Meine Lieblingself (4)
Andrea, ich verzeihe dir
11FREUNDE-Mitarbeiter stellen ihre Lieblingself vor. Heute: Wie Willy Winkler es schafft, eine Mannschaft aus Hertha-Spielern und den Superstars der 2000er aufzustellen.
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Gabor Kiraly: Tor
Für unser Bundesliga-Sonderheft sprachen wir mit Gabor Kiraly auch über seine grauen Hosen. Er verriet uns: »Ich will nicht wie ein Topmodell aussehen«. Das hat er geschafft. Und nicht nur das. Gabor Kiraly ist es zu verdanken, dass Herthas Ausrüster Nike seiner Zeit die Jogginghose in sein offizielles Merchandiseprogramm aufgenommen hat. Schade, dass Nike nicht das modische Gespür besaß, die textilgewordene Freiheit als Standard für alle seine Torhüter festzulegen. Kiraly ist der große Freiheitskämpfer, doch bis zur Legende fehlt ihm noch ein Stück. Um das zu schaffen, bedarf es noch der Umsetzung eines Versprechens, dass der Ungar einst seinen Fans gab. Dabei handelt es sich um einen Trick, den man beim Training der Hertha früher oft bestaunen konnte. Kiraly stellte sich mit dem Rücken zum Tor, warf den Ball über seine Schulter gegen die Latte und nutzte den Abpraller als Vorlage zum Abschlag. Während einer Bundesliga-Partie gegen den HSV, als die Berliner bereits 4:1 führten, deutete Kiraly bereits dieses sowohl unpraktische als auch riskante Kunststück an. Hertha-Coach Jürgen Röber soll damals von der Bank aus gerufen haben: »Gabor, wenn du das machst, schick ich dich nach Ungarn zurück«. Kiraly lässig: »Trainer, kein Problem, ich wäre Montag eh nach Hause gefahren.«
Arne Friedrich (Verteidigung)
»Arne Friedrich war uns erst zu friedlich,//
dann sah man die Tür zum Tor, sie schließt sich//
Arne Friedrich, Deutschland liebt dich«
Arne Friedrich hat es geschafft: Ihm ist eine Passage in einem Song von Xavier Naidoo gewidmet. Auch darüber hinaus ist Friedrich für mich ein Held. Er war kein großer Techniker und auch nie einer dieser »echten Typen«, nach denen immer gesucht wird, die aber im heutigen Fußball keiner mehr braucht. Arne Friedrich war unaufgeregt, hat verlässlich seinen Job erledigt und war deshalb ein cooler Typ. Wer Spektakel will, soll in den Zirkus gehen oder nach unten scrollen.
Josip Simunic (Verteidigung)
Mir liegen zwar keine anatomischen Beweise über den Cojones-Umfang von Josip Simunic vor, aber die Art und Weise, mit der der Kroate in der Saison 2008/09 verteidigte, lassen nur einen Schluss zu: der Mann hat Eier wie Kokosnüsse. In besagten Jahr machte es der gute Jo zu seinem Markenzeichen lange Bälle des Gegners nicht nur souverän abzufangen, sondern direkt per Hinterkopf an den Torwart weiterzuleiten. Im Spiel gegen die Bayern, fünf Spieltage vor Schluss, brachte Simunic dann die Aktion, mit der er mein Herz vollends eroberte. Als letzter Mann mit dem Ball am Fuß sieht dieser Innenverteidiger-Klotz von links Miroslav Klose und von rechts Franck Ribery heranstürmen. Jeder andere hätte das Leder in einem Ansturm von Panik humorlos nach vorne gekloppt - doch nicht Josip Simunic. Er atmet tief durch, lässt die Stürmer so nah rankommen wie möglich, setzt eine Körpertäuschung an und spitzelt die Kugel lässig zwischen Klose und Ribery hindurch. Das Stadion grölte. Wenige Minuten später macht Andrij Woronin das entscheidende 2:1. Das Spiel ist aus und Hertha steht auf dem ersten Tabellenplatz.
Roberto Carlos (Verteidigung)
Ich weiß, es ist ein alter Hut, aber der Freistoß von Roberto Carlos gegen Frankreich jagt mir immer noch einen Schauer über den Rücken. Im ersten Moment denkt man, der Ball geht gegen die Eckfahne, stellt dann aber fest, dass die Kugel geradewegs vom Pfosten ins Tor rauscht. Auf dem Weg ins Netz schlackert der Ball so sehr durch die Luft, wie ein Kleinkind, dem man die Stützräder vom Fahrrad geklaut hat. Im Internet hält sich das Gerücht, der Ball sei mit 300 Km/h in die Maschen gedonnert – ob das stimmt, sei mal dahin gestellt. Dennoch ein Mann mit Pferdeschenkeln wie Roberto Carlos darf unmöglich in meiner Lieblingself fehlen.
Andrea Pirlo (defensives Mittelfeld)
Zunächst zwei Dinge, die Andrea Pirlo zum coolsten Typen überhaupt machen.
Nummer 1: Wenn er mal keinen Bock auf Fußball und den Trubel in Mailand oder Turin hat, fährt Pirlo raus auf sein privates Weingut, zieht den Korken aus einer Flasche und stellt den Bartwuchs zur Schau, von dem ich immer geträumt habe.
Nummer 2:
Das was Zlatan Ibrahimovic für geile Tore ist, ist Andrea Pirlo für geile Pässe. Das Genie. Das Mastermind. Gott. Bei seinen Dribblings habe ich ständig das Gefühl, Pirlo bringt sich mit Absicht in die aussichtsloseste Situation, nur um zu zeigen, dass er sie jederzeit mit einem kleinen Wackler zu seinen Gunsten auflösen kann. Dabei bewegt er sich so stilvoll, dass ich sogar dazu bereit bin, ihm einen der dunkelsten Momente zu verzeihen, den ich mit Fußball verbinde. Der 4. Juni 2006. WM in Deutschland, Halbfinale gegen Italien. Ich naiver Jungspund habe extra die »Party« zu meinem 13. Geburtstag um drei Tage vorverlegt, um diesem Spiel, das für mich nur mit einem Triumph enden konnte, zu dem Rahmen zu verhelfen, den es verdient. Da saßen wir also. Sechs hibbelige Jungs und drei Mädels, die nicht so recht verstanden, was abging. Die Chips waren geöffnet, die Cola sprudelte, was sollte schief gehen? Dann kamen in chronologischer Reihenfolge die 119. Minute, Pirlos Schnittstellenpass auf Grosso und mir die Tränen. Die »Party« war im Arsch und Andrea Pirlo wurde zum »Man Of The Match« gekürt. Aber wie sagte schon der große Betroffenheitslyriker Wolfgang »Wolle« Petry: »Verlieben, verloren, vergessen, verzeihen.« - Das Spektakel
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Marcelinho (zentrales Mittelfeld)
Eigentlich wurde Marcelinho nur zu Hertha BSC geholt, um dem einsamen Alex Alves einen Landsmann an die Hand zu geben. Dass Marcelinho dann phasenweise so häufig Tore schoss, wie er seine Haarfarbe wechselte (mindestens ein Mal pro Woche), hat an der Spree jeden überrascht. Schönste Aktion des in Europa noch nicht so kulturfesten Südamerikaners: Um zu zeigen, wie wohl er sich in Deutschland fühlt, wollte Marcelinho seine Haare in den Farben der deutschen Fahne färben. Beschissene Idee, beschissene Umsetzung. Statt mit schwarz, rot und gold lief der Brasilianer 2005 beim Spiel gegen Dortmund mit rot, gelb und schwarz – der Flagge Belgiens – ins Olympiastadion ein. Marcelinhos Kommentar: »Wichtig ist doch, dass das schöne Farben sind.« Eben.
Ronaldinho (linkes Mittelfeld)
Ronaldinho lässt ein professionelles Fußballspiel aussehen wie einen Tag am Strand. Das liegt nicht am Surfer-Gruß, den er nach seinen Toren zelebriert, sondern an seiner Leichtigkeit. Übersteiger machen viele, aber bei keinem gerate ich so ins Schwärmen wie bei Ronaldinho. Sicher, manchmal wirkte er auf dem Platz mehr wie ein Zirkusdarsteller als ein Fußballspieler, trotzdem hatte ich nie den Eindruck, dass es ihm um Selbstdarstellung geht. In seiner Zeit beim FC Barcelona hat er Spektakel mit Erfolg vereint wie ein Trapezkünstler, der beim Balanceakt ein Mittel gegen Krebs entwickelt. Ich habe in meinem jungen Leben sicherlich noch nicht viele Legenden live erlebt, aber Ronaldinho hat diesen Status verdient. Dass ich damit nicht ganz so falsch liege, bewiesen 2005 die Fans von Real Madrid. Die Anhänger der Königlichen spendeten Ronaldinho Standing Ovations, weil dieser das Weiße Ballett aussehen ließ wie ein paar pummelige Funkenmariechen. Ich bin des Portugiesischen nicht mächtig, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass »Ronaldinho« und »Joga Bonito« Synonyme sind.
Sebastian Deisler (rechtes Mittelfeld)
Jimi Hendrix, Jim Morrison, Kurt Cobain. Sie alle gingen mit 27 Jahren, weil sie dem Druck, dem sie ausgesetzt waren, nicht standhalten konnten. Sebastian Deisler beendete im Alter von 27 Jahren nicht sein Leben, dafür aber das, was bis dahin sein Lebensinhalt war - seine Fußballkarriere. Auch ihn haben die Erwartungen zerstört, die in ihn gesetzt wurden. Er sollte den deutschen Fußball im Alleingang retten, Zeit dazu bekam er keine. Was sein Können betrifft, ist wahrscheinlich nur Michael Ballack aus dieser Generation mit Deisler vergleichbar. Der Unterschied war jedoch, dass Ballack im beschaulichen Kaiserslautern spielte und vier Jahre älter war. Deisler kam 1999 aus Gladbach nach Berlin und sollte Hertha im ersten Jahr gleich mal mindestens zur Meisterschaft schießen. Der Boulevard pries den schüchternen Jungen als »Basti-Fantasti« an. Nike plante mit ihm eine große Marketing-Kampagne, die Deisler als »upcoming shining star« zeigen sollte. Damals war er 19 Jahre alt. Später kamen dutzende Verletzungen an Knien und Leiste hinzu - sechs Mal wurde Deisler operiert, 19 Mal fiel er länger aus. Er litt an Depressionen, die durch die ständigen Rückschläge weiter angefacht wurden und die ihm später die Karriere kosteten. Doch wann immer er auf dem Platz stand, war ihm das alles nicht anzumerken. Vielleicht habe ich es auch als kleiner Junge nicht verstanden. Für mich war Deisler immer der Held, mein erstes Trikot trug seinen Namen.
Thierry Henry (Sturm)
Für Red Bull muss man als Fußball-Fan keine Sympathie empfinden, aber Thierry Henry macht den Laden irgendwie erträglicher. 2010 wechselte der Franzose nach New York. Für mich war er damit unter dem Radar. Ich dachte Henry würde seine Karriere in Übersee langsam ausklingen lassen, sich durch die MLS tunneln und vielleicht noch ein paar No-Look-Tore schießen. Zwei Jahre später kehrte Henry dann plötzlich für zwei Monate zu Arsenal zurück. Der Franzose sollte der durch den Afrika-Cup personell geschwächten Truppe aushelfen. In seinem ersten Spiel im FA-Cup erzielte er dann das 1:0 gegen Leeds. Es war sein 228. Tor für den FC Arsenal. Damit ist er mit 43 Toren Abstand Rekordtorschütze der »Gunners«.
Marko Pantelic (Sturm)
Ach, Marko Pantelic, ich vermisse dich. Deine langen, schmierigen Haare, dein divenhafter Gestus, der dich so arrogant wirken ließ, dass man dich eigentlich nur mögen konnte. Bevor du nach Berlin kamst, irrtest du als zielloser Vagabund durch die Ligen Europas. Hier eine Liste der Vereine, für die du gespielt hast bevor du zu Hertha gekommen bist:
Iraklis Saloniki
Paris St. Germain
SK Sturm Graz
FC Yverdon
Lausanne-Sport
FK Obilić
FK Sartid Smederovo
Roter Stern Belgrad
Acht Vereine und sechs Länder in zehn Jahren - Respekt. Dann kam Hertha. Du und die Alte Dame das passte. Wenn über Hertha berichtet wurde, dann über dich. Eine Leistung, die in der Berliner Medienlandschaft beispiellos ist. Dass du sie vollbringen konntest, lag an deiner besten Eigenschaft, deinem Selbstbewusstsein. Nicht nur hast du dich selbst 2008 zum besten Spieler der Liga erklärt, du hattest zudem den Mut vier Elfmeter hintereinander zu schießen. Alle in dieselbe Ecke, alle verschossen.