Saisonübergreifend ist Alexander Nouri seit 34. Spieltagen im Amt. In seinem ersten Jahr als Bremen-Coach hat er viel erlebt: Rückschläge, Endspiele, herbe Niederlagen und – die berauschendste Werder-Serie der letzten Jahre. Wie hat er das geschafft?
Eine Bundesligasaison ist wie ein kurzes, intensives Leben: voller Gegensätze und Unwägbarkeiten. Es gibt Sieger und Verlierer. Solidarität und Empathie treffen auf das Recht des Stärkeren. Das Glück ist flüchtig, doch oft wartet es gerade dann, wenn es niemand erwartet. Klebt aber das Pech an einem Klub, ist es hartnäckig wie eine verschleppte Erkältung. Man sieht sich immer zweimal, doch nur eins ist sicher: Erst am Ende, ganz am Ende, wird abgerechnet!
In welchen Augenblicken einer Spielzeit aber entscheidet das Pendel, in welche Richtung es ausschlägt? Welche sind die Schlüsselmomente, die ein Jahr in der Bundesliga zum Triumphzug oder zum Horrortrip werden lassen? Kein Verein weiß das besser als der SV Werder. Die Norddeutschen haben in der zurückliegenden Saison all die Launen, die der Fußball zu bieten hat, mit voller Wucht zu spüren bekommen. Bereits nach dem 3. Spieltag musste Werder-Veteran Viktor Skripnik den Trainerstuhl räumen. Unter Nachfolger Alexander Nouri erlebte der Klub dann im Frühherbst ein kurzes Zwischenhoch, ehe er mit vier Niederlagen in Folge wieder auf den Relegationsplatz abstürzte. Bis zur Winterpause gelang es den Grün-Weißen erneut, sich zu konsolidieren, dann erlebte das Team nach einer Verletztenmisere erneut sechs sieglose Spiele.
Drei Mal abgestürzt – drei mal aufgestanden
Erst am 18. Februar 2017 wendete sich das Blatt: Die Bremer gewannen bei Mainz 05 auswärts mit 2:0 und blieben in der Folge elf Mal ungeschlagen. Erst als drei Spieltage vor Schluss manche schon anfingen, Werders Chancen auf eine Teilnahme an der Europa League zu berechnen, verabschiedete sich das Team in die Konsumhaltung – und schloss das Jahr auf einem neutralen achten Rang ab.
„Drei Mal ist Bremer Recht“, lautet ein regionales Sprichwort. Es besagt, dass jedem Bürger der Stadt nach zwei misslungenen Versuchen noch eine dritte Chance eingeräumt werden müsse. In der Retrospektive scheint es, als hätten sich die Vereinsbosse bei ihrer Entscheidung, trotz akuter Abstiegsgefahr die Spielzeit mit dem beförderten Nachwuchstrainer Nouri und ohne übereilte Neuverpflichtungen in der Winterpause durchzustehen, von dieser hanseatischen Maxime leiten lassen. Drei Mal stürzten die Werderaner übers Jahr auf einen Abstiegs- beziehungsweise Relegationsplatz ab, drei Mal gelang es ihnen, dem Druck standzuhalten.
„Muss jetzt wirklich jeder wissen, welche Marke ich benutze?“
Es sind kalte Wochen an der Weser, in denen sich alles zum Guten wendet. Werder hat die Winterpause auf dem 15. Tabellenplatz verbracht. Das Trainingslager in Andalusien hat dem Team neue Zuversicht gegeben. Alexander Nouri hat den Knoten gelöst, den ihm sein Vorgänger hinterlassen hat. Unter Skripnik fehlte vielen Profis die realistische Aussicht auf Spielzeit, die Unzufriedenheit war groß. Mit seiner offenen Art, einer klaren Ansprache hat der 37-Jährige seinen Leuten wieder Selbstvertrauen eingeflößt, die Kommunikation neu in Gang gebracht. Führungsspielern wie Zlatko Junuzovic, Max Kruse oder Thomas Delaney signalisiert er: Jungs, ich brauche euch. Ihr habt viel mehr Erstligaerfahrung als ich. „Er suchte ständig das Gespräch mit uns“, erklärt der Österreicher Junuzovic, „mal unter vier Augen, mal unter sechs Augen, mal unter acht Augen, mal mit allen zusammen.“
Der Coach hat beim SVW einen atemberaubenden Aufstieg hinter sich. Erst die Beförderung von Skripnik zum Chefcoach brachte den Assi bei der U23 in vorderste Verantwortung. Im Frühjahr 2016 hat er seine Prüfung zum Fußballlehrer abgelegt. Und nun soll er die Werder-Profis vor dem drohenden Abstieg bewahren? Reichlich Gepäck für einen, der gar nicht zwingend ins Rampenlicht wollte, sondern sich mittelfristig als Nachwuchscoach verstand. Erst allmählich gewöhnt sich der Mann aus Buxtehude an die neue Rolle. Als ihn in den ersten Trainingswochen ein Fan an der Supermarktkasse anspricht, ob er Zeit für ein Selfie habe, hat er gerade eine Packung Klopapier unterm Arm und fragt sich: „Muss jetzt wirklich jeder wissen, welche Marke ich benutze?“