Ein Verein wie ein Erdbeben! Boca Juniors sind ein argentinisches Melodram und stehen sich oft genug selbst im Weg. Doch nirgendwo leben die Fans die Emotionen des Fußballs so intensiv aus wie hier.
Dieser Text erschien erstmals im Jahr 2015 in 11FREUNDE #164. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Dieser Sound. Was ist das für ein Sound. Man hört ihn schon von weitem, schon vor dem Spiel. Es sind keine Gesänge. Und auch keine Trommeln. Es ist eher ein Vibrieren. Ein Grummeln. Wie ein Güterzug in der Ferne.
Und dann erst am Stadion. Da hört man den Sound nicht nur. Man spürt ihn. Der Beton bewegt sich, er zittert. Er schwingt. Der Sound geht nun durch den Körper. Man spürt ihn auf dem Bürgersteig und in den Katakomben, man spürt ihn auf den Treppen. Wie ein schwaches Erdbeben, das nicht enden will.
Der Sound der Bombonera. Der Sound von La Boca
Dann ist man drin. In der Bombonera, der Pralinenschachtel. Nun wird alles klar. Der Sound kommt von den Populares, den Stehplätzen, von mehr als 10 000 Fans. Sie springen und landen auf dem Beton. Springen und landen. Trampeln und stampfen. Immer wieder, ohne Pause. 10 000 Betonspringer. 100 Tonnen Gewicht. Es ist der Sound des Sonntags, sagen sie. Der Sound der Bombonera. Der Sound von La Boca. Der Sound von „La 12“, als die die harten Fans von Boca Juniors bekannt sind. Ein Sound wie kein anderer auf dieser Welt.
Am stärksten kriegen ihn die Gegner zu spüren. Die Gästekabine liegt direkt unter den Stehplätzen. Die Fans rücken dort noch dichter zusammen. Und auf Kommando, wenn ein Informant ihnen mitteilt, dass die Ansprache des Trainers begonnen hat, trampeln und springen sie extra stark. So laut, dass kein Spieler da unten ein Wort versteht. Dann setzen die Trommeln und Gesänge ein. Sie singen: „Wir sind die Hälfte plus einer. Boca, ich trage dich in der Seele. Und jeden Tag liebe ich dich mehr.“
Es ist der Tag des Superclásicos Boca Juniors gegen River Plate in La Bombonera. Dem berühmtesten Stadion Südamerikas nach dem Maracanã in Rio. In jedem Fall dem lautestem. Und – anders als das Maracanã – stets ausverkauft. Sie könnten es bei jedem Heimspiel vier Mal füllen, selbst wenn Boca gegen den Tabellenletzten spielt. Gegen River Plate sogar zehn Mal.
Ein Superclásico ist wie kein anderes Match der Welt. Das liegt nicht nur an den bebenden Tribünen und den Fangesängen, die während der 90 Minuten nie enden. Songs über Liebe und Hingabe, als handele es sich um eine große Romanze. Es liegt auch an der Gehässigkeit, die die Spieler River Plates über sich ergehen lassen müssen. An den Schmähgesängen, die sie als „Gallinas“ verspotten – Hühner – und ihr Stadion, das Monumental, als „Gefriertruhe“. Es liegt auch an den gewaltigen Spruchbändern, die – in argentinischer Melodramatik – von Liebe und Tod erzählen: „Nicht mal der Tod wird uns trennen. Selbst im Himmel werde ich dich anfeuern, Boca.“
Die großen Derbys dieser Welt können nicht mithalten
Fans von River Plate sind bei diesem Superclásico nicht anwesend. In der Primera Division ist Gästefans der Zutritt bei Auswärtsspielen vor drei Jahren verboten worden. Es gab zu viele Ausschreitungen, zu viele Tote. Der Superclásico in der Copa Libertadores, der einige Wochen später stattfinden wird, muss zur Halbzeit sogar abgebrochen werden, weil Boca-Fans einige Spieler von River Plate mit Pfefferspray angreifen.
Das Land steht still an diesem Tag. Etwa 40 Prozent der Argentinier sind Fans von Boca Juniors, 30 Prozent von River Plate. Da können die großen Derbys dieser Welt nicht mithalten – Milan gegen Inter, Schalke gegen Dortmund oder Man United gegen City. Nicht mal Celtic gegen Rangers.