Lucien Favre ist der neue Trainer von Borussia Dortmund. Unser Autor Christoph Biermann hat in seinem neuen Buch „Matchplan“ die Spielidee von Favre enthüllt.
Der Schweizer Trainer Lucien Favre ist einer der sympathischsten wie erratischsten Trainer, die ich bislang kennenlernen durfte. Er kann ein außergewöhnlich charmanter Gesprächspartner sein oder sich fast trotzig gegen jede Frage wehren, als wäre sie eine Zumutung. Nicht leicht ist es auch für jene, die mit Favre zusammenarbeiten. Augenrollend erzählen Manager oder Vereinspräsidenten von seiner legendären Entscheidungsschwäche bei Transfers. Auch überfiel Favre immer wieder das Gefühl, dass es für ihn mit der Mannschaft nicht mehr weitergehe, mit der er gerade arbeitete. Weshalb er öfter unversehens kündigt und nur unter gutem Zureden wieder zur Arbeit zurückkehrt. Nur bei Borussia Mönchengladbach war er nach fünf Niederlagen zum Beginn der Saison 2015/16 wirklich nicht mehr umzustimmen.
Mehr Erfolg als erwartet
Nun könnte man angesichts solcher Geschichten annehmen, dass die meisten Manager am Ende froh gewesen wären, diesen anstrengenden Coach losgeworden zu sein. Doch das ist falsch, denn Favre ist nicht nur ein liebenswürdiger Mensch, sondern ein ausnehmend erfolgreicher Trainer. Letztlich hat er mit seinen Mannschaften fast immer mehr erreicht, als zu erwarten gewesen wäre. Favre stieg mit dem kleinen Klub Echallons in die zweite Liga der Schweiz auf, dann führte er Yverdon in die erste, mit Servette Genf wurde Favre Schweizer Pokalsieger, mit dem FC Zürich zweimal Schweizer Meister und zweimal Pokalsieger. Hertha BSC führte er fast in die Champions League, Borussia Mönchengladbach rettete er zunächst vor dem fast sicheren Abstieg und erreichte mit dem Klub anschließend zweimal die Europa League sowie schließlich die Champions League. Und OGC Nizza führte er gleich im ersten Anlauf auf einen dritten Platz in Frankreich.
Das allein ist spektakulär, aber die Daten hinter diesen Erfolgen sind so sensationell wie rätselhaft. Denn sowohl in Mönchengladbach wie in Nizza übertrafen Favres Teams die Expected Goals dramatisch, und zwar galt das sowohl für die selbst erzielten Tore wie für die Gegentore. Expected Goals sind ein neuer Wert, der uns hilft, den Zufall im Fußball zu messen. Jeder Fußballfan hat irgendwann schon mal den Satz gesagt: „Den muss er machen!“ Gemeint ist damit, dass ein Spieler eine große Torchance hat. Wir gewichten nämlich Abschlüsse instinktiv danach, wie groß die Chance ist, dass sie ins Tor gehen. Und wenn wir darüber diskutieren, welche Mannschaft den Sieg verdient hat, beziehen wir uns darauf. Klar, die Mannschaft mit den besseren Chancen!
Expeted Goals
Wir gehen das nicht systematisch an und versuchen die Größe einer Torchance genau zu quantifizieren, aber es ist möglich. Nehmen wir den einfachsten Fall: den Elfmeter. Die Chance, dass ein Elfmeter ins Tor geht, beträgt in der Bundesliga genau 74,69 Prozent. Von 4651 Elfmetern, die vom Start der Bundesliga 1963 bis zum 1. Januar 2018 verhängt wurden, landeten 3474 im Tor. Aufgrund der allgegenwärtigen Datenerhebung im Fußball ist es inzwischen aber möglich, für jeden Torschuss anzugeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit er statistisch gesehen ins Tor geht. Wenn man von Zehntausenden Torschüssen aus Tausenden von Spielen die Stelle erfasst hat, von wo sie abgegeben wurden, ergibt sich eine besondere Karte des Spielfelds. Man kann dort sehen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit jeweils ist, von einem bestimmten Punkt ins Tor zu treffen.
Diese Karte ist noch roh, denn auch ein paar Zufallstreffer tauchen hier noch auf, etwa von der Seitenauslinie auf Höhe des Strafraums. Realistisch jedoch wird das Bild im und um den Strafraum. Auch ohne größere Rechenoperationen angestellt zu haben, sagt einem die Erfahrung, dass es für Torschüsse bessere und schlechtere Punkte auf dem Platz gibt. Bereits in den neunziger Jahren forderte Volker Finke als Trainer beim SC Freiburg von seinen Spielern, dass sie nicht von außerhalb des Strafraums schießen sollten, weil dann die Wahrscheinlichkeit zu treffen niedriger ist als aus dem Sechzehnmeterraum. Heute könnte er es ihnen genau zeigen. Ein Schuss von außerhalb des Strafraums, sechs Meter von der Spielfeldmitte versetzt, hat eine fünfprozentige Chance ein Tor zu sein, einer von 20 Schüssen ist also drin. Ein paar Schritte weiter im Strafraum verdoppelt sich diese Chance schon.