Fast 200.000 Menschen drängten sich heute vor 60 Jahren auf den Rängen des Maracanã, um das Derby zwischen Flamengo und Fluminense zu verfolgen. Kaum einer hat den Mythos „Fla-Flu“ mehr geprägt als der Journalist Mario Filho, dessen Namen das Maracanã offiziell trägt. Wer war der Mann?
Dieser Text stammt aus unserem Archiv. Er erschien erstmals vor dem WM 2014.
Das Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro ist am 15. Dezember 1963 zum Bersten gefüllt. 194.000 Anhänger von CR Flamengo und Fluminense FC drängen sich auf den Rängen, um das traditionsreichste Derby der Stadt zu sehen. Eine Weltrekordkulisse! Unbändig schwenken die Fans Fahnen, Konfettiregen und Rauchschwaden hüllen die Traversen ein. Flamengo gegen Fluminense, oder kurz Fla-Flu, ist ein Dauerbrenner im brasilianischen Fußball. Fla-Flu ist die sprachliche Signatur für das jährliche Spektakel der beiden erfolgreichsten Fußballclubs der Stadt, das die Carioca, die Bewohner Rios, schon Tage vor dem eigentlichen Aufeinandertreffen in Atem hält.
Flamengo gilt als der Verein mit der weltweit größten Fangemeinde. Es sollen mittlerweile ungefähr 39 Millionen Anhänger sein. Der Verein wurde 1895 als Club de Regatas, also als ein Ruderclub gegründet, der vornehmlich der Oberschicht offen stand. Im Zuge der Verpflichtung des schwarzen Stars Leonidas da Silva 1936 gelang jedoch ein Imagewandel hin zu einem populären Verein. Legenden wie Zico oder Junior gehörten in den 1980er Jahren untrennbar zum Klub, der zahlreiche Erfolge einfuhr.
Fluminense wurde dagegen 1902 von dem Engländer Oscar Cox gegründet. Sein Image als Verein der Oberschicht hat sich bis heute gehalten. Der Klub ist im eleganten Stadtviertel Retiro von Guanabara beheimatet. Schwarze Spieler wurden lange nicht bei Fluminense geduldet. Carlos Alberto Torres, ein hellhäutiger Mischling, später Weltmeister mit Brasilien, rieb sich 1963 als 19-Jähriger bei seinem ersten Spiel für Fluminense mit Reisstaub ein, um nicht aufzufallen. Die Zuschauer bemerkten diesen Trick jedoch sofort und brüllten „po-de-arroz, po-de-arroz“. Bis heute trägt der Verein den Beinamen „Reisstaub“.
Wenn von Fla-Flu gesprochen wird, ist auch der Name des Sportjournalisten Mario Filho allgegenwärtig. Auch wenn er wohl nicht, wie häufig kolportiert, der Erfinder dieses Kürzels war. Doch seine Verdienste um die Popularisierung und den Mythos von Fla-Flu sind beeindruckend. Filho war ein Fußballintellektueller, ein Visionär, der alte Denkgebäude über den zeitgenössischen Fußball zum Einstürzen brachte. Auch seinem Enthusiasmus ist es zu verdanken, dass der brasilianische Fußball zu einem Massenphänomen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde. Das Massenmedium Zeitung war sein wirkungsvollstes Instrument. Seine Sprache war lebendig und bildreich und die Schlagzeile manchmal gar eine politische Waffe, um sich bei den Oberen Gehör zu verschaffen.
Mário Rodrigues Filho wurde am 3. Juni 1908 in Recife, im nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco geboren. Sein journalistischer Weg war familiär vorgezeichnet. Sein Vater Mario Rodrigues war Berichterstatter beim Diário de Pernambuco. Nach der Wahl des Vaters ins Bundesparlament siedelte die Familie 1912 nach Rio de Janeiro, die damalige Hauptstadt Brasiliens um. Mit zehn Jahren lernte er erstmalig die emotionale Kraft des Fußballs kennen. In jener Zeit war Fußball der Sport der weißen brasilianischen Oberschicht. Ein englischer Import, der den Gentlemen vorbehalten, sachlich und nüchtern auf den Fußballplätzen herunter gespielt wurde. Als der brasilianische Nationalspieler Artur Friedenreich 1919 im längsten Finale der Copa America den vielumjubelten Siegtreffer gegen Uruguay in der Verlängerung erzielte, wurde Filho vom Virus des schönen Fußballs angesteckt. Friedenreich, Sohn eines deutschen Vaters und einer afro-brasilianischen Mutter, der bisher aufgrund seiner dunklen Hautfarbe vielerorts auf Ressentiments gestoßen war, allerdings mit seiner Art des Spiels, die sich durch elegante Finten und bis dahin unbekannte angeschnittene Schüsse auszeichnete, wurde nun zum Volkshelden.
An seiner Spielweise begeisterte sich eine ganze Nation und auch Mario Filho. Fußball, so wurde schlagartig klar, konnte auch trickreich, artistisch und leicht sein. Allein Friedenreich war es zu verdanken, dass sich Mario Filho fortan für einen vermeintlich schöneren Fußball zu begeistern begann, was ihn zum Schreiben über das Spiel animierte. Seine ersten Sporen als Reporter verdiente er sich bis 1926 bei der Tageszeitung A Manhã, die mittlerweile im Besitz seines Vaters war. In einer anderen Zeitung, Critica, die ebenfalls dem Vater gehörte, revolutionierte er die Berichterstattung, indem er ausschweifend und detailliert über die Spiele und auch die Spieler berichtete. Nach dem Tod seines Vaters begann er sich noch stärker der Sportberichterstattung zu widmen. 1931 gründete er mit dem O Mundo Sportivo die erste reine Sportzeitung Brasiliens, deren Existenz allerdings nur von kurzer Dauer war. Schon 1931 arbeitete er für die große Tageszeitung O Globo, um dann 1936 das berühmte Jornal dos Sports zu leiten.
Gerade die gesellschaftlichen Bezüge des Fußballs und seiner Protagonisten interessierten Filho besonders. Es waren vor allem die schwarzen Fußballer, denen sich Mario Filho zuwandte, über die er leidenschaftlich berichtete, die er berühmt und zu Integrationsfiguren der brasilianischen Gesellschaft machte. Als zentraler Treffpunkt fungierte in Rio das Café Nice. Neben Musikern, Tänzern und der gesellschaftlichen Bohéme gehörten zunehmend schwarze Fußballer zu den Gästen, die Filho dort interviewte und in seinen Kolumnen und Kommentaren der interessierten Öffentlichkeit vorstellte. Schwarze Spieler wie Leónidas da Silva, Fausto, Jaguaré oder Domingos da Guia, deren Karrieren vor 1918 in der Nationalmannschaft unvorstellbar waren, wurden mit ihren Fußballkünsten von Filho besonders hervorgehoben und erlangten so eine breite Bekanntheit.