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7.899. Genau jene Zahl prangte am ver­gan­genen Samstag beim Spiel des 1. FC Mag­de­burg gegen den VfB Auer­bach von der Anzei­ge­tafel des Mag­de­burger Sta­dions. 7.899 Zuschauer waren es also, die das 1:0 des FCM am ersten Spieltag der Regio­nal­liga Nordost ver­folgten. Damit stand fest, dass die, in einer Wochen zuvor gestar­teten Aktion 10.000“, ange­strebte Zuschau­er­zahl ver­fehlt wurde. Die Ultras der Elbe­städter hatten tage­lang mit einem Info­stand in der Innen­stadt auf­ge­wartet, um mit Gut­scheinen und Flyern die sym­bo­li­sche fünf­stel­lige Besu­cher­zahl in die hei­mi­sche Arena zu locken. Die Masse, die vor Ort war – ohne Zweifel respek­tabel genug für ein Viert­li­ga­spiel gegen den Fuß­ball-Nobody aus Auer­bach – ließ zumin­dest stim­mungs­mäßig die feh­lenden 2.111 Per­sonen in Ver­ges­sen­heit geraten.

Auch Mario Kallnk, Mag­de­burger Prä­si­di­ums­mit­glied, konnte der Aktion letzt­end­lich nur Posi­tives abge­winnen: Unab­hängig von der Zuschau­er­zahl war es schon ein Erfolg, dass Fans und Verein so gut zusam­men­ge­ar­beitet haben.“ In diesem Satz liegt einige Schwere und Kall­niks Freude über die scheinbar fri­sche Liebe zwi­schen Anhän­gern und dem Verein zeigt, wie viel kaputt gegangen sein muss in letzter Zeit. Wir haben uns in der Ver­gan­gen­heit nach hinten ent­wi­ckelt“, ana­ly­siert der 37-jäh­rige knapp. Mehr sagt er dazu nicht, auch weil Mario Kallnik eher den Ein­druck ver­mit­teln möchte, opti­mis­tisch nach vorne zu schauen als ver­passten Chancen hin­terher zu trauern. Des­halb bleibt das Wort Ver­gan­gen­heit“ in seinen Sätzen auch alleine stehen. In einer Fuß­ball­stadt wie Mag­de­burg ist man dann stets geneigt zu fragen, von wel­cher Ver­gan­gen­heit denn die Rede sei. DDR? Die Zeit vor 20 Jahren? Das letzte halbe Jahr?

Als Letzter stieg man nur auf­grund der Regio­nal­li­gare­form nicht ab

Der 11. Mai 2012 ist bereits solch ein fest abge­schlos­senes Kapitel, dabei hätte es ein his­to­ri­sches Datum für den 1. FC Mag­de­burg werden können. Aller­dings keines für den Brief­kopf, son­dern eine schmä­lernde Rand­notiz in der Fuß­ball-Chronik des in der Viert­klas­sig­keit düm­pelnden Tra­di­ti­ons­ver­eins. Fast ein ganzes Jahr blieben die Blau-Weißen ohne Heim­sieg, bis zwei Wochen vor Tor­schluss ein schwa­ches 2:0 über den SV Wil­helms­haven dem Fluch ein Ende berei­tete. In der Saison 2011/12 sahen die Fans ganze vier Trainer und eine Mann­schaft, deren letzter Tabel­len­platz nur durch die kon­tro­vers dis­ku­tierte Regio­nal­liga-Reform nicht den Abstieg zur Folge hatte.

So tat man, was man immer tat: Schluss­strich ziehen und einen Neu­start wagen. Was aller­dings in den ver­gan­genen Jahren in schöner Regel­mä­ßig­keit immer tiefer in den Sumpf führte, sollte diesmal auch wirk­lich gelingen. Nur wie? Wir haben jetzt kom­plett umstruk­tu­riert“, bilan­ziert Mario Kallnik. Das fing bei seiner Posi­tion an. Von 2001 bis 2008 trat er für den Euro­pa­po­kal­sieger von 1974 gegen den Ball und ver­kör­perte eher den ehr­li­chen Arbeiter als den gra­zilen Fuß­baller. Nun ist er als Prä­si­di­ums­mit­glied für den sport­li­chen Bereich zuständig. Dem neuen Coach Andreas Petersen gelang 2011 mit der Ger­mania im nur 50 Kilo­meter ent­fernten Hal­ber­stadt mit beschei­denen Mit­teln der über­ra­schende Auf­stieg in die Regio­nal­liga. Dazu gesellen sich mit Frank Win­del­band ein Co-Trainer, der die alten Euro­pa­po­kal­a­bende nicht nur vom Hören­sagen kennt, sowie mit Ex-Tor­hüter Chris­tian Beer ein Tor­wart­trainer und Publi­kums­lieb­ling. Die neue Erfolgs­formel baut also auf Lokal­ko­lorit und noch­mals Lokal­ko­lorit. Mit ihr soll der erfolg­reiche Sprung in die Zukunft gelingen.

Zum Sai­son­start Ende Juli emp­fing man als Test­spiel­gegner mit dem FC Schalke 04 aller­dings einen Verein, der auf den Rängen dazu einlud, mit weh­mü­tigem Pathos auf die Zeiten zurück­zu­bli­cken, als man mit den heu­tigen Freund­schafts­spiel­geg­nern auf einer Stufe stand. Betagte Herren erklärten mit feuchten Augen, wie man die Schalker im UEFA-Pokal 1977 locker mit 4:2 und 3:1 aus dem Wett­be­werb geke­gelt hatte. Ein Bier­chen später war man schon beim 74er 2:0‑Finalsieg im Cup der Pokal­sieger gegen den AC Mai­land. Ein Tri­umph wie ein Stigma – leuch­tend und große Bürde zugleich. Die Erzäh­lungen vor dem geis­tigen Auge mit den vielen Weißt du noch?“ und Damals“ wirkten, als könnten sie die trost­lose Rea­lität des 1. FC Mag­de­burg ein­fach weg­wi­schen.

Dabei löste sich die Fan-Seele in Mag­de­burg in der jün­geren Ver­gan­gen­heit eigent­lich vom Klam­mer­griff an den ver­göt­terten Euro­pa­po­kal­helden. Eine Gene­ra­tion Ama­teur­fuß­ball“ ist her­an­ge­wachsen, die viel­mehr dem in letzter Minute ver­passten Zweit­liga-Auf­stieg 2007 nach­trauert, als längst ver­bli­chenen Euro­pa­po­kal­schlachten. 2007 wäre ihr 1974 gewesen. Als die Stadt vor über fünf Jahren ihr Herz für den Club wie­der­ent­deckte, ver­passte der Verein den erst­ma­ligen Sprung in den Pro­fi­fuß­ball, und wartet, wartet bis heute, wartet über 20 Jahre seit der poli­ti­schen Wende.
Und die leid­ge­prüfte Anhän­ger­schaft anno 2012 wird sich wei­terhin in Geduld üben müssen. In den ver­gan­genen fünf Jahren ver­zeich­nete der FCM zehn Trai­ner­wechsel. Dabei reichte die Riege der Trai­ner­typen vom Mann mit Stall­ge­ruch, viel­ver­spre­chendem Neu­ling, Nach­wuchs­coach, Feu­er­wehr­mann, pro­fi­erfah­renem Hau­degen bis hin zum aus­län­di­schen Kon­zept­trainer. Geschei­tert sind letzt­end­lich alle am feh­lenden Erfolg und dem zuneh­menden Druck im Ver­eins­um­feld.

Cottbus haben wir früher in Bade­lat­schen weg­ge­pustet!“

So regel­mäßig die Zukunfts­pläne über­worfen wurden, so häufig wurde Unruhe von außen über die Medien in den Verein getragen. In ihrer Sorge um den Club nutzten ehe­ma­lige Spieler die Zei­tung als Sprach­rohr und gaben damit dem Affen Zucker. So tönte FCM-Legende Wolf­gang Maxe“ Stein­bach vor dem DFB-Pokal­spiel 2009 gegen den FC Energie Cottbus: Wer ist eigent­lich Cottbus? Die haben wir früher in Bade­lat­schen weg­ge­pustet!“ Mag diese Äuße­rung auch augen­zwin­kernd gemeint gewesen sein, zeigt sie doch die heut­zu­tage anschei­nend unüber­wind­bare Dis­kre­panz zwi­schen Anspruchs­denken und Rea­lität. Seit der Abwick­lung des DDR-Sports sucht der FCM nach seiner Rolle in Fuß­ball­deutsch­land und erweckt dabei oft den Ein­druck, noch im Körper eines Euro­pa­po­kal­sie­gers gefangen zu sein, mit den 74er-Schuhen spie­lend, die mitt­ler­weile wie Blei an den Füßen hängen.

Dabei ist das ein­zige Ver­mächtnis aus der alten Zeit das große Zuschau­er­po­ten­zial. Es gibt wenige Ver­eine in Deutsch­land, die auch in der vierten Liga noch bis zu fünf­stel­lige Zuschau­er­zahlen auf­weisen können – der 1. FC Mag­de­burg gehört dazu.

Trotz dieses Pfunds, mit dem die Elbe­städter wuchern können, ist in den ver­gan­genen Monaten eine neue Beschei­den­heit ein­ge­kehrt. Prä­si­di­ums­mit­glied Kallnik wird nicht müde zu betonen, dass ein Auf­stieg in die dritte Liga frü­hes­tens im Jahr 2015 zu rea­li­sieren sei: Wer mit ein biss­chen Fuß­ball-Sach­ver­stand an die Sache her­an­geht, der wird erkennen, dass ein Neu­aufbau min­des­tens drei Spiel­zeiten benö­tigt. Das ist der nor­male Weg.“ Kallnik hatte diesen Pro­zess mit dem Club selbst erlebt. 2002 blieb er nach der Insol­venz als Leit­wolf für eine Truppe aus A‑Junioren und Akteuren der zweiten Mann­schaft. 2006 gelang die Rück­kehr in die dritte Liga.

Der neue Trainer Andreas Petersen spart dagegen nicht mit Kritik an Vor­stand und Vor­gän­gern, die die Anhänger mit fal­schen Ver­spre­chungen abge­speist und zu oft von der 2. und 3. Liga gespro­chen hätten. Unsere Basis ist und muss die Regio­nal­liga sein“, so der Vater von Bun­des­liga-Profi Nils Petersen. Das klingt so prag­ma­tisch wie bescheiden, genau wie das Sai­son­ziel Klas­sen­er­halt – in einer Staffel, die mit Unbe­kannten wie TSG Neu­stre­litz, Optik Rathenow und Tor­ge­lower SV Greif, den alten DDR-Weg­ge­fährten Lok Leipzig, FSV Zwi­ckau sowie Carl-Zeiss Jena, und dem bunten Fuß­ball-Kunst­pro­dukt RB Leipzig, so eigen­artig wie unter­schied­lich besetzt ist. Dem Lokal­ri­valen und Dritt­liga-Auf­steiger Hal­le­scher FC, den man über Jahre eher belä­chelt als ernst genommen hat, schaut man mit einer merk­wür­digen Mischung aus Neid und Trotz hin­terher.

End­lich aus den Feh­lern der Ver­gan­gen­heit lernen

Errei­chen will Petersen das Sai­son­ziel mit einem Team, das wei­test­ge­hend aus Namen­losen besteht – abge­sehen von Cottbus‘ Ex-Bun­des­li­ga­profi Marco Kurth und dem eins­tigen Nach­wuchs-Aus­wahl­spieler Chris­to­pher Rein­hard. Kurio­ser­weise scheint die Haupt­auf­gabe des Duos Kallnik/​Petersen auf außer­sport­li­chem Feld zu liegen: Alle Kräfte im Verein sollen das erste Mal seit langem wieder an einem Strang ziehen, um das wirt­schaft­liche Umfeld vom neuen Weg der Beschei­den­heit zu über­zeugen. In der Ver­gan­gen­heit glich der auf­ge­staute Erwar­tungs­druck stets einem Pul­ver­fass. Doch aus den Feh­lern scheint man gelernt zu haben. Mitt­ler­weile wurden auch einige ehe­ma­lige Spieler wie Wolf­gang Seguin und Dirk Stah­mann in ein bera­tendes Kom­pe­tenz­team berufen. Man bemüht sich, mit­ein­ander statt über­ein­ander zu spre­chen. Seguin, der im Finale 1974 gegen den AC Mai­land das ent­schei­dende 2:0 schoss und nun jenem Sport­beirat ange­hört, ist daher opti­mis­tisch gestimmt: Ich habe den Ein­druck, dass offener mit­ein­ander umge­gangen wird. Es wird das Gespräch gesucht.“ Natür­lich ent­scheide die sport­liche Lei­tung alleine, so der mitt­ler­weile 66-Jäh­rige, aber er habe das Gefühl, dass der Rat der Älteren erwünscht sei. Ein Anfang ist gemacht. Ich bin ange­nehm über­rascht von den ver­gan­genen Wochen“, so der Rekord­spieler des 1. FCM (529 Ein­sätze). Zumin­dest nach außen gelingt es dem Verein, ein ein­heit­li­cheres, har­mo­ni­scheres Bild als zuletzt aus­zu­strahlen.

Doch in einem Ergeb­nis­sport wie Fuß­ball sind solche Maß­nahmen reine Maku­latur, wenn sich nicht zumin­dest mit­tel­fristig wieder Erfolg ein­stellt. Fuß­ball-Mag­de­burg wird sich in den nächsten Jahren weiter gedulden müssen, trotz eines rie­sigen Poten­zials und großer His­torie, trotz eines län­der­spiel­taug­li­chen Sta­dions und eines pro­fes­sio­nellen Nach­wuchs­leis­tungs­zen­trums. Dabei ist Geduld eine Eigen­schaft, die so nicht in den Wort­schatz des Ver­eins passt. Der 1. FC Mag­de­burg wird sie lernen müssen. Am ver­gan­genen Sonntag hat sich die neue Mag­de­burger Tugend erst­mals aus­ge­zahlt: Das Spiel gegen Auer­bach wurde mit 1:0 gewonnen.