Der 1. FC Magdeburg, Europapokalsieger von 1974, hat wilde Zeiten hinter sich. Jetzt wagt der Klub, inzwischen in der Regionalliga angekommen, schon wieder einen Neuanfang. Die Hoffnung der Verantwortlichen ist groß, dass diesmal alles besser wird.
7.899. Genau jene Zahl prangte am vergangenen Samstag beim Spiel des 1. FC Magdeburg gegen den VfB Auerbach von der Anzeigetafel des Magdeburger Stadions. 7.899 Zuschauer waren es also, die das 1:0 des FCM am ersten Spieltag der Regionalliga Nordost verfolgten. Damit stand fest, dass die, in einer Wochen zuvor gestarteten „Aktion 10.000“, angestrebte Zuschauerzahl verfehlt wurde. Die Ultras der Elbestädter hatten tagelang mit einem Infostand in der Innenstadt aufgewartet, um mit Gutscheinen und Flyern die symbolische fünfstellige Besucherzahl in die heimische Arena zu locken. Die Masse, die vor Ort war – ohne Zweifel respektabel genug für ein Viertligaspiel gegen den Fußball-Nobody aus Auerbach – ließ zumindest stimmungsmäßig die fehlenden 2.111 Personen in Vergessenheit geraten.
Auch Mario Kallnk, Magdeburger Präsidiumsmitglied, konnte der Aktion letztendlich nur Positives abgewinnen: „Unabhängig von der Zuschauerzahl war es schon ein Erfolg, dass Fans und Verein so gut zusammengearbeitet haben.“ In diesem Satz liegt einige Schwere und Kallniks Freude über die scheinbar frische Liebe zwischen Anhängern und dem Verein zeigt, wie viel kaputt gegangen sein muss in letzter Zeit. „Wir haben uns in der Vergangenheit nach hinten entwickelt“, analysiert der 37-jährige knapp. Mehr sagt er dazu nicht, auch weil Mario Kallnik eher den Eindruck vermitteln möchte, optimistisch nach vorne zu schauen als verpassten Chancen hinterher zu trauern. Deshalb bleibt das Wort „Vergangenheit“ in seinen Sätzen auch alleine stehen. In einer Fußballstadt wie Magdeburg ist man dann stets geneigt zu fragen, von welcher Vergangenheit denn die Rede sei. DDR? Die Zeit vor 20 Jahren? Das letzte halbe Jahr?
Als Letzter stieg man nur aufgrund der Regionalligareform nicht ab
Der 11. Mai 2012 ist bereits solch ein fest abgeschlossenes Kapitel, dabei hätte es ein historisches Datum für den 1. FC Magdeburg werden können. Allerdings keines für den Briefkopf, sondern eine schmälernde Randnotiz in der Fußball-Chronik des in der Viertklassigkeit dümpelnden Traditionsvereins. Fast ein ganzes Jahr blieben die Blau-Weißen ohne Heimsieg, bis zwei Wochen vor Torschluss ein schwaches 2:0 über den SV Wilhelmshaven dem Fluch ein Ende bereitete. In der Saison 2011/12 sahen die Fans ganze vier Trainer und eine Mannschaft, deren letzter Tabellenplatz nur durch die kontrovers diskutierte Regionalliga-Reform nicht den Abstieg zur Folge hatte.
So tat man, was man immer tat: Schlussstrich ziehen und einen Neustart wagen. Was allerdings in den vergangenen Jahren in schöner Regelmäßigkeit immer tiefer in den Sumpf führte, sollte diesmal auch wirklich gelingen. Nur wie? „Wir haben jetzt komplett umstrukturiert“, bilanziert Mario Kallnik. Das fing bei seiner Position an. Von 2001 bis 2008 trat er für den Europapokalsieger von 1974 gegen den Ball und verkörperte eher den ehrlichen Arbeiter als den grazilen Fußballer. Nun ist er als Präsidiumsmitglied für den sportlichen Bereich zuständig. Dem neuen Coach Andreas Petersen gelang 2011 mit der Germania im nur 50 Kilometer entfernten Halberstadt mit bescheidenen Mitteln der überraschende Aufstieg in die Regionalliga. Dazu gesellen sich mit Frank Windelband ein Co-Trainer, der die alten Europapokalabende nicht nur vom Hörensagen kennt, sowie mit Ex-Torhüter Christian Beer ein Torwarttrainer und Publikumsliebling. Die neue Erfolgsformel baut also auf Lokalkolorit und nochmals Lokalkolorit. Mit ihr soll der erfolgreiche Sprung in die Zukunft gelingen.
Zum Saisonstart Ende Juli empfing man als Testspielgegner mit dem FC Schalke 04 allerdings einen Verein, der auf den Rängen dazu einlud, mit wehmütigem Pathos auf die Zeiten zurückzublicken, als man mit den heutigen Freundschaftsspielgegnern auf einer Stufe stand. Betagte Herren erklärten mit feuchten Augen, wie man die Schalker im UEFA-Pokal 1977 locker mit 4:2 und 3:1 aus dem Wettbewerb gekegelt hatte. Ein Bierchen später war man schon beim ‘74er 2:0‑Finalsieg im Cup der Pokalsieger gegen den AC Mailand. Ein Triumph wie ein Stigma – leuchtend und große Bürde zugleich. Die Erzählungen vor dem geistigen Auge mit den vielen „Weißt du noch?“ und „Damals“ wirkten, als könnten sie die trostlose Realität des 1. FC Magdeburg einfach wegwischen.
Dabei löste sich die Fan-Seele in Magdeburg in der jüngeren Vergangenheit eigentlich vom Klammergriff an den vergötterten Europapokalhelden. Eine „Generation Amateurfußball“ ist herangewachsen, die vielmehr dem in letzter Minute verpassten Zweitliga-Aufstieg 2007 nachtrauert, als längst verblichenen Europapokalschlachten. 2007 wäre ihr 1974 gewesen. Als die Stadt vor über fünf Jahren ihr Herz für den Club wiederentdeckte, verpasste der Verein den erstmaligen Sprung in den Profifußball, und wartet, wartet bis heute, wartet über 20 Jahre seit der politischen Wende.
Und die leidgeprüfte Anhängerschaft anno 2012 wird sich weiterhin in Geduld üben müssen. In den vergangenen fünf Jahren verzeichnete der FCM zehn Trainerwechsel. Dabei reichte die Riege der Trainertypen vom Mann mit Stallgeruch, vielversprechendem Neuling, Nachwuchscoach, Feuerwehrmann, profierfahrenem Haudegen bis hin zum ausländischen Konzepttrainer. Gescheitert sind letztendlich alle am fehlenden Erfolg und dem zunehmenden Druck im Vereinsumfeld.
„Cottbus haben wir früher in Badelatschen weggepustet!“
So regelmäßig die Zukunftspläne überworfen wurden, so häufig wurde Unruhe von außen über die Medien in den Verein getragen. In ihrer Sorge um den Club nutzten ehemalige Spieler die Zeitung als Sprachrohr und gaben damit dem Affen Zucker. So tönte FCM-Legende Wolfgang „Maxe“ Steinbach vor dem DFB-Pokalspiel 2009 gegen den FC Energie Cottbus: „Wer ist eigentlich Cottbus? Die haben wir früher in Badelatschen weggepustet!“ Mag diese Äußerung auch augenzwinkernd gemeint gewesen sein, zeigt sie doch die heutzutage anscheinend unüberwindbare Diskrepanz zwischen Anspruchsdenken und Realität. Seit der Abwicklung des DDR-Sports sucht der FCM nach seiner Rolle in Fußballdeutschland und erweckt dabei oft den Eindruck, noch im Körper eines Europapokalsiegers gefangen zu sein, mit den 74er-Schuhen spielend, die mittlerweile wie Blei an den Füßen hängen.
Dabei ist das einzige Vermächtnis aus der alten Zeit das große Zuschauerpotenzial. Es gibt wenige Vereine in Deutschland, die auch in der vierten Liga noch bis zu fünfstellige Zuschauerzahlen aufweisen können – der 1. FC Magdeburg gehört dazu.
Trotz dieses Pfunds, mit dem die Elbestädter wuchern können, ist in den vergangenen Monaten eine neue Bescheidenheit eingekehrt. Präsidiumsmitglied Kallnik wird nicht müde zu betonen, dass ein Aufstieg in die dritte Liga frühestens im Jahr 2015 zu realisieren sei: „Wer mit ein bisschen Fußball-Sachverstand an die Sache herangeht, der wird erkennen, dass ein Neuaufbau mindestens drei Spielzeiten benötigt. Das ist der normale Weg.“ Kallnik hatte diesen Prozess mit dem Club selbst erlebt. 2002 blieb er nach der Insolvenz als Leitwolf für eine Truppe aus A‑Junioren und Akteuren der zweiten Mannschaft. 2006 gelang die Rückkehr in die dritte Liga.
Der neue Trainer Andreas Petersen spart dagegen nicht mit Kritik an Vorstand und Vorgängern, die die Anhänger mit falschen Versprechungen abgespeist und zu oft von der 2. und 3. Liga gesprochen hätten. „Unsere Basis ist und muss die Regionalliga sein“, so der Vater von Bundesliga-Profi Nils Petersen. Das klingt so pragmatisch wie bescheiden, genau wie das Saisonziel Klassenerhalt – in einer Staffel, die mit Unbekannten wie TSG Neustrelitz, Optik Rathenow und Torgelower SV Greif, den alten DDR-Weggefährten Lok Leipzig, FSV Zwickau sowie Carl-Zeiss Jena, und dem bunten Fußball-Kunstprodukt RB Leipzig, so eigenartig wie unterschiedlich besetzt ist. Dem Lokalrivalen und Drittliga-Aufsteiger Hallescher FC, den man über Jahre eher belächelt als ernst genommen hat, schaut man mit einer merkwürdigen Mischung aus Neid und Trotz hinterher.
Endlich aus den Fehlern der Vergangenheit lernen
Erreichen will Petersen das Saisonziel mit einem Team, das weitestgehend aus Namenlosen besteht – abgesehen von Cottbus‘ Ex-Bundesligaprofi Marco Kurth und dem einstigen Nachwuchs-Auswahlspieler Christopher Reinhard. Kurioserweise scheint die Hauptaufgabe des Duos Kallnik/Petersen auf außersportlichem Feld zu liegen: Alle Kräfte im Verein sollen das erste Mal seit langem wieder an einem Strang ziehen, um das wirtschaftliche Umfeld vom neuen Weg der Bescheidenheit zu überzeugen. In der Vergangenheit glich der aufgestaute Erwartungsdruck stets einem Pulverfass. Doch aus den Fehlern scheint man gelernt zu haben. Mittlerweile wurden auch einige ehemalige Spieler wie Wolfgang Seguin und Dirk Stahmann in ein beratendes Kompetenzteam berufen. Man bemüht sich, miteinander statt übereinander zu sprechen. Seguin, der im Finale 1974 gegen den AC Mailand das entscheidende 2:0 schoss und nun jenem Sportbeirat angehört, ist daher optimistisch gestimmt: „Ich habe den Eindruck, dass offener miteinander umgegangen wird. Es wird das Gespräch gesucht.“ Natürlich entscheide die sportliche Leitung alleine, so der mittlerweile 66-Jährige, aber er habe das Gefühl, dass der Rat der Älteren erwünscht sei. „Ein Anfang ist gemacht. Ich bin angenehm überrascht von den vergangenen Wochen“, so der Rekordspieler des 1. FCM (529 Einsätze). Zumindest nach außen gelingt es dem Verein, ein einheitlicheres, harmonischeres Bild als zuletzt auszustrahlen.
Doch in einem Ergebnissport wie Fußball sind solche Maßnahmen reine Makulatur, wenn sich nicht zumindest mittelfristig wieder Erfolg einstellt. Fußball-Magdeburg wird sich in den nächsten Jahren weiter gedulden müssen, trotz eines riesigen Potenzials und großer Historie, trotz eines länderspieltauglichen Stadions und eines professionellen Nachwuchsleistungszentrums. Dabei ist Geduld eine Eigenschaft, die so nicht in den Wortschatz des Vereins passt. Der 1. FC Magdeburg wird sie lernen müssen. Am vergangenen Sonntag hat sich die neue Magdeburger Tugend erstmals ausgezahlt: Das Spiel gegen Auerbach wurde mit 1:0 gewonnen.