Seinen Zenit hat Yuri Zhirkov bereits überschritten. Doch die WM ist seine vielleicht letzte Chance, noch einmal der ganzen Welt zu beweisen, was für ein großartiger Fußballer er ist.
„Zhirkooooov!“ schreit der Kommentator in die Nacht des 19. Oktober 2010. Ein verrücktes Tor gegen Spartak Moskau, ausgerechnet jener Verein, der ihn 2003 nicht haben wollte, ist das erste (und einzige) Tor des Russen Yuri Zhirkov im Trikot des FC Chelsea. Es ist ein russischer Kommentator, der diesen Treffer beschreit – und er er betont den Namen seines Landsmannes erstaunlicherweise so, wie es seine Kollegen aus England getan hätten. Ein Jahr hat der FC Chelsea auf das erste Tor seines Neuzugangs warten müssen. Es scheint, als habe sich Zhirkov diesen Treffer aufgehoben. Für den ganz besonderen Moment der Genugtuung.
Das junge Talent ernährte die Familie – im wahrsten Sinne des Wortes
Der russische Fußball ist gegenwärtig nicht gerade mit Spielern gesegnet, die man gemeinhin als „schlafende Riesen“ bezeichnen würde. Roman Pavlyuchenko, das war es dann auch. Falsch. Es stimmt, dass Nationaltrainer Guus Hiddink dieses Urteil lediglich über den ehemaligen Stürmer der Tottenham Hotspur fällte. Aber eines dieser „Fußball-Monster“ entwickelte sich auch in einem geheimen Laboratorium, das wir an dieser Stelle der Einfachheit halber Tambov nennen wollen. In Tambov, einer Stadt in den Weiten Sibiriens, wurde unser Gigant geboren. Hier lernte er das Fußballspielen – und zwar nicht nur aus Spaß an der Sache, sondern um dem Elend der Armut zu entfliehen. Für die Familie war der kleine Yuri ein Versprechen für die Zukunft. Das ist im Falle Zhirkovs keine Floskel: Bereits als Teenager zeigte er bei Turnieren sein außergewöhnliches Talent. Bezahlt wurde er mit Essen, das im bettelarmen Haushalt Zhirkov dringend benötigt wurde.
Als er bei besagten Turnieren immer besser wurde, nahmen auch die großen russischen Klubs Notiz von diesem Talent aus Sibirien. Darunter auch Sparta Moskau, doch der damalige Trainer Oleg Romantsev verhinderte schließlich den Kauf des Jünglings, er sei zu dünn und schwächlich für die russische Elite, so Romantsev. Das war 2003, sechs Jahre später sollte Zhirkov in die härteste und beste Liga der Welt wechseln. Wie man sich täuschen kann. Statt Sparta machte Stadtrivale ZSKA 2004 das Rennen um das Talent. Schon in seinen ersten Spielen für den neuen Klub stellte Zhrikov sein Können unter Beweis. Ein Jahr später führte er seine Mannschaft zum Triple aus Meisterschaft, Pokal und Uefa-Cup-Sieg, bereits 2004 hatte er sein Debüt in der Nationalmannschaft gefeiert. Ein russischer Star war geboren. Und die Fans von Spartak Moskau bissen sich beim Gedanken an die verpasste Gelegenheit beinahe die Unterlippen ab. Man stelle sich das vor: Als wenn der FC Liverpool den jungen Wayne Rooney einst aussortiert hätte, nur um Jahre später von den Fans von Manchester United die lange Nase gezeigt zu bekommen. Kein schönes Gefühl, nicht wahr?
Zhirkov wollte zu den Bayern, die Bosse entschieden sich für Chelsea
Die folgenden Jahre begeisterte er fortan mit den ihm so typischen Fähigkeiten: messerscharfe Flanken und Pässe in die Spitze, schnelle Antritte in die Offensive, Zweikampfstärke – aus dem einst zu dünnen Teenager wuchs in Rekordzeit ein echter Allrounder. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Größen Europas bei den Verantwortlichen von ZSKA vorstellig werden würden. Spätestens nachdem Zhirkov bei der Europameisterschaft 2008 ein überragendes Turnier geboten hatte und als Belohnung in die „Elf des Turniers“ gewählt wurde. Letztlich machte der FC Chelsea das Rennen, dabei wäre Zhirkov eigentlich beinahe zum FC Bayern gewechselt. Die Münchener hatten dem Russen ein großzügiges Angebot unterbreitet und der ließ sich in Interviews mit den Worten zitieren: „Der deutsche Fußball und die deutsche Kultur passen einfach besser zu mir.“ Doch weil zwei gute alte russische Geschäftspartner, ZSKA-Präsident Evgenyi Giner und ein gewisser Roman Abramovich, über Zhirkovs Zukunft entschieden, landeten der schließlich 2009 beim FC Chelsea.
Wie sich sehr bald herausstellen sollte, passten Zhirkov und der englische Fußball ebenfalls gut zueinander. Zhirkov, von Haus aus ein harter Arbeiter, kombinierte seine physische Power mit seiner beinahe südamerikanischen Eleganz und etablierte sich zunächst zum festen Bestandteil der Londoner. Von seiner spektakulären Ballbehandlung schwärmen selbst Experten. Vagner Love, einer der besten Brasilianer, die jemals in der russischen Liga spielten, sagte einst über Zhirkov: „Ich habe wirklich starke Zweifel daran, dass der Kerl in Russland geboren sein soll. Ich glaube eher, dass er seine gesamte Kindheit am Strand der Copacabana verbracht hat. Nur so kann ich mir erklären, warum Yuri so verdammt gut mit dem Ball umgehen kann.“
Rückkehr nach Russland
Ähnliches sagte auch André Villas-Boas, als er 2011 beim FC Chelsea als Trainer anheuerte. Doch da war Yuri Zhirkov schon verkauft. Diesmal hatte er selbst über seine Zukunft entscheiden wollen. Und die hieß: Russland, Anschi Machatschkala.
Sicher, Zhirkov hatte auch in England große Momente, Spiele, in denen er seine ganze Klasse beweisen konnte. Spektakuläre Szenen, die man als Großvater stolz seinen Enkeln zeigen kann. Doch letztlich war der schüchterne Junge aus Sibirien einfach nicht gemacht für den knüppelharten Überlebenskampf in einer der besten Ligen der Welt. Der Druck, ausgehend von der Presse, den Konkurrenten um den Stammplatz, den Fans, den Trainern – er wurde Yuri Zhirkov einfach zu viel.
Dass er sich ausgerechnet für die mit viel Geld aus dubiosen Quellen zusammengekaufte Söldner-Truppe von Anschi entschied, brachte ihm viel Gegenwind in der Heimat ein. Monatelang pfiffen ihn die eigenen Landsleute bei Heimspielen der Nationalmannschaft aus. Und auch wenn das bald aufhörte, so hängt ihm bis heute der Spitzname „Magomed“ nach. Magomed ist ein typischer Vorname aus der Region Dagestan, wo Anschi beheimatet ist.
Der russische Brasilianer
Seit 2013 spielt Zhirkov für Dynamo Moskau. Auch hier ist er mit einem sehr opulenten Vertrag ausgestattet worden. Am Geld mangelt es nicht bei den großen russischen Klubs, Dynamo ist lediglich der neureichste aller neureichen Vereine. Inzwischen ist Zhirkov 30 Jahre alt, seinem Zenit hat er bereits überschritten. Aber für Russlands Nationaltrainer Fabio Capello ist er trotzdem unersetzlich. Einen ähnlich variablen Spieler hat der Italiener derzeit nicht zur Verfügung. Zhirkov ist auf gleich vier Positionen einsetzbar: linker Verteidiger, linkes Mittelfeld, defensives zentrales Mittelfeld, Innenverteidiger. Der schüchterne Junge aus Sibirien ist erwachsen geworden. Brasilien wird seine zweite und wohl auch seine letzte Weltmeisterschaft. Vagner Love würde sagen: Yuri Zhirkov kehrt zurück in seine Heimat. Mal sehen, was der russische Brasilianer noch so alles drauf hat.