Am Sonntag steigt das Abstiegsendspiel zwischen dem VfB Stuttgart und Hannover 96. Doch wie konnte es passieren, dass die Stuttgarter Teil des Schneckenrennens werden? Ein Protokoll der Trauer.
Es war ein schwerer Schlag für rheinische Exilanten in Stuttgart, als die Gaststätte „Urban“ im vergangenen Jahr schloss. Hier trafen sich rheinische Expats zum Stammtisch. Irre witziger Name des Vereins: die Rheingeschmeckten, eine Hommage an das Schwäbische „neigschmeckt“ für zugezogen. 2019 haben es Rheinländer in Schwaben noch schwerer. Vor zwei Wochen wurde Michael Reschke beim VfB Stuttgart entlassen. Als sich die Nachricht in der baden-württembergischen Landeshauptstadt verbreitete, lagen sich wildfremde Menschen bei der Kehrwoche und auf Twitter weinend in den Armen. Es waren Tränen der Freude, wird der aktuelle Notstand in Cannstatt von weiten Teilen der Fans doch an Sportvorstand Reschke festgemacht.
Die Geschichte ist schon oft erzählt worden von Reschke als exzellentem Kaderplaner, der in der zweiten Reihe bei Bayer Leverkusen und Bayern München gute Arbeit geleistet hat. In der ersten Reihe in Stuttgart hatte er dagegen von Anfang an einen schweren Stand, und das nicht nur, weil seine rheinische Art, Stuttgart auszusprechen, immer ein wenig nach „Stuttyacht“ klang.
Eigentlich war alles gut…
Der Platz auf der Brücke des VfB-Traumschiffes war aber schon von zwei ganz anderen Kapitänen belegt: vom ehemaligen Sportdirektor Jan Schindelmeiser und von Ex-Trainer Hannes Wolf, mittlerweile beim HSV tätig. Nach dem Abstieg 2016 hatten beide es geschafft, eine Euphorie zu entfachen: Mit jungen Spielern ging es auf direktem Weg zurück in die Bundesliga.
Nach dem Wiederaufstieg musste Schindelmeiser im August 2017 völlig überraschend gehen. Der Grund der Demission ist bis heute mythenumrankt. Eine Lesart: Präsident Wolfgang Dietrich, ausgestattet mit einem stattlichen Ego, konnte mit dem ebenfalls selbstbewussten Schindelmeiser nichts mehr anfangen und holte Reschke. Wenige Monate später wurde mit Trainer Hannes Wolf der zweite Aufstiegsheld entlassen, Tayfun Korkut rückte an seine Stelle und alle waren sicher: Das ist das Ende, das ist der erneute Abstieg.
Es folgte Platz Zwei in der Rückrundentabelle der Saison 2017/18, auch dank der Tore von Mario Gomez. Mit der Rückholaktion des verlorenen Sohnes in der Winterpause vor einem Jahr gelang Reschke ein Coup. Viele sagen, dass es der einzige Streich seiner 18-monatigen Amtszeit war. Die Verpflichtung von Gomez war Teil einer Strategie Reschkes, den jungen Spielern aus der Schindelmeiser-Ära erfahrene Profis wie Andi Beck, Dennis Aogo oder zuletzt Gonzalo Castro an die Seite zu stellen. In Fachkreisen firmierte diese Einkaufstaktik bald unter dem Begriff „Reschkerampe“.
Wie Stuttgart gespalten wurde
Denn Reschkes sonstige Transfers wie Pablo Maffeo oder Borna Sosa sind überschaubar erfolgreich eingegliedert. Die 41,5 Millionen Euro, die der VfB von Daimler nach der Ausgliederung der Profisparte in eine Aktiengesellschaft für elf Prozent der Anteile des Vereins erhalten hatte, sind weg. Beim Stichwort „Ausgliederung“ gelangt man zum zweiten Protagonisten, den die Fans als Hauptschuldigen für die aktuelle VfB-Krise identifiziert haben: Präsident Wolfgang Dietrich. Gebe es eine Umfrage zu den zehn unbeliebtesten Schwaben, Dietrich hätte – so heißt es – gute Chancen auf Platz 1, 2 und 3 zu landen.
In der Cannstatter Kurve, wo das Fan-Herz des VfB schlägt, ist der Begriff „Spalter“ noch eine der netteren Bezeichnungen für den machtbewussten Präsidenten. Ein Spalter ist Dietrich in den Augen der Fans deshalb, weil er den Verein im Zuge der Ausgliederungsdiskussion entzweit habe. Erst habe er den eloquenten Schindelmeiser für die Neustrukturierung des Vereins argumentieren lassen, um ihn dann vor die Tür zu setzen.