­un­ter­richt, dass die Spie­ler­frauen doch daheim bleiben müssten. Doch kein Spieler kommt des­halb auf die Idee auf­zu­mu­cken. Zu warm der Kokon, in dem sich die pri­vi­le­gierten Kicker in dem Staat befinden, der sport­liche Erfolge stets auch als Pro­pa­gan­da­in­stru­ment ein­setzt. Fuß­baller haben schon in der Jugend die Mög­lich­keit, zu Spielen und Trai­nings­la­gern ins west­liche Aus­land zu reisen. Nur die wenigsten nutzen dies zur Flucht. Die Bedin­gungen für Ober­li­ga­spieler – die offi­ziell als Ama­teure gelten – sind optimal. Selbst wenn ein Akteur ins­ge­heim von einer dau­er­haften Aus­reise träumt, die Furcht vor Repres­sa­lien gegen­über den Ange­hö­rigen über­wiegt bei den meisten.

23. Juni 1989, Rev­fülöp, Ungarn
Der Keeper des BFC Dynamo Berlin, Bodo Rud­waleit, ver­bringt seinen Som­mer­ur­laub mit Frau und Sohn auf einem Zelt­platz am Balaton. Wäh­rend des zwei­wö­chigen Auf­ent­halts fallen ihm immer wieder selt­same Dinge auf. Leute, die ges­tern noch da waren, waren plötz­lich weg. Auf dem Zelt­platz gab es immer wieder Ansamm­lungen von Men­schen.“ Die DDR ist in Bewe­gung. Seit Mai baut Ungarn die Grenz­an­lagen zu Öster­reich ab. Kurz darauf unter­strei­chen der öster­rei­chi­sche Außen­mi­nister Alois Mock und sein unga­ri­scher Amts­kol­lege Gyula Horn ihre Politik der Ver­stän­di­gung und Rei­se­frei­heit medi­en­wirksam mit der sym­bo­li­schen Durch­tren­nung des Sta­chel­draht­zauns.

4. Sep­tember 1989, Leipzig/​Berlin
In Leipzig schließt sich an die Frie­dens­ge­bete in der Niko­lai­kirche die erste Mon­tags­de­mons­tra­tion an. Gegen­über dem Got­tes­haus liegt der Schuh­laden, in dem die Frau von Lok-Leipzig-Spieler Heiko Scholz arbeitet. Zunächst noch ungläubig, nimmt das Ehe­paar das Treiben auf der Straße wahr. Als die Ver­an­stal­tungen dort immer mehr Zulauf erhalten, muss der Schuh­laden mon­tags bald via behörd­li­cher Anwei­sung bereits um 15 Uhr schließen. Die Spieler von Lok werden in den Sit­zungs­saal am Trai­nings­zen­trum beor­dert. Die Mit­tei­lung an die Kicker lautet: Eine Betei­li­gung an einer Demons­tra­tion ist nicht för­der­lich.“ Auch in Berlin schreitet die Revo­lu­tion mit Sie­ben­mei­len­stie­feln voran. Bei den Par­tien des BFC Dynamo, dessen Vor­sit­zender Stasi-Boss Erich Mielke ist, fällt Bodo Rud­waleit auf, wie die Tri­bünen ihr Gesicht ver­än­dern: Plötz­lich waren die Leute von der Staats­si­cher­heit, mit denen wir beim BFC täg­lich zu tun hatten, nicht mehr so prä­sent. Hatten wohl Wich­ti­geres zu tun.“

4. Oktober 1989, Dresden
Im Zusam­men­hang mit der Aus­reise von DDR-Flücht­lingen über die Prager Bot­schaft werden vier Züge durch den Dresdner Haupt­bahnhof geleitet. Am Bahnhof ver­sam­meln sich 5000 Men­schen, die teil­weise ver­su­chen, gewaltsam in die Wagons zu gelangen. Als die Polizei ein­schreitet und den Bahnhof räumt, kommt es zu Kra­wallen, bei denen Bürger die Polizei mit Pflas­ter­steinen bewerfen und Teile des Bahn­hofs demo­liert werden. Ein Poli­zei­fahr­zeug wird ange­zündet. Viele hun­dert Per­sonen werden fest­ge­nommen und erst tags darauf wieder auf freien Fuß gesetzt. Als es am Haupt­bahnhof brennt, ist auch Dynamo-Spieler Ralf Haupt­mann dabei. Als Mit­glied des Poli­zei­sport­ver­eins ver­steht es sich von selbst, dass er sich nicht am Auf­ruhr betei­ligt. Aber ein biss­chen gucken muss doch gestattet sein. Als Haupt­mann aus einiger Ent­fer­nung den Ereig­nissen zusieht, fragt ein Pas­sant den popu­lären Kicker, der im Zweit­beruf Poli­zei­leut­nant ist, ob er sich im ver­deckten Ein­satz befinde. Haupt­mann: Ich kannte die Ant­wort nicht. Ich war Poli­zist – aber war ich im Dienst?“

5. Oktober 1989, Dresden/​Berlin
Die Par­tei­lei­tung bleibt eine Ant­wort nicht lange schuldig. Frei­tags treten die Spieler von Dynamo wie gewohnt zur Agi­ta­tion im Ver­samm­lungs­raum an. Der Platz­wart fragt den Par­tei­se­kretär, was von der Situa­tion zu halten sei. Der Funk­tionär druckst herum. Doch die Spieler bekommen einen Alarm­plan aus­ge­hän­digt, falls es in den nächsten Tagen wei­terhin zu Aus­schrei­tungen kommen sollte. Minu­tiös ist dort auf­ge­listet, wel­cher Spieler wel­chen Kol­legen anzu­rufen hat, sollte der Fall ein­treten, dass Dynamo-Spieler die Staats­macht beim Kampf gegen die Auf­rührer unter­stützen müssten. Es ist das erste und ein­zige Mal, dass Män­nern wie Torsten Güt­schow, Ralf Minge, Hans-Uwe Pilz, Ulf Kirsten und Mat­thias Sammer bewusst wird, dass sie im Zivil­beruf Poli­zisten sind.

18. Oktober 1989, Karl-Marx-Stadt
Vor drei Tagen hat Egon Krenz Erich Hon­ecker als Staats­rats­vor­sit­zenden ersetzt. Nach dem Vor­bild anderer Städte treffen sich nun auch in der St. Jako­bi­kirche in Karl-Marx-Stadt die Men­schen zu Frie­dens­ge­beten und Dis­kus­sionen. Rico Stein­mann ist an diesem Abend auch unter den Besu­chern. Frei­heit­liche Emp­fin­dungen wollen bei dem Star des FC Karl-Marx-Stadt nicht auf­kommen. Noch immer besteht die Angst, dass Demons­tra­tionen von der Volks­po­lizei gewaltsam auf­ge­löst werden. Wie viele Stasi-Leute haben sich wohl unter die Besu­cher gemischt? Der Natio­nal­spieler ist da, aber auch nicht. Zu groß ist die Angst vor Sank­tionen. Ich habe darauf geachtet, an einer Posi­tion zu stehen, von wo aus mich nicht jeder sehen konnte.“

21. Oktober 1989, Ros­tock
Mit 3:1 schickt Hansa den BFC Dynamo nach Hause, doch auch an der Ostsee ist Fuß­ball längst zur Neben­sache geworden. Seit sich vor zwei Tagen erst­mals Demons­tranten aus der Petri­kirche auf die Straße wagten, ist auch Ros­tock frei­heits­be­wegt. Hansas Rainer Jarohs hat sich nach Spie­lende in seinen Wart­burg gesetzt und ist in die Innen­stadt gefahren, für heute ist eine Demo geplant. Zu Fuß erreicht Jarohs die Lange Straße, dort trifft gerade der Zug aus der Petri­kirche ein. Die Demons­tranten erkennen ihn, sie rufen: Rainer! Komm her, schließ dich uns an!“ Jarohs bleibt stehen, bis auch der Letzte vor­bei­ge­zogen ist. Bis heute macht er sich Vor­würfe: Als normal den­kender Mensch hätte ich mit­gehen müssen.“

Ende Oktober 1989, Berlin
Auf einem Tisch liegen dut­zende Papier­stapel. Ein Büro in der Zen­trale des DFV. Die Funk­tio­näre um Ver­bands­chef Wolf­gang Spitzner stellen die Wei­chen für eine bes­sere Zukunft. Alle Ober­liga- und DDR-Liga-Spieler müssen per Beschluss einen Lizenz­ver­trag unter­schreiben, der den Sta­tuten der FIFA ent­spricht. Nachdem im Juni und Juli in kür­zester Zeit der Ros­to­cker Axel Kruse und die Spieler Jens König, Thomas Weiß und André Köhler von Wismut Aue Par­tien in Schweden zur Flucht in den Westen genutzt haben, will sich der Ver­band gegen einen wei­teren Exodus guter Kicker absi­chern und gleich­zeitig auch Vor­keh­rungen für zukünf­tige Trans­fers von DDR-Spie­lern in den Nicht-Sozia­lis­ti­schen-Wirt­schafts­raum treffen. Denn auch den Funk­tio­nären ist klar: Stars wie Andreas Thom oder Mat­thias Sammer werden mit­tel­fristig nicht zu halten sein. Es könnte also ein wich­tiges Signal für die Öff­nung zum Westen und für all­ge­meine Rei­se­frei­heit sein, wenn DDR-Stars zukünftig auch in anderen Län­dern spielen. Die Vor­sit­zenden der Klubs holen die Ver­träge beim Ver­band ab, um sie in einigen Tage unter­schrieben zurück­zu­bringen. Durch diese kon­zer­tierte Aktion kann plötz­lich kein DDR-Spieler mehr ohne Frei­gabe vom DFV für einen neuen Verein spielen – auch nicht nach der bis dahin übli­chen zwölf­mo­na­tigen Sperre.

9. November 1989, Leipzig
Für man­chen beginnt der alles ent­schei­dende Tag bereits mit einem High­light: Um 7 Uhr mor­gens geht Heiko Scholz zur Fahr­zeug­aus­lie­fe­rung, um dort für 36 500 Ost­mark seinen neuen Wart­burg abzu­holen. Am späten Vor­mittag muss er mit dem Neu­wagen nach Abt­naun­dorf im Nord­osten von Leipzig, wo sich die Natio­nal­mann­schaft trifft. In ein paar Tagen spielt das Team in Wien sein alles ent­schei­dendes WM-Qua­li­fi­ka­ti­ons­spiel gegen Öster­reich. Mit einem Sieg kann sich die DDR für die WM in Ita­lien qua­li­fi­zieren. Am Abend hockt die Mann­schaft in der Sport­schule zusammen, der Fern­seher läuft. Mat­thias Sammer: Stunde um Stunde jagte eine Mel­dung die andere. Rei­se­frei­heit, Geld­um­tausch, Löcher in der Mauer. Men­schen­auf­lauf am Bran­den­burger Tor. Und bei uns knallten die Cham­pa­gner-Korken.“ Nicht jeder Akteur erlebt die Stunden in Abt­naun­dorf ähn­lich gelöst. Immerhin steht die Elf vor dem wich­tigsten Län­der­spiel seit der WM 1974. Die Mag­de­burger Dirk Heyne und Dirk Stah­mann schlum­mern bereits, als die Nach­richt von der Mau­er­öff­nung über die Bild­schirme kommt. Für ihr Leben als Fuß­baller – so glauben sie – hat es keine beson­dere Bedeu­tung mehr, denn die Rou­ti­niers sind schon deut­lich über dreißig und glauben nicht mehr daran, ein Angebot aus dem Westen zu bekommen. Rico Stein­mann geht es anders. Er wird im Dezember erst 22. Er sitzt mit dem Team im Gemein­schafts­raum: Als wir die Bilder von der Grenz­öff­nung sahen, hatten wohl alle jungen Spieler den­selben Gedanken: Dass nun der Traum Bun­des­liga in Erfül­lung gehen könnte …“

10. November 1989, überall in der DDR
Frei­tag­morgen bei der mor­gend­li­chen Übungs­ein­heit von Hansa Ros­tock fehlen einige Spieler, die noch in der Nacht nach Berlin gefahren sind. Trainer Werner Voigt gibt seinem Team bis Montag frei. Jung- star Flo­rian Wei­chert ruft seinen Schwie­ger­vater an und erbet­telt dessen Tra­bant. Im Rat­haus von Mölln holen er und seine Frau Susi am Nach­mittag ihr Begrü­ßungs­geld ab, um in Lübeck ein Kuschel­tier für den Sohn zu kaufen. Als sie in Rat­ze­burg an einer Kreu­zung nach dem Weg fragen, schenkt ein Pas­sant ihnen einen Atlas. Das Ehe­paar muss genau auf­passen, dass es sich nicht zu weit von der Grenze ent­fernt, denn im Westen gibt es keinen Sprit für ihr DDR-Fahr­zeug. 

Ralf Haupt­mann, Sven Kmetsch und Rocco Milde sitzen der­weil in einem Mos­ko­witsch auf der Auto­bahn bei Plauen. Nichts geht mehr. Ein unend­li­cher Stau vor der deutsch-deut­schen Grenze. Die drei Spieler von Dynamo Dresden sind auf dem Weg nach Bay­reuth. Aus dem Kas­set­ten­re­korder dudelt pau­senlos das Album Bunte Repu­blik Deutsch­land“ von Udo Lin­den­berg. Hoch­stim­mung.

DDR-Rekord­na­tio­nal­spieler Joa­chim Streich absol­viert eine fünf­tä­gige Trai­ner­hos­pi­tanz beim PSV Eind­hoven. Beim Mor­gen­trai­ning wird der Alt­in­ter­na­tio­nale von den Nie­der­län­dern mit der Neu­ig­keit begrüßt: Die Mauer ist auf. Streichs Rück­flug nach Berlin-Schö­ne­feld geht am nächsten Tag. Doch die Maschine der DDR-Linie Inter­flug“ ver­passt den Anschluss in Ams­terdam wegen Nebels. Ein Mit­ar­beiter des Wis­sen­schaft­li­chen Zen­trums“, der den Jung­trainer auf seiner Reise begleitet, sagt: Es geht noch ein Flug nach Tegel – lass uns den nehmen.“ Reisen zum West­ber­liner Flug­hafen sind DDR-Bür­gern bis­lang ver­boten. Aber was zählt das jetzt noch? Die beiden nehmen den Flug. Als Streich später am Check­point Charlie in die DDR ein­reisen will, begrüßt ihn bereits ein freund­li­cher Grenzer mit den Worten: Ach, Herr Streich, waren Sie auch schon drüben.“

Jörg Neu­bauer, der Pres­se­spre­cher des DFV, sitzt in einer Maschine nach Wien. Er ist unter­wegs, um vom Öster­rei­chi­schen Ver­band 9000 Ein­tritts­karten für das Spiel am kom­menden Mitt­woch abzu­holen. Sie sollen in den freien Ver­kauf gehen – schließ­lich hat jetzt jeder DDR-Bürger theo­re­tisch die Mög­lich­keit, zum Qua­li­fi­ka­ti­ons­spiel zu reisen. Doch die Bevöl­ke­rung hat der­zeit anderes im Kopf. Nur 7367 Gäs­te­karten werden ver­kauft.

Samstag, 11. November 1989, überall in der DDR
Am Otto-Gro­te­wohl-Ring in der Ros­to­cker Süd­stadt startet Rainer Jarohs seinen weißen Wart­burg. Auf der Rück­bank sitzen Sohn Daniel und Tochter Sandy. Jarohs über­nimmt das Steuer, neben ihm rutscht auf­ge­regt seine Frau Ange­lika auf dem Bei­fah­rer­sitz hin und her. Eine Wie­der­ver­ei­ni­gung hatte ich längst abge­hakt“, sagt Jarohs. Über Feld­wege im Zick­zack­kurs erreicht die Familie die Grenz­kon­trollen bei Rat­ze­burg. Dort werden die Neu­an­kömm­linge jubelnd emp­fangen, wild­fremde Men­schen werfen Geschenke durch die Auto­fenster. Auf dem Bei­fah­rer­sitz wird Ange­lika Jarohs von ihren Gefühlen über­wäl­tigt und fängt an zu weinen.

BFC-Libero Frank Rohde steht der­weil an der Ste­glitzer Schloss­straße in Berlin und traut seinen Augen nicht. Eigent­lich wollte er ein ruhiges Wochen­ende in einem Pots­damer Hotel ver­leben – aber seine Frau hat darauf beharrt, end­lich einen Trip nach Westen machen zu dürfen. Er hat seinen Kin­dern ein Eis gekauft und beob­achtet, wie seine Lands­leute vom Kauf­rausch erfasst werden. Die Läden hatten überall diese Grab­bel­kisten auf­ge­stellt – erschre­ckend, wie nun alle dar­über her­fielen.“

15. November 1989, Wien
Auch wenn der DDR-Ver­band ver­sucht hat, die aktu­ellen Nach­richten von den Natio­nal­spie­lern fern­zu­halten – es hat nicht gereicht, um die Kon­zen­tra­tion voll­ends auf­recht­zu­er­halten. Schon vor dem Spiel drü­cken sich im Quar­tier in Lindabrunn Spie­ler­be­rater in der Hotel-Lobby herum und ver­su­chen, mit den Sport­lern ins Gespräch zu kommen. Drei Tore von Toni Polster ent­scheiden die Partie im Pra­ter­sta­dion. Rico Stein­mann ver­schießt einen Elf­meter und fragt sich: Hätte ich den rein­ge­macht, wenn die Mauer nicht gefallen wäre?“

Die Männer von Eduard Geyer schlei­chen traurig vom Platz. Wäh­rend des Spiels haben sich nicht nur auf dem Rasen außer­ge­wöhn­liche Dinge ereignet: Auf der VIP-Tri­büne halten bereits Ver­treter von Borussia Dort­mund, Bayern Mün­chen und Werder Bremen Aus­schau nach inter­es­santen Spie­lern. Lever­kusen-Manager Reiner Cal­mund, der in Köln dem Spiel BRD gegen Wales bei­wohnt, hat seine Scouts Dieter Herzog und Man­fred Ziegler geschickt – und noch einen Mann, von dem Calli“ sagt: Wenn der vorne aus der Disco raus­fliegt, klet­tert er durchs Kel­ler­fenster wieder rein.“ Wolf­gang Kar­nath hat sich Zutritt zum Innen­raum des Pra­ter­sta­dions ver­schafft. Sein Auf­trag: Bring mir die Kon­takt­daten zu Ulf Kirsten, Mat­thias Sammer und Andreas Thom.“ Cal­mund behauptet, er habe den Scout mit einem Foto­gra­fen­leib­chen dort ein­ge­schleust, Kar­nath selbst sagt, er sei mit­tels seines Sani­tä­ter­passes aus Bun­des­wehr­zeiten an den Ord­nern vor­bei­ge­kommen.

Als Mat­thias Sammer in der 79. Minute für Uwe Wei­de­mann aus­ge­wech­selt wird, sitzt neben ihm auf der Bank plötz­lich ein stäm­miger Mann mit buschigem Haar, den er noch nie gesehen hat. Der sagt: Schönen Gruß von Herrn Cal­mund, wir wollen Sie nach Lever­kusen holen. Lassen Sie uns nach dem Spiel im Hotel Lindabrunn reden.“ Als der Schluss­pfiff ertönt, ver­lässt Andreas Thom mit hän­gendem Kopf das Spiel­feld, als ihm plötz­lich der­selbe Mann – einer, der wie ein Foto­graf aussah“ – auf die Schulter tippt. Man ver­tagt sich auf später an der Hotelbar.

Unter die Ent­täu­schung der ver­passten WM-Chance mischt sich schon bald die Hoff­nung auf eine neue, ganz andere Zukunft. In Lindabrunn bekommt Kar­nath, was er will. Die exakte Adresse von Andreas Thom in Berlin unweit der Jan­no­witz­brücke: Holz­markt­straße, Block, Woh­nung. An den Klin­geln der dor­tigen Plat­ten­bauten stehen keine Namen. Cal­mund braucht also exakte Angaben. Auch mit Kirsten und Sammer beraumt Kar­nath ein Ver­hand­lungs­ge­spräch an.

In der Lobby des Sport­ho­tels ist jetzt ohnehin viel los. Rico Stein­mann erhält eine Nach­richt von Werder-Manager Willi Lemke, ob man sich auf ein Gespräch zusam­men­setzen könne. Auch Rainer Ernst steht im Fokus der mehr oder weniger seriösen Leute, die sich im Mann­schafts­quar­tier ein­finden. Ernst: Abends im Bett über­legte ich, wo mein Weg jetzt hin­führt.“

16. November 1989, Ber­lin/­Karl-Marx-Stadt
Man­cher muss nicht lange über­legen. Auf einem der bil­ligen Plätze der Interflug“-Maschine, die am Mittag mit der DDR-Mann­schaft zurück nach Berlin fliegt, sitzt Wolf­gang Kar­nath. In einer Lufthansa“-Maschine aus Köln hat Reiner Cal­mund Platz genommen, der, getreu seines Mottos Nicht die Großen fressen die Kleinen, son­dern die Schnellen die Lang­samen“, keine Zeit zu ver­lieren hat. Im KaDeWe kauft er eine Schachtel Pra­linen und einen Blu­men­strauß für Tina Thom, ein paar Spiel­sa­chen für die Tochter des Paars. Andreas Thom sagt: Später wurde immer von einer Eisen­bahn geschrieben. Die suchen Cal­mund und ich bis heute.“
Beim Treffen wirkt der soeben aus Wien zurück­ge­kehrte Spieler auf den gemüt­li­chen Rhein­länder nervös. Cal­mund: Kein Wunder. Mir war sofort klar, dass in dieser Woh­nung die Wände rie­sige Ohren hatten.“ Der Bayer-Manager fasst sein Anliegen in sach­liche Worte, um unsicht­bare Mit­hörer nicht auf dumme Gedanken zu bringen: Andreas, das ist eine offi­zi­elle Sache. Ich möchte nur wissen, ob du dir vor­stellen kannst, für Bayer Lever­kusen zu spielen. Wenn ja, bin ich morgen früh beim Ver­band und lasse die Drähte glühen.“ Als Cal­mund gegangen ist, ruft Thom beim Kol­legen Frank Rohde durch. Wuschi, der Cal­mund will mich haben, kann ich vor­bei­kommen?“ Der stäm­mige Abwehr­boss ist für viele in der Mann­schaft des BFC ein väter­li­cher Freund. Die halbe Nacht wälzen sie Gedanken, wie nun vor­zu­gehen sei.

Als Rico Stein­mann in Karl-Marx-Stadt seine Woh­nung auf­schließt, kommt seine Lebens­ge­fährtin auf ihn zuge­stürmt. Das Telefon klin­gelt in einer Tour. Spie­ler­be­rater wollen sich mit ihm treffen. Fast ein halbes Dut­zend – und fast jeder wollte sofort einen Bera­ter­ver­trag unter­schrieben haben.“ Einer gibt sich sogar als offi­zi­eller Ver­treter des 1. FC Köln aus. Er legte mir einen Ver­trag mit kon­kreten Zahlen vor“, erin­nert sich Stein­mann. Später stellt sich heraus, dass der Mann über­haupt kein Mandat vom FC besitzt. Als Stein­mann hand­schrift­liche Kor­rek­turen an dem ver­meint­li­chen Kon­trakt vor­nimmt, wertet der angeb­liche Berater dies als Ver­ein­ba­rung und droht mit einem Anwalt, sollte Stein­mann sich nicht an die vor­ge­legte Ver­ein­ba­rung halten oder einen anderen Berater zu Rate ziehen. Stein­mann: So wie die Zahlen war auch diese Dro­hung völlig aus der Luft gegriffen.“

17. November 1989, Berlin
Reiner Cal­mund hat einen vollen Ter­min­ka­lender. Er muss beim Deut­schen Turn- und Sport­bund (DTSB) ein förm­li­ches Anschreiben wegen des Thom-Trans­fers ein­rei­chen, auch, um den Spieler zu beru­higen, dass alles den behörd­li­chen Weg geht. Am Abend trifft er im Grand Hotel Ulf Kirsten und Mat­thias Sammer, die aus Dresden anreisen. Vor­be­halt­lich einer Frei­gabe durch den DDR-Ver­band bekommt er am Ende des Tref­fens von beiden eine Unter­schrift unter einen Vor­ver­trag.

Ende November 1989, Berlin
Bodo Rud­waleit macht mit der Familie einen West­aus­flug. Ziel: die Neu­köllner Karl-Marx-Straße. Im Rat­haus holen sie sich ihr Begrü­ßungs­geld ab. Wir wussten ganz genau, was wir kaufen: Ein Paar Ten­nis­schuhe für meinen Sohn.“ Der Keeper hat ein biss­chen West­geld, das er schwarz getauscht hat. In der Kur­fürs­ten­straße ent­deckt er ein Schild: Autos zu ver­kaufen“. Kurz über­legt er, ob er sich einen 3,2 Liter Ford Gra­nada zulegen soll, dann kauft er den acht Jahre alten Mer­cedes 280 in braun-metallic für 6500 DM. Seinen Lada Niva, den er erst ein Jahr vorher mit Hilfe des BFC gekauft hat, gibt er in Zah­lung. Für das 36 500 Ost­mark teure Modell bekommt er noch 2000 West­mark.

Ende November 1989, Berlin
Günter Netzer schwärmt: Das sind ja traum­hafte Zustände bei Ihnen.“ Als Ver­treter des Schweizer Sport­ver­mark­ters CWL ist Netzer zum DFV gekommen, um mit dem Ver­band über die TV-Rechte und Ban­den­wer­bung in der Ober­liga zu ver­han­deln. Es ist für die Klub­chefs die erste Begeg­nung mit der Markt­wirt­schaft. Und wie in der DDR üblich, haben sich alle Vor­sit­zenden der Ver­eine pünkt­lich zum Termin an einem Tisch ver­sam­melt, um Net­zers Vor­trag zu lau­schen. In anderen Län­dern muss er mühsam jeden Klub-Prä­si­denten ein­zeln auf­su­chen. Die Ideen der CWL sind inter­es­sant – doch zu diesem Zeit­punkt kann sich der Ver­band nicht zu einem Ver­trags­ab­schluss durch­ringen. Erst im März 1990 gelingt es der CWL, mit Energie Cottbus den ersten pri­vaten Ver­trag über Mar­ke­ting­rechte abzu­schließen.

5. Dezember 1989 Berlin/​Köln
Frank Rohde und Andreas Thom fahren mit dem Taxi vom Jahn­sport­park im Prenz­lauer Berg nach Tegel. Vor drei Wochen noch ein Ding der Unmög­lich­keit. Der BFC-Libero begleitet den umgarnten Stürmer nach Köln, wo Thom von Ulli Potofski für die RTL-Sen­dung Anpfiff“ inter­viewt werden soll. An Bord der Maschine ist ein alter Bekannter. Rohde: Calli hat den Kleenen in Mann­de­ckung genommen, der hat an Andy keine Luft mehr gelassen.“ Cal­mund hat längst begriffen, dass Rohde großen Ein­fluss auf Thom besitzt. Im Westen geht der Manager mit den beiden Kickern in ein Sport­ge­schäft und beginnt, große Taschen zu füllen. Herr Cal­mund, lassen Sie das, ich bin nicht käuf­lich“, zischt Rohde den bemühten Bayer-Funk­tionär an.

9. Dezember 1989, Berlin
DFV-Pres­se­spre­cher Jörg Neu­bauer sitzt im Wohn­zimmer der Thoms in der Holz­markt­straße. Tina Thom hat ihm einen Kaffee gemacht. Gemeinsam warten sie auf die Rück­kehr des BFC-Spie­lers aus Frankfurt/​Oder, wo der Haupt­stadt­klub an diesem Abend sein Pokal-Vier­tel­fi­nale mit 0:2 ver­loren hat. Als Andreas Thom nach Hause kommt, über­bringt Neu­bauer die freu­dige Nach­richt. Der DFV ist sich mit Bayer Lever­kusen über eine Ablöse von 2,8 Mil­lionen Mark einig geworden. Der Groß­teil der Summe wird an den BFC gehen, ein kleiner Teil dieser ersten Trans­fer­summe in der Geschichte der DDR wan­dert in die Kassen des Gesund­heits­we­sens. Unter die Freude mischt sich bei den Thoms auch ein Hauch von Abschieds­me­lan­cholie. In drei Tagen wird der Deal im Grand Hotel mit den Bayer-Granden besie­gelt. Nun gibt es kein Zurück mehr.

20. Dezember 1989, Dresden
Auf dem Platz vor der Frau­en­kirche hält Helmut Kohl eine gefei­erte Rede. Ein Vor­bote der bal­digen Wie­der­ver­ei­ni­gung. Später am Abend sitzt der Kanzler mit den Spitzen des Bayer-Kon­zerns zusammen und drängt darauf, von den Trans­fer­plänen wei­terer Spit­zen­spieler vor­erst Abstand zu nehmen: Über­legen Sie, was dies für Folgen für das Image der Bayer AG haben wird. Sie können die DDR nicht ein­fach so leer­kaufen.“

22. Dezember 1989, Prien
Am Chiemsee hat Reiner Cal­mund seine Win­ter­re­si­denz auf­ge­schlagen. Dorthin kommen Familie Kirsten und Mat­thias Sammer, die gemeinsam im Lada anreisen. In den Gesprä­chen kommt die Runde vom Äst­chen aufs Stöck­chen. Ulf Kirsten offen­bart sogar, dass er als IM bei der Staats­si­cher­heit geführt wird. Cal­mund inter­es­siert die Ver­gan­gen­heit der Spieler nicht, er führt keine mora­li­schen Dis­kus­sionen. Er deutet an, dass er wegen des Kohl-Erlasses von den Vor­ver­trägen Abstand nehmen wird. Sammer gibt zu, dass er sich bereits mit dem VfB Stutt­gart ver­stän­digt. Der Bayer-Manager macht im Bei­sein von Kar­nath und Kirsten eine Hand­be­we­gung, die das Zer­reißen eines Papiers andeutet. Kirsten signa­li­siert, dass er gerne zum VfL Bochum wech­seln würde.

26. Dezember 1989, Berlin
Der poli­ti­sche Wind hat sich gedreht. Auch den Fuß­bal­lern des BFC bleibt das nicht mehr ver­borgen. Beim tra­di­tio­nellen Weih­nachts­tur­nier in der Werner-See­len­binder-Halle fühlt sich Frank Rohde fast wie Frei­wild. Dass der Haupt­stadt­verein bei den Fans auf­grund seiner Ver­bin­dung zur Stasi in der DDR nicht beliebt ist, weiß der Abwehr­spieler. Doch der Hass eska­liert an diesem Tag. Durch die Fang­netze werden die Spieler von Zuschauern bespuckt. Stasi-Schwein“ ist an diesem Tag eine der net­teren Belei­di­gungen, die der Libero hört.

6. Januar 1990, West­deutsch­land
Rainer Ernst landet am Düs­sel­dorfer Flug­hafen. Der Ber­liner ver­han­delt seit einigen Wochen mit dem BVB. Manager Michael Meier emp­fängt den BFC-Kicker am Gate. Im Mer­cedes geht es nach Dort­mund. Meier heizt mit 240 km/​h über die Auto­bahn und fängt an, mit der rechten Hand das Auto­te­lefon zu bedienen. Ernst wird Angst und Bange, sein am Ber­liner Flug­hafen geparkter Wart­burg fährt nur 130. Er über­nachtet im BVB-Mann­schafts­hotel und spricht dort mit Coach Horst Köppel. Ich wollte raus, er wollte mich haben. Wir wurden uns schnell einig.“ Der BFC-Spieler wird hofiert, schleckt mit Prä­si­dent Gerd Nie­baum im Möwen­pick ein Eis. Im Ber­liner Palast­hotel soll in einigen Tagen der Deal per­fekt gemacht werden.

10. Januar 1990, Berlin
In der Bild“ erscheint ein Inter­view mit Rainer Ernst. Darin gibt der wech­sel­wil­lige Spieler zu Pro­to­koll: Ich habe viele meiner Tore auf Video. Und bei man­chen Elf­me­tern muss ich im Nach­hinein schmun­zeln.“ In den Augen der BFC-Bosse stellt Ernst damit die gewon­nenen Meis­ter­titel in Frage, denn mit seiner Aus­sage nährt der Spieler das Gerücht, Par­tien des Rekord­meis­ters seien regel­mäßig mani­pu­liert worden. Der BFC geht dar­aufhin nicht mehr auf das Angebot der Dort­munder ein. Ernst bekommt keine Frei­gabe erteilt. Statt sofort für rund 2,2 Mil­lionen Mark zu wech­seln, wird Ernst erst im Sommer für 750 000 Mark nach Kai­sers­lau­tern trans­fe­riert.

In diesen Tagen wird auch ein wei­terer Ost-West-Deal per­fekt gemacht. Nachdem Cal­mund Mat­thias Sammer aus Staats­räson aus seinen Ver­pflich­tungen gegen­über Bayer 04 ent­lassen hat, unter­schreibt der Rot­schopf beim VfB Stutt­gart. 1,8 Mil­lionen Mark Ablöse nimmt eine Dele­ga­tion von Dynamo in den Tagen darauf aus Stutt­gart in bar in einer Tasche mit. Für Trans­ak­tionen dieser Art gibt es in der DDR weder ein gel­tendes Steu­er­recht, noch ent­spre­chende Konten. Wei­tere Abma­chungen in dem Ver­trag sind ein Abschieds­spiel für Sammer, das nie zustande kommen wird, sowie ein Mann­schaftsbus für die Dresdner. VfB-Präses Ger­hard Mayer-Vor­felder macht es sich leicht: Er schickt ein gebrauchtes Lea­sing-Fahr­zeug mit bezahlten Raten für einen Zeit­raum von drei Monaten. Wei­tere Raten gehen zu Lasten von Dynamo.

19. Januar 1990, Dresden
Hans-Uwe Pilz tritt zu einem Ver­trags­ge­spräch beim Dynamo-Vor­sit­zenden Alfons Saupe an. Dem 31-jäh­rigen Mit­tel­feld­spieler wird eröffnet, dass er bei den Pla­nungen keine Rolle mehr spielt. Zu der Erkenntnis, dass nichts mehr wie vorher ist, kommen in diesen Tagen vor Rück­run­den­start viele gestan­dene DDR-Spieler. Bis vor einigen Wochen lebten sie in dem Bewusst­sein, dass sie nach der Kar­riere Klub- oder Ver­bands­trainer würden. Doch die über­fall­ar­tige Markt­wirt­schaft zwingt sie zum Umdenken. Über Ulf Kirsten sucht Champi“ Pilz den Kon­takt zu Wolf­gang Kar­nath, der anfängt, den Markt für den aus­ge­mus­terten Leis­tungs­träger zu son­dieren. Jean Löring, Mäzen von For­tuna Köln, will ein Schnäpp­chen auf dem neuen Markt machen. Sein Trainer, Jupp Ten­hagen, hält Pilz und dessen Team­kol­legen Andreas Traut­mann und Mat­thias Dös­chner für geeignet.

20. Februar 1990, Berlin
Der BFC Dynamo Berlin benennt sich in FC Berlin um. Mit dem Stasi-Image des BFC ist es schwer, Spon­soren an Land zu ziehen. Durch die Auf­lö­sung des Minis­te­riums für Staats­si­cher­heit, dem Träger des Ver­eins, ver­liert der BFC seine Exis­tenz­grund­lage. Der Kapi­ta­lismus ist längst auch in der Ober­liga ange­kommen. Überall im Land haben drei Tage vor Rück­run­den­start Geld­geber – längst nicht nur seriöse – Zugang zu den Ver­einen erhalten. Die Spieler der Top-Klubs bekommen nun auch harte West­wäh­rung auf ihr DDR-Gehalt gezahlt: In Dresden erhält jeder Spieler ab dem Früh­jahr 1000 D‑Mark zusätz­lich zum Ein­kommen. Auf der Brust wirbt das west­deut­sche Ver­sand­haus Klingel“ für eine sechs­stel­lige Summe. Auch Rico Stein­mann vom FC Karl-Marx-Stadt erhält in der Rück­serie Geld von einem Sponsor. Mit seiner Frau zieht er aus der gemein­samen Zwei­raum­woh­nung in ein kleines Häus­chen.

10. März 1990, Ros­tock
Uwe Reinders sitzt auf der Rück­bank einer Limou­sine und fährt durch Ros­tock. Schon bald wird fest­ge­legt werden: Durch die Zusam­men­füh­rung der Ober­liga und der Bun­des­liga können nur zwei DDR-Klubs das Ober­haus errei­chen – fünf wei­tere qua­li­fi­zieren sich für die zweite Liga. Das ist das Mini­mal­ziel für Ros­tock. Dafür braucht der Hansa-Vor­sit­zende Robert Pischke einen Trainer mit Bun­des­liga-Know-how. Bei den Ver­hand­lungen lässt sich Reinders bau­ern­schlau neben dem Grund­ge­halt auch eine Meis­ter­schafts­prämie in den Ver­trag schrei- ben. Pischke sagt: Mensch, wir haben nicht nur einen guten, son­dern auch einen lus­tigen Trainer geholt.“ Reinders drängt des­wei­teren auf eine Prämie im Falle des Pokal­siegs und beim Tri­umph im Euro­pa­pokal. Heute sagt er: Die kannten sich mit Prä­mien über­haupt nicht aus, rech­neten allen­falls mit einem Platz im Mit­tel­feld der Ober­liga, also haben sie unter­schrieben.“

April 1990, Auto­bahn Hamburg/​Berlin/​Dresden
Die A 24 ist eine Renn­strecke. Die Piloten an diesem Tag heißen Ralf Minge, Ralf Haupt­mann oder Torsten Güt­schow. Das Ham­burger Auto­haus Bur­mester spen­diert Dynamo Dresden dreißig blaue Audi 80“-Limousinen. Auf dem Fahr­zeug auf­ge­druckt ist der Slogan: Dyna­mi­scher geht’s nicht!“ Das Motto für eine bes­sere Zukunft – oder schon das Pfeifen im Walde? Sogar die Num­mern­schilder sind ein­heit­lich: Der Prä­si­dent fährt mit dem Kenn­zei­chen DD-DY‑1. Die Nummer DD-DY‑4, die eigent­lich dem Trainer vor­be­halten ist, hat sich frech Tor­jäger Torsten Güt­schow gesi­chert.

25. April 1990, Berlin/​Dresden
Ulf Kirsten ist vor dem Absprung aus Dresden. Er steht nun bei Borussia Dort­mund im Wort. Manager Michael Meier aber lässt sich Zeit bei den Ver­hand­lungen. Er hat keine Eile, denn er hat die Zusage von Cal­mund auf ein Vor­kaufs­recht. Am Tag nach dem Freund­schafts­spiel der DDR in Schott­land erhält Calli“ jedoch einen Anruf von Bayer-04-Prä­si­dent Gert-Achim Fischer: Wir können Kirsten doch holen. Die Kon­zern­spitze gibt grünes Licht.“ In Berlin-Schö­ne­feld fängt der Bayer-Impres­sario den Natio­nal­stürmer nach der Lan­dung der Maschine aus Schott­land ab und bug­siert ihn in ein Auto. Cal­mund weiß: Jetzt spring ich in die Scheiße! Egal!“ Auf der Auto­fahrt nach Dresden bear­beiten Cal­mund und Berater Kar­nath den Stürmer so lange, bis er von seiner Zusage beim BVB Abstand nimmt und in Lever­kusen unter­schreibt. Kurz darauf stehen Dynamo-Manager Dieter Kieß­ling und Bus­fahrer Rainer Nikol im Rhein­land auf der Matte. Sie holen 3,75 Mil­lionen Mark Ablöse in bar auf der Bayer-Geschäfts­stelle ab. Noch ein­ge­schweißt lie­fert ein Secu­rity-Ser­vice die Scheine in Cal­munds Arbeits­zimmer an. Kieß­ling erin­nert sich später: Wir trans­por­tierten das viele Geld im Audi 80 durch Deutsch­land. Mir stehen noch heute die Schweiß­perlen auf der Stirn.“

28. April 1990, Köln
Reiner Cal­mund besucht eine Sport-Gala in Köln. Im Moment gelingt ihm ein­fach alles. Bei der Tom­bola gewinnt die rhei­ni­sche Froh­natur ein Auto. Als er dort BVB-Manager Michael Meier trifft, feuert der ehe­ma­lige Klos­ter­schüler eine Kano­nade aus Schimpf­wör­tern auf ihn ab, dass selbst dem sonst so red­se­ligen Geschäfts­mann für einen Moment die Spucke weg­bleibt. Cal­mund aber gibt zu: Im umge­kehrten Fall wäre es nicht beim Tob­suchts­an­fall geblieben. Ich hätte die Türen der Geschäfts­stelle ein­ge­treten und wäre hand­greif­lich geworden.“

26. Mai 1990, überall in der DDR
Die vor­letzte Ober­liga-Saison der Geschichte endet. Das Double holt Dynamo Dresden. Die West­ver­eine haben sich im Osten reich­lich bedient. Nach der Saison ver­lassen Mat­thias Sammer, Ulf Kirsten, Hans-Uwe Pilz, Andreas Traut­mann und Mat­thias Dös­chner Dynamo gen Westen. Uwe Wei­de­mann aus Erfurt kickt fortan beim 1. FC Nürn­berg, Dirk Schuster ver­lässt Mag­de­burg zugunsten von Ein­tracht Braun­schweig. Der FC Berlin wird in Zukunft ohne Frank Rohde und Thomas Doll aus­kommen müssen, die zum HSV wech­seln. Rainer Ernst spielt ab der kom­menden Saison beim 1. FC Kai­sers­lau­tern. Rico Stein­mann vom Vize­meister FC Karl-Marx-Stadt kann nur durch eine deut­liche Gehalts­auf­bes­se­rung im Osten gehalten werden.

28. Mai 1990, Ros­tock
Ehe die Treib­jagd der West-Manager auf wei­tere Spieler beginnt, will Hansa Ros­tock seine jungen Talente mit Ver­trägen aus­statten. Einer nach dem anderen wird vom Trai­nings­platz in das Büro des Vor­sit­zenden Pischke gerufen. Flo­rian Wei­chert hat seinen Termin um 10 Uhr mor­gens. Pischke bietet ihm 2500 D‑Mark monat­li­ches Grund­ge­halt an. Eine Menge Geld für den gelernten Kfz-Mecha­niker. Als der Klub­chef merkt, dass der Jung­star zau­dert, zückt er ein Bündel Geld­scheine und legt nach und nach Tau­sender auf den Tisch: Und wenn du diesen Ein-Jahres-Ver­trag jetzt direkt unter­schreibst, kriegst du noch … acht‑, neun‑, zehn­tau­send Mark oben­drauf.“ Wei­chert unter­zeichnet. Am nächsten Tag fährt er mit dem Bar­geld und seinem DDR-Spar­buch im Tra­bant des Schwie­ger­va­ters nach Lübeck zu einem Auto­händler. Da steht ein weißer Peu­geot 309 auf dem Park­platz. 12 000 Mark. Wei­chert han­delt nicht, er zahlt gleich in bar.

2. Juli 1990, Ros­tock
Auf dem Gelände von Hansa Ros­tock an der Koper­ni­kus­straße stellt sich die Mann­schaft wie gewohnt bei Trai­nings­be­ginn in einer Reihe an der Außen­linie auf. Tags zuvor hat Uwe Reinders seinen Dienst an der Ostsee ange­treten. Er fragt Co-Trainer Jürgen Decker, was das zu bedeuten habe. Der sagt: Trainer, die warten auf Sie.“ In der DDR ist es üblich, eine Übungs­ein­heit mit dem Sport­gruß zu beginnen. Reinders soll an das Team gewandt rufen: Wir beginnen unsere Übung mit einem ein­fa­chen Sport …“ Die Spieler voll­enden dar­aufhin mit: „… frei!“ Reinders betritt den Rasen und mus­tert seine brav auf­ge­reihte Mann­schaft. Ist hier irgendwo ein General in der Nähe, oder was?“, raunzt der 35-Jäh­rige. In Zukunft laufen Trainer und Mann­schaft gemeinsam auf den Trai­nings­platz, in eine Reihe stellt sich nie­mand mehr.

17 Uhr. Trai­ning­sende. Reinders ergreift das Wort: Gut trai­niert. Jetzt lasst euch behan­deln, geht duschen und in die Sauna. Um 19 Uhr könnt ihr nach Hause.“ Kapitän Juri Schlünz sieht sich zu einer Ant­wort gezwungen: Trainer, ich muss bis 18 Uhr mein Kind abholen, meine Frau hat Spät­schicht.“ Der West­deut­sche ver­steht die Welt nicht mehr, zumal Schlünz bei­leibe kein Ein­zel­fall ist: Das ändert sich ab morgen. Sagt zuhause Bescheid, ab heute ver­dient ihr das Geld. Eure Frauen brau­chen nicht mehr arbeiten zu gehen.“ Noch steht die Mann­schaft durch­ge­schwitzt auf dem Platz. Reinders sagt: Männer, von nun an bin ich Tag und Nacht für euch da. Ihr könnt mich jeder­zeit anrufen, hier ist meine Nummer.“ Wieder tritt Juri Schlünz vor: Ich muss noch was beichten.“ Die meisten aus der Ros­to­cker Mann­schaft besitzen kein Telefon.

Juli 1990, Tegernsee
Dariusz Wosz, gerade 21 Jahre alt geworden, weilt für ein paar Tage mit seiner Frau am See. Das Manage­ment des VfL Bochum hat ein­ge­laden. Der Verein aus dem Ruhr­ge­biet bekundet großes Inter­esse an einer Ver­pflich­tung des Spie­lers vom Hal­le­schen FC. Der Manager hält Wosz einen weißen Zettel vor die Nase. Er soll blanko unter­schreiben, die Moda­li­täten später ein­ge­fügt werden, damit der Wechsel mög­lichst schnell über die Bühne gehen kann. Wosz heute: Ein Rie­sen­fehler. Damals habe ich allen blind ver­traut und mir gesagt: Das Schlimmste, was pas­sieren kann, ist, dass ich in der Bun­des­liga spielen muss.“

Doch dann meldet sich der VfL ein halbes Jahr nicht mehr. Wosz ist mitt­ler­weile nicht mehr an einem Transfer inter­es­siert. Das Talent bekommt andere Ange­bote, aus der Bun­des­liga und aus dem Aus­land. Eines Tages steht plötz­lich ein Wagen mit Bochumer Kenn­zei­chen auf dem HFC-Park­platz. Wosz will sich ver­ste­cken, doch der Mann aus dem Westen kommt schon auf ihn zu. Ich will dir was zeigen.“ Er öffnet den Kof­fer­raum des Autos. Darin befindet sich ein Koffer mit 50 000 D‑Mark. Schönen Gruß, richten Sie Ihren Auf­trag­ge­bern aus, ich bin nicht käuf­lich“, sagt Wosz knapp und lässt den Geld­boten stehen. Schließ­lich wird die Ange­le­gen­heit vor dem DFB-Gericht in Frank­furt geklärt. Der 22-Jäh­rige muss am Ende nach Bochum gehen – der Hal­le­sche FC erhält 1,2 Mil­lionen D‑Mark als Trans­fer­erlös.

1. Juli 1990, Braun­schweig
Die Ein­tracht ver­pflichtet als Trainer eine Legende: Joa­chim Streich, 102 Län­der­spiele für die DDR, Euro­pa­po­kal­sieger mit dem 1. FC Mag­de­burg. Bis zum letzten Spieltag der Vor­saison hat er als Coach seines Stamm­ver­eins um die Ober­li­ga­meis­ter­schaft mit­ge­spielt. Ein guter Fang für den Zweit­li­gisten. Doch die Ver­pflich­tung des ersten Ost-Trai­ners im Westen zieht Pro­bleme nach sich: Die Belas­tung wäh­rend der Ein­heiten ist wesent­lich höher, als West­profis gewohnt sind. Wäh­rend Streichs Vor­gänger Uwe Reinders der­zeit in Ros­tock das Pensum run­ter­kocht und wesent­lich mehr Wert auf Rege­ne­ra­tion legt, ver­langt Streich seinen Akteuren alles ab. Hinzu kommt, dass den West­deut­schen ein gehö­riges Stück Respekt vor ihrem Coach fehlt. Streich erkennt schnell, dass nach einer Nicht-Berück­sich­ti­gung ein Spieler post­wen­dend anfängt, Oppo­si­tion gegen den Trainer zu machen. In der DDR ver­lief es nach dem Gehor­sams­prinzip – jede Auf­stel­lung wurde ohne Murren hin­ge­nommen. Sogar über den Trai­nings­be­ginn um 9 Uhr beschweren sich einige. Streich ver­legt die mor­gend­liche Ein­heit dar­aufhin auf 9.30 Uhr. Er sagt: Dann hörte ich auch bald von dem Kli­schee, dass wir Ossis uns tot trai­nieren.“ Nach einer 0:3‑Niederlage in Han­nover wird er im März 1991 ent­lassen. Das Expe­ri­ment ist geschei­tert.

Juli 1990, Karl-Marx-Stadt
Rico Stein­mann ist stand­haft geblieben. Werder Bremen, der BVB und auch Kölns Sport­di­rektor Udo Lattek haben sich um den Star aus Karl-Marx-Stadt gerissen, der sich in seiner Heimat der Ver­ant­wor­tung stellt. Nur durch mas­siven finan­zi­ellen Auf­wand ist die Mann­schaft des Vize-Meis­ters zusam­men­ge­blieben. Nun muss es mit der Qua­li­fi­ka­tion zur Bun­des­liga klappen. In der lokalen Zei­tung aber tau­chen Mut­ma­ßungen auf, wie hoch das Salär des umgarnten Kickers sei. Plötz­lich wurde in einem Team, das bisher nach dem Gleich­heits­prinzip zusam­men­ge­spielt hatte, bekannt, dass es Unter­schiede gibt.“ Ein unbe­kanntes Gefühl beginnt, die Atmo­sphäre in der Mann­schaft von Hans Meyer zu ver­giften: Neid. Als der Klub mit einem Fehl­start in die Saison geht, kommt viel Unruhe auf. Denn eins ist klar: Schafft der FC die Qua­li­fi­ka­tion zur Bun­des­liga nicht, ist Stein­mann weg. Bei einer Kri­sen­sit­zung steht ein Mit­spieler auf und sagt: Es kotzt mich an, warum geht es hier eigent­lich nur noch um Stein­mann?“

11. August 1990, überall in der DDR
Die Ober­liga startet in ihre letzte Saison. Für die 14 Klubs geht es um die Exis­tenz. 29 Rote und 544 Gelbe Karten an 26 Spiel tagen signa­li­sieren, wie umkämpft die Spiel­zeit ist. In den Medien brandet schon bald die Dis­kus­sion auf, ob Top-Spieler besser geschützt werden müssten. Das Zuschau­er­inter­esse an dieser K.O.-Liga ist ver­hee­rend. Der Zuschau­er­schnitt sinkt von bis­lang 8033 auf nur noch 4807 Besu­cher pro Spiel.

Dynamo Dresden ist ein gutes Bei­spiel, wie ver­zwei­felt die Ver­eine ums Über­leben kämpfen. Die Trans­fer­po­litik des Klubs zeugt nur bedingt von Fuß­ball­kom­pe­tenz. Die Abgänge werden nur teil­weise kom­pen­siert. Abge­half­terte Bun­des­li­ga­stars wie Sergio Allevi und Peter Lux ergänzen den Kader – und kas­sieren für über­schau­bare Leis­tungen fürst­liche Gehälter. Mit Heiko Scholz von Lok Leipzig tätigt der Klub den ersten Mil­lio­nen­transfer eines DDR-Teams, im Winter kommt auch noch Uwe Rösler für 1,2 Mil­lionen Mark Ablöse aus Mag­de­burg. Der Dau­er­ver­letzte Ralf Minge muss für den Klub in die Bre­sche springen und wird für jedes Spiel fit­ge­spritzt. Am Ende der Saison muss er mit gerade mal 31 Jahren als Sport­in­va­lide seine Kar­riere beenden.

9. Sep­tember 1990, Berlin/​Brüssel
Als Natio­nal­coach Eduard Geyer die Ein­la­dungen zum 293. und letzten Län­der­spiel der DDR drei Tage später gegen Bel­gien ver­schickt, hagelt es Absagen. Dirk Schuster lässt mit­teilen, dass er ab sofort West­deut­scher sei. Rainer Ernst ist zurück­ge­treten. Andere geben Ver­let­zungen als Grund für ihr Fern­bleiben an. Als sich die Spieler in der Sport­schule Kien­baum treffen, sind von 36 poten­ti­ellen Natio­nal­spie­lern nur 12 anwe­send. Nach etli­chen Tele­fo­naten sagen zumin­dest noch Heiko Bonan und Torsten Kracht zu. Der ein­zige Profi aus der Bun­des­liga, der anreist, ist Mat­thias Sammer. Die Unter­kunft ist pri­mitiv, das Essen schlecht. Sammer kommt ein düs­terer Gedanke. Er will nicht als Kapitän der schlech­testen DDR-Natio­nal­mann­schaft in die Geschichte ein­gehen. Abends fährt er zum Flug­hafen in Tegel und will zurück nach Stutt­gart fliegen. Doch es geht kein Jet mehr raus. Sammer ent­schließt sich dar­aufhin – angeb­lich hat VfB-Manager Dieter Hoeneß ihn über­redet – doch mit dem Team nach Bel­gien zu fliegen.

Im Mann­schafts­hotel in Brüssel sitzen die Natio­nal­spieler mit ihren Bera­tern über die Lobby ver­teilt, dis­ku­tieren über Klubs und Gehälter. Team­geist: Fehl­an­zeige. Als Taschen­geld bekommen sie 20 Mark pro Tag aus­ge­zahlt, dazu 1500 Mark Antritts­prämie. Der Rest vom Schüt­zen­fest. Um den sport­li­chen Ehr­geiz ein letztes Mal zu schüren, lobt der Ver­band für die 14 Spieler eine Sieg­prämie von 70 000 Mark aus. Es nützt: Durch zwei Sammer-Tore ver­ab­schiedet sich die DDR doch noch mit einem Sieg aus der Fuß­ball­ge­schichte.

20./21. November 1990, Leipzig
Der DFV löst sich auf und wird dar­aufhin als Nord­ost­deut­scher Fuß­ball­ver­band (NOFV) ein neuer Regio­nal­ver­band des DFB.

Herbst 1990, Köln
Die Mauer ist noch kein Jahr gefallen, Deutsch­land ist wie­der­ver­ei­nigt, und nicht nur im Fuß­ball erlebt die Wende-Euphorie erste Abnut­zungs­er­schei­nungen. Hans-Uwe Pilz ist kreuz­un­glück­lich bei For­tuna Köln. Der Verein hat ihm einen roten BMW vor die Tür gestellt. Seine Familie wohnt in einem Rei­hen­haus in einem schi­cken Kölner Vorort in unmit­tel­barer Nach­bar­schaft zu den Fami­lien Dös­chner und Traut­mann. Doch mit Rhein­län­dern kommen sie nicht so recht in Kon­takt. Seit dem herz­li­chen Emp­fang durch Jean Löring ist das Klima abge­kühlt. Die Spieler kro­chen dem Prä­si­denten in den Hin­tern. Es war schlimmer als zu DDR-Zeiten. Wenn ich in der Kabine den Mund auf­riss, petzte es irgend­einer weiter und ich musste zum Rap­port bei Löring antreten“, erklärt Pilz. Dynamo-Manager Bernd Kieß­ling kon­tak­tiert den Mit­tel­feld­spieler. Schnell ist klar, dass Champi“ und auch der ver­letzte Kol­lege Andreas Traut­mann bei For­tuna nicht alt werden. Dynamo ver­han­delt mit Löring über die Rück­sen­dung der beiden Abtrün­nigen. Doch der köl­sche Patri­arch will Kohle sehen. Vor Weih­nachten kauft der säch­si­sche Klub Pilz und Traut­mann zurück, Mat­thias Dös­chner bleibt in Köln. Dynamo zahlt nun die­selbe Ablöse für zwei Spieler, die es vorher für drei Abgänge erhalten hat.

20. März 1991, Dresden
Der Mob regiert im Sta­dion im neuen Deutsch­land. Ein Wie­der­ver­ei­ni­gungs­spiel im Leip­ziger Volks­sta­dion zwi­schen einer BRD- und einer DDR-Aus­wahl wurde im Herbst 1990 bereits wegen Sicher­heits­be­denken“ abge­sagt. Zu DDR-Zeiten wurden Hoo­li­gans als aso­ziale Ele­mente“ klas­si­fi­ziert und vor Pres­ti­ge­du­ellen vor­sichts­halber in Gewahrsam genommen. Nun stellen in vielen Ober­liga-Spiel­stätten – auch wegen der man­gel­haften Besu­cher­zahlen – gewalt­be­reite Zuschauer eine gewich­tige Gruppe dar. Wie sehr die Anar­chie regiert, zeigt sich an diesem Abend im Euro­pa­pokal der Lan­des­meister. Vor 11 000 Zuschauern spielt Dynamo gegen Roter Stern Bel­grad. Die Lage ist aus­sichtslos. Dresden hat das Hin­spiel 0:3 ver­loren. Als die Serben in der zweiten Halb­zeit mit 2:1 in Füh­rung gehen, wird es unruhig auf den Rängen. Es fliegen Steine, Raketen und Müll­tonnen auf das Spiel­feld. Hans-Uwe Pilz will beschwich­tigen: Aber wir kamen da gar nicht hin. Die warfen sogar mit Steinen auf uns.“ Das Match wird in der 78. Minute abge­bro­chen.

18. Mai 1991, Dresden
Ralf Minge gibt eine rau­schende Feier. Der 31-Jäh­rige hat genug. Er hat sich eine Spiel­zeit lang geschunden. So viel Schmerzen, so viel Ent­beh­rungen – alles für die Qua­li­fi­ka­tion von Dynamo zur Teil­nahme an der Bun­des­liga. Jetzt feiert er in der Linie 6“ das Ende seine Spie­ler­kar­riere – und das offi­zi­elle Ende des DDR-Fuß­balls. Hansa Ros­tock hat über­ra­schend das Double geholt. Tra­di­ti­ons­klubs wie der 1. FC Mag­de­burg, Sachsen Leipzig und der FC Berlin treten den Gang in die Dritt­klas­sig­keit an.

3. August 1991, 15.58 Uhr, Ros­tock
Flo­rian Wei­chert sprintet über den Platz im Ost­see­sta­dion. Eben hat Stefan Böger den Ball erobert. Vor Beginn der ersten gesamt­deut­schen Bun­des­li­ga­saison galt Hansa Ros­tock als sicherer Abstiegs­kan­didat. Doch am ersten Spieltag segelt die Hansa-Kogge hart am Wind. Böger ist einen Schritt schneller als sein Gegen­spieler Kay Fried­mann. Der Ball kommt nach innen. Wei­chert grätscht hinein, ohne wirk­liche Hoff­nung, die Kugel noch zu errei­chen. Doch eine Laune des Schick­sals lässt ihm in diesem Moment Flügel wachsen, er streckt sich, dehnt sich, geht auf volle Kör­per­span­nung. Bloß nicht drüber nach­denken. Wei­cherts Schuh­sohle berührt den Ball und lenkt ihn ins Netz. 1:0 für Hansa Ros­tock gegen den 1. FC Nürn­berg. Für Flo­rian Wei­chert ist es das Tor seines Lebens. Hansa gewinnt mit 4:0. Deutsch­land ist eine Ein­heit. Und der Spit­zen­reiter der Bun­des­liga heißt für fünf Spiel­tage Hansa Ros­tock.

Für Momente bli­cken alle Augen im Land nach Osten. Da steht er, ein 21-jäh­riger Fuß­ball­spieler, ein Kfz-Schlosser aus Ros­tock, der seinen Traum lebt. Einen Traum, der keine zwei Jahre zuvor nichts als eine naive Utopie war. Der Traum vom Bun­des­li­ga­star wird auch für Mat­thias Sammer, Ulf Kirsten, Thomas Doll, Andreas Thom oder Dariusz Wosz wahr. Auch für Hans-Uwe Pilz – aller­dings anders als er sich vor­ge­stellt hat. Er spielt noch vier Jahre mit Dynamo im Ober­haus, ehe er 1995 – am Ende seiner Lauf­bahn – mit seinem Klub in die zweite Liga absteigt. Andere kriegen vor dem Wechsel in den Westen plötz­lich Man­schetten. Als Reiner Cal­mund den Dresdner Ralf Haupt­mann nach Lever­kusen holen will, sagt dieser ab. Er fürchtet, den Anfor­de­rungen nicht gewachsen zu sein. Rico Stein­mann wech­selt 1991 als neuer Star zum 1. FC Köln, doch der Chem­nitzer fasst nie richtig Fuß. Er sagt: So einen Kon­kur­renz­kampf kannte ich aus der DDR nicht.“ Sechs Jahre beim FC erlebt er zumeist aus der Per­spek­tive des Edel­re­ser­visten. Auch Flo­rian Wei­cherts hoff­nungs­volle Kar­riere sta­gniert nach einem Wechsel. Das letzte Quänt­chen Selbst­ver­trauen, um sich beim HSV durch­zu­setzen, fehlt ihm. Der Druck ist zu groß. Wei­chert sagt: Im Westen fing ich an, sogar unter Schmerzen zu trai­nieren. Im Osten hatten wir den Beruf Fuß­ball­profi eben nicht gelernt.“ Mit 30 zwingt ihn eine Knie­ver­let­zung zum Auf­hören. 

An diesem Samstag im August 1991 aber scheint es, als sei die Frei­heit voll­ends in der ehe­ma­ligen DDR ange­kommen. Als würde es hin­term Hori­zont immer wei­ter­gehen.