Nach der Disqualifikation von Metalist Charkiw hatte sich Schalke auf ein Freilos im Champions-League-Play-Off eingestellt. Doch es kam anders: PAOK Saloniki rückte nach. Das Porträt eines griechischen Klubs im Schatten der Athener Vorherrschaft.
„Gleich Null“, so hatte noch vor knapp einer Woche Horst Heldt die Wahrscheinlichkeit eingeschätzt, dass Schalkes Gegner Metalist Charkiw aus der Champions-League-Qualifikation ausgeschlossen werde. Sollte dies wider Erwarten doch geschehen, so sagte Schalkes Manager weiter, käme man voraussichtlich „per Freilos“ in die Gruppenphase des Wettbewerbs. Er sollte sich irren.
Schalke trifft heute Abend auf einen Gegner, dessen eigentlicher Name in den Agentur-Schlagzeilen zunächst durch die bloße Nennung eines Schalker Ex-Trainers auftauchte: Schalke gegen Stevens. Nicht jeder Leser dieser Meldung dürfte auf Anhieb verstanden haben, dass es für die Königsblauen nun gegen den griechischen Vize-Meister PAOK Thessaloniki gehen würde, der am 7. August gegen Metalist aus der Champions-League-Qualifikation ausgeschieden war (0:2, 1:1).
Hat Schalke sich nicht mit Saloniki beschäftigt?
Auf Schalke, so scheint es, ist man durch die Ereignisse in der Uefa-Zentrale auf dem falschen Bein erwischt worden. Nach der Auslosung am 9. August zunächst auf das ukrainische Charkow fokussiert, wo für Quartiersuche und andere Logistik bereits ein Schalker Abgesandter weilte, versäumte man es offenbar, eine Antenne in Richtung Thessaloniki auszufahren.
Dort hatten nämlich die Klubverantwortlichen, nach Bestätigung der Manipulationsvorwürfe gegen Metalist Charkiw durch das Internationale Sportgericht CAS (2. August), ihre Chance gewittert. Noch vor Austragung des Rückspiels in der Ukraine sickerten in griechischen Medien Meldungen und Gerüchte durch, wonach sich PAOK Thessaloniki einige Hoffnung darauf machen konnte, im Falle eines Ausscheidens für die Ukrainer nachzurücken.
Das Phänomen der Verdrängung
Oder war man in Gelsenkirchen doch die ganze Zeit auf dem Laufenden? Dann wäre Heldts Überraschung tiefenpsychologisch leicht zu erklären – und zwar unter Hinweis auf das auch im Profifußball nicht unbekannte Phänomen der Verdrängung. Wenn niemand anders das Schalker Innenleben so gut kennt wie Stevens, so wäre es nur allzu menschlich, in Anbetracht eines Spiels von solch finanzieller und sportlicher Bedeutung, sich gerade nicht mit ausgerechnet diesem Szenario auseinandersetzen zu müssen.
In Thessaloniki wird Schalke nun nicht nur auf den Jahrhunderttrainer Stevens treffen, sondern auch auf eines der traditionsreichsten und beliebtesten Fußballteams Griechenlands. Vor allem im Norden des Landes ist PAOK Thessaloniki unter den Fußballfans die unangefochtene Nummer Eins – eine Vorrangstellung, die der Klub seit Jahrzehnten auch unter den in Deutschland lebenden Griechen genießt.
Geschichtlich reicht die Verbindung mit der Diaspora aber noch viel weiter zurück. Gegründet wurde PAOK 1926 in der nordgriechischen Hafenmetropole Thessaloniki, und zwar von Griechen, die wenige Jahre zuvor im Zuge der Nachwehen des Ersten Weltkriegs und des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches aus Konstantinopel (dem heutigen Istanbul) geflüchtet waren. Im Bewusstsein der Gründer verkörperte PAOK den Nachfolgeverein des im Istanbuler Stadtteils Pera beheimateten und 1875 ins Leben gerufenen Mutterklubs Hermes.
Zeichen dieser Vorgeschichte sind den Insignien des Vereins mehrfach eingeschrieben, allen voran das Kürzel PAOK, welches für „Panthessalonikischer Sportklub der Konstantinopler“ steht. Ähnlich das Vereinswappen mit dem Doppeladler, das ein Zitat des byzantinischen Kulturerbes darstellt. In auffälliger Abweichung von der Emblemtradition zeigt es den Adler jedoch nicht angriffsbereit mit ausgespannten, sondern mit angelegten Schwingen, was Ausdruck der Trauer über Vertreibung und Verlust von Heimat ist. Letzteres symbolisiert auch eine der beiden Vereinsfarben (schwarz), der als Zeichen der Hoffnung und des Aufbruchs zu neuen Ufern mit der Farbe Weiße kombiniert ist.
Der Streit um den Star-Spieler
Zentral für die Identität dieses Klubs und seiner Anhänger ist dessen Aufbegehren gegen die seit Jahrzehnten andauernde Vorherrschaft der Athener Großklubs (Olympiakos Piräus, Panathinaikos Athen, AEK Athen). Die Wurzeln hierfür, vor allem für die Rivalität mit Olympiakos, datieren auf das Jahr 1966, als Piräus dem aufstrebenden Klub aus Thessaloniki dessen Jahrhunderttalent Giorgos Koudas streitig machen wollte. Zwar gelang es Piräus, sich die Unterschrift des jungen PAOK-Spielers zu sichern, der fortan bei dem Rivalen aus dem Süden trainierte und in einigen Testspielen reüssierte, doch es blieb lediglich bei einem Intermezzo.
Allen Angeboten zum Trotz verweigerte nämlich der nordgriechische Verein jegliches Gespräch mit Piräus und somit auch Koudas‘ Freigabe. Mit der historischen Aussage: „Koudas bleibt in Thessaloniki“ hatte man seinerzeit charakterliche Standfestigkeit auch gegenüber den sich einmischenden Sportminister der Obristen zu beweisen, die sich 1967 an die Macht geputscht hatten. Ihrem Vertreter soll der damalige Klub-Präsident Giorgos Pantelakis gesagt haben: „Ich mag vielleicht in Gyaros (Verbannungs- und Gefängnisinsel, d. Red.) landen, aber Koudas wird nicht bei Olympiakos spielen.“
Zwei ganze Jahre blieb Koudas offiziellen Spielen fern, bis er nicht ohne Reue zu PAOK Thessaloniki zurückkehrte. Vor dem Hintergrund eines in vollem Gange ausgetragenen Kulturkampfes zwischen Athen und Thessaloniki sollte PAOK fortan den griechischen Ligabetrieb mächtig aufmischen. Meisterschaften und Pokale – bis dahin eine Angelegenheit, die fast ausnahmslos unter Athener Mannschaften ausgehandelt wurde – fanden in PAOK Thessaloniki einen neuen Mitanwärter, der es zudem verstand, einen mitreißenden Fußball zu spielen. Legendär ist die über 20 Jahre anhaltende Heimserie gegen Dauermeister Olympiakos, die mit der Rückkehr des verlorenen Sohns Koudas ihren Anfang nahm und Piräus eine Schmach bedeutete, an der nicht nur PAOK-Fans ihre Freude hatten.
Mafiöse Verbandsstrukturen?
PAOK Thessaloniki stellt den einzigen Verein im griechischen Fußball der letzten Jahrzehnte, dem es gelungen ist, dem Athener Fußball-Oligopol die Stirn zu bieten. Dass sich die Trophäen-Sammlung des Klubs aus Thessaloniki (zwei Meisterschaften 1976 und 1985 und vier Pokalsiege 1972, 1974, 2001 und 2003) im Vergleich zu den Rivalen aus Athen so bescheiden ausnimmt, ist nicht allein sportlichen Gründen geschuldet. So sehen es jedenfalls die Vereinsverantwortlichen in Thessaloniki. So kritisieren sie den griechischen Fußballverbands etwa dafür, in schöner Regelmäßigkeit Pokal-Endspiele in Athen austragen zu lassen, was Athenern Finalteilnehmern ein willkommener Service ist. Weitere Sitten, angesichts derer die Zuschauerränge der heimischen Stadien regelrecht veröden, sind dem Grundtenor griechischer Medien und Fußballanhänger nach nicht anders denn als korrupt, zuweilen sogar als mafiös zu bezeichnen.
Als jüngstes Beispiel für das Empfinden, eines Titels beraubt worden zu sein, verweisen neben den Fans von PAOK auch die Verantwortlichen des Vereins auf das Spieljahr 2009/10. Trainiert vom aktuellen Nationalcoach Griechenlands, dem Portugiesen Fernando Santos, und unter der Präsidentschaft des EURO-2004-Kapitäns Theodoros Zagorakis, spielte PAOK noch solange um die Meisterschaft mit, bis in einem entscheidenden Ligaspiel gegen Ende der Saison das Unheil seinen Lauf nahm. Ausgerechnet in einem Auswärts-Derby gegen den verhassten Stadtrivalen Aris zerschellten die Meisterschaftsträume, dass unter Fans und Klubverantwortlichen sofort das Wort Betrug die Runde machte. Der Schiedsrichter soll die Mannschaft damals verpfiffen haben, denn der lachende Dritte war in diesem Fall Panathinaikos Athen, das zu seinem 26. Meistertitel kam.
Der Hexenkessel Toumba
Als PAOK Thessaloniki in den siebziger Jahren den hauptstadtzentrierten griechischen Fußball herauszufordern begann, so geschah dies nicht nur auf dem Spielfeld, sondern auch auf den Rängen des vereinseigenen Toumba-Stadions in Thessaloniki, benannt nach dem gleichnamigen Stadtteil. In diesem knapp 29.000 Zuschauer fassenden Stadion werden Schlachtrufe mit besonderer Schärfe angestimmt. Zeugen hierfür lassen sich zuhauf anführen, vor allem unter den Spielern und Trainern der im Toumba-Stadion auflaufenden Gastmannschaften.
Einer von ihnen ragt jedoch besonders heraus, handelt es sich doch bei diesem Gewährsmann um keinen geringeren als Diego Armando Maradona, der im Herbst 1988 mit dem SSC Neapel im Rahmen eines Uefa-Cup-Rückspiels gegen PAOK antrat. Auf die Frage eines italienischen Reporters direkt nach Abpfiff der Partie (1:1), wie oft er in seiner Karriere eine solche Atmosphäre erlebt habe, erwiderte der damalige Weltstar, ein schwarzweißes PAOK-Trikot lässig über die Schulter geworfen, so etwas bisher nirgendwo anders gesehen zu haben. Seine Mannschaft habe überhaupt keinen Rhythmus finden können – trotz des Weiterkommens Neapels (nach 1:0 im Hinspiel).
Ein Klub mit selbstzerstörerischem Gebaren
Toumba – ausgesprochen bezeichnet dieses Wort nicht nur die Arena, in der PAOK Thessaloniki seine Gegner empfängt. Archäologen wissen auch um den gleichlautenden Begriff Tumba: freistehendes steinernes oder metallenes Grabmal, das einem Sarkophag ähnelt. Das passt gut zu einem Stadion, das in der Hoffnung der Fans zu einer Stätte wird, in der die Hoffnungen der gegnerischen Mannschaft begraben werden.
Aber es sind auch die eigenen Hoffnungen, die hier immer wieder zu Grabe getragen werden. Denn PAOK ist ein Klub, dem selbstzerstörerisches Gebaren alles andere als fremd ist. Sperren hat PAOK auch andere Male hinnehmen müssen, sowohl von der Uefa als auch vom griechischen Fußballverbands. So wird PAOK, zumindest im Rückspiel gegen Schalke auf heimischem Boden, auch vor leeren Rängen spielen – Folge einer im letzten Jahr von der Uefa verhängten Sperre nach Fan-Ausschreitungen im Toumba-Stadion. Dazu kam es, als im Sommer 2012 vor Beginn des Europa-League-Hinspiels gegen Rapid Wien aus den Rängen der österreichischen Gäste Leuchtraketen in jegliche Richtung abgefeuert wurden und PAOK-Anhänger über die Absperrgitter auf das Spielfeld sprangen, um zur Überraschung sowohl der Österreicher als auch der tatenlos zuschauenden griechischen Polizisten die Unterbindung dieses Wahnsinns selber in die Hand zu nehmen.
Was sich in und außerhalb dieses Stadions an Affekt entlädt, kann auch die eigenen Spieler und die eigenen Klubverantwortlichen treffen, in spontan einberufenen Volksgerichten, deren Konjunktur unergründlichen Gesetzmäßigkeiten folgt. PAOK ist definitiv ein in jeglicher Hinsicht „heißer“ Klub. Und dies umso mehr, als für den unverwechselbaren Toumba-Sound neben größter Leidenschaft und Stimmkraft zuweilen auch ein rotziger Ton charakteristisch ist. Für den PAOK-Fan spiegelt sich hierin das Selbstverständnis wider, sich weder bändigen noch unterkriegen zu lassen. Bevorzugter Adressat dieser selbstbewussten Message ist in der Regel das Athener Fan-Publikum; auch als Antwort auf dessen herablassend-polemische Rhetorik, derzufolge der Norden Griechenlands nur von Türken und Bulgaren bewohnt ist.
Im Europa-Cup gegen namhaftere Gegner knapp auszuscheiden hat bei PAOK eine gewisse Tradition, vor allem, wenn es wie jetzt gegen eine Bundesliga-Mannschaft geht. Hiervon können Mannschaften wie Eintracht Frankfurt (1981÷82) und Bayern München (1983÷84) ein Lied singen. Erst im Elfmeterschießen wurden beide Partien zugunsten der deutschen Mannschaften entschieden, gegen Bayern München, nach zwei torlosen Unentschieden, sogar mit dem Endstand 9:8, nachdem der belgische Bayern-Schlussmann Jean-Marie Pfaff für die Münchener den letzten Elfer mustergültig verwandelte.
Siege gegen Villareal und Tottenham
Nicht nur diese Beispiele belegen, dass PAOK ein Gegner ist, an dem man sich die Zähne ausbeißen kann. Wer – wie zuletzt in den Jahren 2010 bis 2012 – gegen Ajax Amsterdam zwei Unentschieden erzielt (1:1; 3:3), Fenerbahce aus dem Europa-League-Wettbewerb hinausbefördert, zu Hause Mannschaften wie Villarreal und Dynamo Zagreb besiegt, sich auswärts gegen Tottenham trotz frühen Platzverweises mit 2:1 durchsetzt und bei Rubin Kazan, Udinese Calcio oder ZSKA Moskau einen Punkt ergattet hat, ist definitiv ein Gegner, der ernst zu nehmen ist.
Den zwischenzeitlich (erstes Halbjahr 2012) infolge finanzieller Engpässe erlittenen Aderlass, besonders prominent vertreten durch den Verkauf des nun beim VfL Wolfsburg aufblühenden portugiesischen Außenstürmers Vieirinha, hat man gerade rechtzeitig genug stoppen können, um sich noch für die Champions-League-Saison 2013/14 qualifizieren zu können. Ohne das Engagement des griechisch-russischen Großaktionärs Ivan Savvidis, seit Sommer 2012, wäre dies kaum möglich gewesen, ganz zu schweigen von der Verpflichtung des Schalker Ex-Trainers Huub Stevens sowie dem Kauf weiterer Spieler. Darunter befinden sich auch namhafte griechische Nationalspieler (Katsouranis, Tziolis), mit denen PAOK insgesamt besser aufgestellt ist als in der Zeit seines letzten Europacup-Hochs, allerdings weniger gut eingespielt ist.
Liegt die Chance bei Null?
Für PAOK ist die Saison 2013/14 eine Aufbruchssaison. Erklärtes Ziel ist es, in der griechischen Liga Olympiakos Piräus auf Augenhöhe herauszufordern und den lang ersehnten dritten Meisterschaftstitel zu gewinnen. Den Griechen ist jetzt schon – unabhängig von den Partien gegen Schalke – die Teilnahme an der Gruppenphase der Europa League gewiss. Womit in Bezug auf Europa das Minimalziel bereits erreicht ist. Dass Schalke der klare Favorit ist, hat Dienstagabend auf der Pressekonferenz in Gelsenkirchen auch der frisch vom AS Monaco verpflichtete griechische Nationalspieler Alexandros Tziolis bekräftigt: „Die Wahrscheinlichkeit spricht gegen uns, aber wir werden alles unternehmen, um jede Gelegenheit, die sich uns bieten wird, zu nutzen.“
Auch Stevens hat sich jüngst gegenüber der deutschen Presse geäußert: „Wir können uns schon durch das Uefa-Urteil als Sieger fühlen, sind sicher in der Gruppenphase der Europa League.“ Dessen ungeachtet rechnet sich Stevens natürlich auch Chancen für die Königsklasse aus, denn: „Im Fußball hast du immer eine Chance.“ Und zwar auch dann noch, wenn diese Chance bei Null liegt. Also exakt so, wie man auf Schalke die Wahrscheinlichkeit beziffert hatte, überhaupt gegen PAOK Thessaloniki antreten zu müssen.