Wir bauen unsere Seite für dich um. Klicke hier für mehr Informationen.

Als der FC St. Pauli am Ende der Saison 2014/15 den Klas­sen­er­halt geschafft hatte, tat der Klub das, was er dem Kli­schee nach am besten kann: Schon auf dem Weg zum Fan-Son­derzug zurück in die Han­se­stadt brach eine Paadie“ los wie zu besten Welt­po­kal­sie­ger­be­sieger-Zeiten. Prä­si­dent Oke Gött­lich zerrte Coach Ewald Lienen vor lau­fender TV-Kamera vom Inter­view weg, has­tete mit ihm zur Stra­ßen­bahn, und noch vor Errei­chen des Bahn­hofs war die erste Astra-Knolle geköpft.

Zurück auf dem Kiez tin­gelten die Prot­ago­nisten durch Kneipen, bis Kon­di­ti­ons­trainer Janosch Emonts zu später Stunde in ein zer­sprun­genes Bier­glas griff. Gemäß des im Klub­e­thos ver­wur­zelten Soli­dar­prin­zips küm­merten sich Prä­si­dent und Trainer höchst­selbst um den Ver­letzten und fuhren ihn in die Not­auf­nahme nach Altona. Dort riss der junge Präses die Ver­ant­wor­tung an sich und ließ Lienen im War­te­zimmer zurück. Als nach zwei Stunden aber der Morgen graute und es keine Neu­ig­keiten aus dem Behand­lungs­raum gab, begann Lienen sich Sorgen zu machen. Er fand den blu­tenden Kon­di­ti­ons­trainer schließ­lich auf einer Liege, behelfs­mäßig ver­bunden, und neben ihm den Klub­boss, der in einen tiefen Schlaf gefallen war. Muss ich mich hier eigent­lich um alles küm­mern?“, schnauzte der Coach. Gött­lich schreckte hoch und brach in Gelächter aus, in das nach und nach alle ein­stimmten. Als wollten sie sagen: Das gibt’s so nur auf St. Pauli!

Der FC St. Pauli ist der Gegen­ent­wurf zum Kon­ser­va­tismus

Die Schnurre ent­hält alle Ingre­di­enzen, die dem Kiez­klub eine Son­der­stel­lung im Pro­fi­fuß­ball ein­ge­bracht haben: Freund­schaft und Empa­thie, Soli­da­rität und Nah­bar­keit, Humor und Chaos. Zudem zeugt sie von der schmalen Grenze zwi­schen Tri­umph und Leid, die St. Pauli und seine Gefolg­schaft über Jahre zu einer Wer­te­ge­mein­schaft ver­schmolzen und dafür gesorgt haben, dass der Klub heute einen Lebens­stil ver­kör­pert, mit dem sich viele iden­ti­fi­zieren. Der Kern der Phi­lo­so­phie ist etwas, das der Gesell­schaft zuneh­mend abhanden zu kommen scheint: Die stän­dige Frage, ob man mit seinen Mit­men­schen richtig umgeht. Das macht den FC St. Pauli für viele zu einer Heimat, in der es um deut­lich mehr geht als Fuß­ball. Der FC St. Pauli ist der Gegen­ent­wurf zum Kon­ser­va­tismus, zum Estab­lish­ment.

Doch das Modell hat längst auch anderswo Schule gemacht. Spa­ßige Wer­be­kam­pa­gnen, iro­ni­scher Umgang mit Feh­lern und Nie­der­lagen, der direkte Dialog mit den Anhän­gern – das haben inzwi­schen fast alle Bun­des­li­gisten drauf. Beim VfB Stutt­gart hofft man, dass mit der Ver­pflich­tung von St. Pauli-Schlacht­ross André Trulsen als Co-Trainer ein biss­chen Kult“ Einzug hält. Der 1. FC Union gibt sich heute auf undog­ma­ti­sche Art unan­ge­passt und fannah. Inzwi­schen kommt sogar der Live­ti­cker von Hertha BSC bis­weilen wie ein Comedy-Standup daher. Das St. Pauli-Gefühl ist längst im Main­stream ange­kommen.

Im Ver­gleich zu früher fehlt es mir manchmal an Ironie auf den Rängen“

Kurio­ser­weise hat diese Ent­wick­lung beim Urheber für eine neue Ernst­haf­tig­keit gesorgt. Die all­ge­gen­wär­tige Leich­tig­keit, der Humor, die Anar­chie frü­herer Tage sucht man mit­unter ver­geb­lich. Im Ver­gleich zu früher fehlt es mir manchmal an Ironie auf den Rängen“, sagt Sven Brux. Wenn es einer beur­teilen kann, dann er. Brux ist ein Veteran der Fan-Szene. Punk, Grün­dungs­mit­glied des Mill­erntor Roar“ und des Fan­bünd­nisses BAFF, Alles­fahrer. Heute ist er beim Klub für die Sicher­heit im Sta­dion ver­ant­wort­lich und steht nicht nur des­halb bei­spiel­haft für den Marsch durch die Insti­tu­tionen, den manche Fans in den letzten drei Jahr­zehnten ange­treten haben.

An Brux aber zeigt sich, dass auch Punks über Gene­ra­tio­nen­kon­flikte nicht erhaben sind. Für einige Hart­ge­sot­tene aus der Ultra-Szene ist die Gali­ons­figur für Fan-Inte­gra­tion nur noch eine Art Ober­bulle im Sta­dion, von dem man sich besser fern­hält. Brux, der stets von einem Klub geträumt hat, der sich in seinen Struk­turen der Basis­de­mo­kratie annä­hert, ist über­rascht, wie dog­ma­tisch sich der Fan-Nach­wuchs mit­unter gibt: Man­cher trägt seine Poli­tical Cor­rect­ness wie eine Mons­tranz vor sich her. Die sollten ver­stehen, dass nicht nur sie allein St. Pauli ver­kör­pern. Ich kenne zum Bei­spiel noch viele Rocker aus dem Hafen­mi­lieu, die seit ewigen Zeit her­kommen, die anders spre­chen, anders denken und sich auch nicht unbe­dingt vegan ernähren. Die gehören min­des­tens genauso zu diesem Klub.“ Auch das ist St. Pauli im Jahr 2015.