Die Wilde Liga Bielefeld existiert seit mehr als 40 Jahren und ist damit die älteste Alternativliga Deutschlands. Ein Paralleluniversum zur vollregulierten Welt des DFB.
Hammer-Horst ist tot. Der charismatische Stehgeiger mit der Wahnsinnsklebe war vor zwei Jahren einer der Protagonisten unserer Reportage über die Wilde Liga Bielefeld, die ihr hier noch mal lesen könnt. Mach’s gut, Horst.
Zehn Jahre nach seinem plötzlichen Verschwinden ist „Hammer-Horst“ wieder da. Besser gesagt hockt er in seiner Küche und erklärt den ehemaligen Mitspielern Norbert und Heinz, warum er von einem Tag auf den anderen nicht mehr zu den Spielen der Sieker Löwen erschienen ist, nachdem er ein Vierteljahrhundert zuverlässig für sie geknipst hatte. Der folgende, leicht gekürzte Dialog ist für Nicht-Bielefelder nicht leicht zu verstehen. Heinz: „Horst, sach doch mal, das letzte Spiel …“ Horst: „Ja, gib mir mal so ’n Paulaner da hinten …“ Dann, nach einer längeren Pause: „Wir hatten einen wunderbaren Verteidiger, der das umfunktioniert hat als Stürmer. Der von der eigenen Eckfahne aus nicht zum Torwart spielte, sondern über den Torwart drüber zum Gegner, und der brauchte nur noch einnicken. Fünf Mal in dem Spiel.“ Heinz: „Fünf Mal? Kenn’ ich den, von dem du gerade sprichst?“ Horst: „Guck mal, da is’ nen Spiegel.“ Heinz: „Und wenn du da mal was gesagt hättest? Hätte man ja mal drüber sprechen können.“ Horst: „Na ja.“ So klingt Versöhnung auf Ostwestfälisch.
Ajax Aufruhr – das klingt lustig
Die rührende Szene ist Teil von „Die Würde des Balles“, einer Dokumentation über die Wilde Liga Bielefeld – eine der größten und wahrscheinlich die älteste Alternativliga Deutschlands. Oder ist die Rührung nur eine subjektive Empfindung, weil ich Horst und Heinz kenne und unzählige Male mit ihnen beziehungsweise gegen sie auf dem Platz gestanden habe? Denn an der Stelle muss die Maske eines vermeintlich objektiven Journalismus fallen: Diese Geschichte ist auch eine persönliche. Als ich 1990 aus dem beschaulichen Minden ins pulsierende Bielefeld kam, hatte ich meine mau verlaufene, irgendwo zwischen Kreisliga B und C versandete DFB-Karriere gerade zu den Akten gelegt. Kein großer Verlust, aber das Kicken an sich fehlte mir doch. Irgendwann erzählte ein Bekannter, er würde in der sogenannten Wilden Liga spielen, bei einem Team namens Ajax Aufruhr. „Ajax Aufruhr?“, echote ich. „Das klingt ja lustig!“ – „Ja“, sagte der Bekannte. „Morgen spielen wir gegen Lok Lattenschuß. Wir sind gerade personell etwas klamm, also komm doch einfach vorbei.“
Am nächsten Tag hatte ich ein Erweckungserlebnis. Das Spiel fand an der Bielefelder Radrennbahn statt, einem großen Areal mit vier Sportplätzen. Das ganze Gelände war voll mit jungen und nicht mehr ganz so jungen Männern, von denen viele wegen ihrer Langhaarig- und/oder Struppigkeit in der Kreisliga schwer vorstellbar gewesen wären. Während der Spiele wurde viel diskutiert, denn es gab keine Schiedsrichter. Die Trikots waren verwaschen, die Fähigkeiten der Spieler sehr heterogen. Neben Ajax Aufruhr und Lok Lattenschuß spielten Schwarz-Rot Chaos, Eintracht Zwietracht und Sollte Schießen. Es war ein fremde und seltsame Welt, aber sie roch gut, nämlich nach erstklassigem holländischen Importgras. Ich bin sicher nicht der größte Kiffer vor dem Herrn, trotzdem verliebte ich mich gleich in die Wilde Liga. Es war eine Liebe, die fast fünfzehn Jahre halten sollte. Heute weiß ich, dass der erste Eindruck zwar nicht falsch, aber doch ungenau und dem gefilterten Blick des behütet aufgewachsenen Neuankömmlings geschuldet war. Denn die wirklich wilden Zeiten der Wilden Liga lagen im Jahr 1990 schon länger als ein Jahrzehnt zurück.
Kreuzbandrisse und Punkbands
Treffen mit Makkus, einem Mann der ersten Stunde, vorm AJZ. Er ist noch nicht da, also ein kurzer Blick in den Innenhof des Arbeiterjugendzentrums an der Heeper Straße, das eine der Keimzellen der Wilden Liga war. Ein Plakat kündigt ein Konzert der Punkbands „Mann kackt sich in die Hose“ und „scheissediebullen“ an, ein anderes fordert auf, sich beim G20-Gipfel dem Schwarzen Block anzuschließen, frei nach dem Motto „Besuchen Sie Hamburg, solange es noch steht!“ Beruhigende Erkenntnis: Hier ist noch alles beim Alten. Makkus, der eigentlich Gerhard Marquardt heißt, fährt vor und entsteigt einem greisen Kleinwagen. Er selbst ist auch nicht besonders gut zu Fuß. Zwei Kreuzbandrisse, die einst seine Wilde-Liga-Karriere beendeten, haben ihre Spuren hinterlassen. Als die Liga ihren Betrieb aufnahm, war Makkus 26. Jetzt ist er 67.
Wir gehen Eis essen, im AJZ ist Makkus ewig nicht mehr gewesen. Dabei war dies früher sein zweites Wohnzimmer. „Heute ist das ja ein Punkschuppen“, sagt er. „Aber Mitte der Siebziger war es ein Wagnis, dort eine Punkscheibe aufzulegen.“ Stattdessen lief intellektueller Jazz. Doch nach und nach änderten sich die Zeiten: In der Kneipe waren immer öfter die Sex Pistols zu hören, die anfangs ungebrochene Sympathie für die „Rote Armee Fraktion“ bekam erste Risse, und ja, die Leute im AJZ begannen tatsächlich Fußball zu spielen, obwohl der Sport, wegen des reaktionären DFB und überhaupt, bei den Linken lange verpönt war. Mit ihrer aufkeimenden Liebe zum Spiel waren die AJZler indes nicht allein, auch in anderen linken Jugendzentren wurde immer öfter gekickt. Anfang 1976 kam schließlich die Idee auf, eine Liga zu gründen. Makkus ist noch im Besitz eines mit der Schreibmaschine verfassten Rundbriefes vom 28. April, der die Gründungsversammlung dokumentiert und das weitere Vorgehen festlegt. „Um die Organisation durchführen zu können“, schreibt ein gewisser Willy Willmann vom Team Dampfhammer FlaFla, „und für den eventuellen Ankauf eines Pokals brauchen wir etwas Geld. Deshalb bitten wir Euch, Eurem Meldebogen DM 10,- beizulegen.“ Ein wenig Bürokratie war also auch auf Linksaußen vonnöten.