Ob 1993 beim Kicken aufs Garagentor oder 2006 beim Urlaub in Spanien – Redakteur Ron Ulrich hat ganz spezielle Erinnerungen bei seiner Traumelf. Herauskam ein Dream-Team mit Holger Gehrke und vielen „Fummelkönigen“. Und der Stürmer fährt Lok.
Torwart: Holger Gehrke
In den ersten Jahren der Fußballbegeisterung verströmen alle Fußballer für kleine Kinder noch eine unheimliche Magie – selbst wenn sie Holger Gehrke heißen. Der Torwart von Schalke hatte im Herbst 1993 einen gewissen Jens Lehmann im Tor abgelöst und er war in meinen Erinnerungen vor allem eines: unglaublich groß. Damals schätzte ich ihn auf ungefähr dreieinhalb Meter. Als ich einmal im Stadion war, bildete ich mir ein, dass er aus dem Stand den Schnee von der Torlatte gewischt hatte. Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, aber meine Klassenkameraden in der Grundschule glaubten mir aufs Wort. Dieser Holger Gehrke musste der wohl größte Mensch der Welt sein.
Wir schossen zu dieser Zeit mit einem Lederball auf ein Garagentor und spielten die Bundesliga nach, die wir kurz zuvor im Radio gehört hatten (und allein dieser Satz lässt mich schon wie einen sehr alten Mann wirken). Schalke verlor in Stuttgart mit 0:3 und wir pöhlten uns die Seele aus dem Leib. Das Garagentor jaulte, ein Schild daneben für eine Ha-Ra-Vertriebsstelle (es war die Zeit, in dem in Wohnzimmern Tupperparties und Reinigungsmittelverkäufe stattfanden) ging zu Bruch. Doch Schalke drehte die Partie in unserem Nachspiel sensationell noch mit 9:3. Und Holger Gehrke hielt wieder einmal sensationell.
Verteidiger: Roberto Carlos
Mustafa, Philipp, Rafael und ich kickten in den Ferien tagelang im Hof auf kleine Holztore, die Philipps Vater zusammengezimmert hatte. Immer 1 gegen 1 oder 2 gegen 2. Das ging teilweise den ganzen Tag so, jeder bekam morgens vier oder fünf Teams zugewiesen, für die er stellvertrend das WM-Turnier durchspielte. Pause gab es nur, um an der Bude „Esspapier, Cola, Lakritze, Fußball-Bilders und für fuffzich Pfennich von der Nummer 23“ zu holen. Mustafa war ein unglaublich guter Dribbler, „Fummelkönich“ sagte man auch. Dennoch spielte er damals noch bei uns im Verein in der Abwehr – eben wie Roberto Carlos. Ich erinnere mich noch, wie wir stundenlang probierten, das Tor von Roberto Carlos gegen Frankreich nachzuahmen. Ein Tor, das man nunmal nicht kopieren kann. Wir schossen alles kaputt, was irgendwo herumstand. Dann irgendwann gaben wir auf und holten noch eine Runde Esspapier.
Verteidiger: Johan de Kock
Johan de Kock steht an dieser Stelle für all die anderen Eurofighter, mit denen diese Wunschelf eigentlich gespickt sein müsste: Thon, Wilmots, Nemec, Büskens usw. Eigentlich ist es noch heute ein Rätsel, wie diese Mannschaft der Nobodys 1997 mit Schalke den Europapokal gewinnen konnte. Das Wort „Sensation“ ist eigentlich nicht ausreichend. De Kock schmiss sich in jeden Zweikampf, er schaffte es in der Abwehr mit Linke, Thon und Lehmann, in allen Heimspielen des Uefa-Cups ohne Gegentor zu bleiben. Und: Er spielte trotz Schmerzen. Marc Wilmots sagte einmal: „Alle haben den Körper hingehalten. Dieser Europapokal hat vier bis fünf Invalide hervorgebracht.“ Er meinte auch de Kock damit.
So etwas vergessen die Leute nicht. Beim Champions Legue-Viertelfinalspiel von Schalke in Barcelona 2008 (lange nach de Kocks Karrieende) sah ich, wie er von den Fans auf Schultern getragen wurde. Sie schenkten ihm ihr Bier, manche wollten losrennen und extra neues Bier kaufen, um es ihm zu schenken. Ich muss häufig noch an diese Szenen denken, wenn Spieler den Verein wechseln mit der Begründung, sie suchten neue Herausforderungen und Ziele, sie wollten Titel holen. Johan de Kock war kein großer Techniker, kein Star, kein Trophäensammler – und trotzdem wurde er lange nach seiner Karriere noch derart aufrichtig verehrt. Ich glaube, so etwas kann man in Titeln gar nicht aufrechnen. Höchstens in Freibier.
Verteidiger: Vincent Kompany
2006 war ich mit einigen Freunden im Spanien-Urlaub. In einer Kneipe trafen wir auf sechs rotzevolle Belgier, die sämtliche Getränkevorräte leergetrunken hatten und von denen einer versuchte, mit dem Barhocker die Deckenlampe auszuknipsen. Mit einem der Belgier kamen wir tatsächlich in eine Art „Gespräch“, in dem er immer wieder einen Namen wiederholte: „Kompany! Kompany! Kompany!“ Der war gerade zum HSV gewechselt und laut unserer Bekanntschaft der begnadetste Fußballer überhaupt. Doch ich zweifelte: Zum einen war der Mann sturzbesoffen, zum anderen ging es hier um den HSV.
Ich habe in den folgenden Jahren meine Meinung geändert. Kompany ist ein unglaublicher Spieler. Ich finde, er hat etwas, das sehr gute Abwehrspieler von guten unterscheidet: Timing. Er dreht sich zum richtigen Zeitpunkt, er setzt den Körper zum richtigen Zeitpunkt ein, er steht fast immer richtig. Es wirkt, als hätte er das Spiel und die Bewegungen seiner Gegenspieler einfach auswendig gelernt. Als könne ihn nichts überraschen. Irgendwann stimme ich vielleicht mit dem besoffenen Belgier aus Spanien an: „Here is to you, Vincent Kompany, Belgium loves you more than you will know.“
Defensives Mittelfeld: Patrick Vieira
Wie Johan de Kock steht auch Vieira in dieser Elf für all die Ausnahmespieler einer ganzen Mannschaft: die „Invincibles“. Arsenal 2004 mit Henry, Pires, Ljungberg usw. Vieira verband Athletik mit Technik, die (Blut-)Grätsche mit dem feinen Pass in die Spitze, er war die Antriebsfeder hinter all den Künstlern, das Herz der „Unbesiegbaren“. Man musste kein Fan von Arsenal sein, um von diesem Team und eben von Vieira vollends fasziniert gewesen zu sein. Und die außergewöhnlich gute Doku über Vieira und Roy Keane „Best of Enemies“ verdeutlicht, wie sehr sich der Franzose mit Arsenal identifiziert. Beim Tischgespräch mit Keane ist die Luft zum Schneiden, als es um den fast zehn Jahre zurückliegenden van-Nistelrooy-Vorfall geht. Keane stichelt immer wieder, provoziert – und Vieira gibt ihm beharrlich Contra. Kein Wunder, schon auf dem Platz hat keiner der beiden je zurückgezogen.