London 1996, Deutschlands letzter Triumph bei einer Europameisterschaft. Unser Autor war damals live dabei – und erfuhr ein Trauma, das ihn bis heute nicht loslässt.
Stell dir vor, dein Land gewinnt die EM – und du bist live dabei. Im Stadion. Wembley. Haupttribüne. Bierhoff ohne Trikot. Klinsmann mit dem Pott. Berti vor der Kurve. Once in a lifetime, bitches.
Vor 20 Jahren hatte ich in London die Chance auf ein Erlebnis, das Millionen Fußballfans ersehnen, aber nie bekommen werden: Finale, Deutschland-Tschechien. Wenige Meter hinter der deutschen Bank: Die Miniversion meiner selbst, 10 Jahre alt, Pausbacken, Swatch-Uhr. Der letzte deutsche EM-Triumph, er ist mir unvergessen – unvergessen schrecklich. Doch der Reihe nach.
EM-Finale? Überraschend ausverkauft.
Juni 1996. In meinem Kinderzimmer hängen Bravo-Sport-„Megaposter“ von Mehmet Scholl und Michael Jordan, aus dem Radio dröhnt „Macarena“, der Hit des Sommers. Und im fernen England – so fern, wie es einem angehenden Fünftklässler scheinen mag – schießt Andy Möller die deutsche Elf ins EM-Finale. „Irre“, denke ich in meinem Schlafanzug, als der Siegtorschütze im Röhrenfernseher des elterlichen Wohnzimmers vor der englischen Kurve posiert. „Irre, dass wir ausgerechnet jetzt nach London fahren.“
Der Familienurlaub auf der britischen Insel war lange gebucht, vier Tage London, danach raus aufs Land. Reisebeginn: der 27. Juni, drei Tage vor dem Endspiel. Ein undankbarer Zeitpunkt für meine Eltern. Denn statt sich mit Wachsfiguren und dem ersten Hard-Rock-Cafe-Shirt zufrieden zu geben, war für meinen Bruder und mich klar: Wohl und Wehe dieses Urlaubs hängt von der Antwort auf eine einzige Frage ab – „Können wir zum Finale, Papa?“.
Ja, wir können. Dachte mein Vater zumindest. Und so gesellte sich Familie Neumann, party of four, am Finalsonntag in die wirre, verschwitzte Menge vor den Toren des alten Wembley. Wird schon klappen, war sich Vaddern sicher. Doch dann das: Überraschenderweise war das EM-Finale im Mutterland des Fußballs ausverkauft und das Schwarzmarkt-Angebot für vier nebeneinander liegenden Sitzplätze wider Erwarten mau.
Skandal: Unsere Tickets fehlten!
Stundenlang umrundeten wir das Stadion, diskutierten mit dubiosen Händlern, wurden von Günter Netzer und Karl-Heinz Rummenigge vor dem Eingang vertröstet – nein, sie hatten keine Karten für traurig dreinblickende Jungs übrig – , verloren den Mut. Bis Vater Neumann das DFB-Kartencenter entdeckte. „Nur hinterlegte Tickets“, informierte ein Schild an der Eingangstür. „Bin gleich wieder da“, sagte das Familienoberhaupt und verschwand hinter der Tür.
30 Minuten später saßen wir auf der Haupttribüne der Fußballkathedrale. Unser Sesam-öffne-dich, die Dreistigkeit meines Vaters: „Ich will die vier reservierten Tickets für Neumann abholen“, hatte er der Dame hinterm Ticketschalter aufgetischt. Die waren zum Entsetzen beider Seiten zwar unauffindbar, zur Entschädigung winkten aber vier andere Karten ins Glück. Sollte uns recht sein, wir verzichteten auf weitere Beschwerden. Fehler passieren – wir hatten ja auch blöderweise im Hotelzimmer den Zettel mit der Reservierungsnummer vergessen. Oder so ähnlich.