Selbst wenn die junge Mannschaft nach furiosem Start zuletzt selten brillierte: Auch ohne Titelgewinn wäre diese Saison kein Misserfolg in Dortmund.
Vor ein paar Tagen hat Ewald Lienen beim Privatsender „Sky“ ein furioses Plädoyer für seinen Kollegen Lucien Favre gehalten. Zu bestaunen war ein typischer Lienen-Auftritt, sehr leidenschaftlich, emotional und deutlich formuliert. Es ging dabei um das Einhergehen von öffentlicher Kritik und Erwartungshaltung mit der Beurteilung der ersten Saison des Schweizer Trainers von Borussia Dortmund. Zum Beispiel um den ständigen Verweis darauf, Favre habe noch nie eine große Meisterschaft gewonnen. An dieser Stelle fing Lienen an zu lachen, na klar, „warum hat er denn auch mit Hertha, mit Gladbach und mit Nizza nicht den jeweiligen Landestitel geholt. Das kann ich auch nicht verstehen.“ Die Solidaritätserklärung gipfelte in der Empfehlung, Favres Kritiker mögen doch bitte „das Gehirn ein bisschen einschalten“.
Alles, was fehlte, war Konstanz
Es ist nicht bekannt, wie Lucien Favre darauf reagiert hat. Der Mann scheut die öffentliche Bühne, er redet nicht gern über sich und verweist lieber auf das, was auf dem Platz passiert. Das war eine Hinrunde lang überaus erfolgreich, mit einer jungen Mannschaft, großartigem Fußball und zeitweise neun Punkten Vorsprung auf den im Herbst schwächelnden FC Bayern München. Es gab Spiele, da war die Dortmunder Startelf im Durchschnitt nicht mal 24 Jahre alt. Lucien Favre hat Borussia Dortmund von neuen, großen Zeiten träumen lassen, er ist als Zauberer gefeiert worden und wird nun als Zauderer verdammt. Weil es nicht ganz so großartig weitergegangen ist und Borussia Dortmund widerfahren ist, was jungen Mannschaften nun mal widerfährt. Konstanz ist ein Privileg des Alters.
Also sprach Ewald Lienen: „Lucien Favre kommt nach Dortmund, die seit Jahren nichts mehr gewonnen haben. Die Dortmunder haben in den vergangenen Jahren wichtige Spieler verloren, wie Aubameyang, Mkhitaryan, Kagawa, Gündogan, Lewandowski, Hummels, Götze rein und raus. Ich hätte gerne mal die Bayern gesehen, wenn die über fünf, sechs Jahre fast die ganze Mannschaft verlieren.“ Favre hat den BVB komplett umgebaut, mit neuer Viererkette, neuem Mittelfeld und Mario Götze im neuen Angriff, in ungewohnter Rolle als Vorarbeiter für den ebenfalls neu verpflichteten Paco Alcacer. Dass diese Mannschaft so schnell so gut funktionierte, ist ein kleines Wunder, denn die individuelle Klasse hält dem Vergleich mit den Bayern kaum stand. Mal abgesehen von Favres Lieblingsschüler Marco Reus und dem gerade 18 Jahre jungen Jadon Sancho – wie viele Dortmunder hätten wohl die realistische Chance auf einen Stammplatz in München? Sind Paco Alcacer, Axel Witsel und Manuel Akanji besser als Robert Lewandowski, Thiago Alcantara und Niklas Süle?
Flirt mit dem Spielglück
Dortmund hat auch keine Kreativkräfte, wie sie Bayer Leverkusen mit Charles Aranguiz und Julian Brandt hat. Dortmund hat eine gut funktionierende Mannschaft, oder hatte sie jedenfalls. In der Hinrunde, als der Würfel im Zweifelsfall immer auf der richtigen Seite landete, die Euphorie den BVB zu grandiosen Siegen trug und Favre milde belächelt wurde, wenn er von der Arbeit sprach, die noch vor ihm liege.
In der Rückrunde fand der Flirt mit dem Spielglück ein Ende. Marco Reus war lange Zeit verletzt, wie auch so ziemlich alle Defensivstrategen. Immer wieder musste Favre die Viererkette neu justieren. Dazu gab es ein paar dumme Punktverluste und ein desaströses 0:5 bei den Bayern, zuletzt ein 2:4 im Ruhrderby gegen Schalke und ein 2:2 in Bremen, wo der BVB schon 2:0 geführt hatte. In der Rückrundentabelle reicht das immer noch zu Platz vier und im Gesamtklassement zu Platz zwei. Die Qualifikation für die Champions League ist längst geschafft und die Meisterschaft am vorletzten Spieltag immer noch nicht entschieden, was es in der Bundesliga seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gegeben hat. Das ist ein großartiger Erfolg für Borussia Dortmund, aber in der öffentlichen Wahrnehmung wird er heruntergebrochen auf das – wahrscheinliche – Verpassen der Meisterschaft. Und Schuld an allem ist der Trainer.