Die einen halten ihn für ein Genie und den besten Nationaltrainer, den England niemals hatte. Für die anderen ist Harry Redknapp nichts als ein Scharlatan. Jetzt hat der Umstrittene seine Geschichte selbst erzählt und zündet ein Feuerwerk an Anekdoten.
Ende Oktober erschien in England die Autobiografie von Alex Ferguson. Sie verkauft sich phänomenal und einige Aussagen der Trainerlegende wurden in der Öffentlichkeit auch strittig diskutiert. Dennoch machte sich im Großen und Ganzen so etwas wie gepflegte Langeweile breit. Das lag weniger am Buch selbst, mehr am Timing. Wenige Wochen zuvor hatte nämlich ein Kollege von Ferguson seine eigenen Memoiren herausgebracht und die lösten – wie nahezu alles, was ihr Autor so anstellt – hitzige Kontroversen aus.
Als Nicht-Engländer konnte man die Aufregung nur staunend beobachten. Da war zum einen die Identität des besagten Trainers. Sein Name ist Harry Redknapp. Außerhalb der Insel kennen ihn bloß Experten, schließlich hat er bisher so gut wie nichts gewonnen und betreut aktuell lediglich den Londoner Zweitligisten Queens Park Rangers. In England hingegen ist Redknapp bekannt wie eine bunte Bulldogge. Die meisten Journalisten lieben ihn und viele Menschen – er selbst eingeschlossen – sind der Meinung, dass es mit der englischen Nationalmannschaft erst dann aufwärts gehen wird, wenn er sie endlich als Trainer übernommen hat.
Wer ist dieser Harry Redknapp überhaupt?
Zum anderen ist es nicht gerade so, als habe bis zur Veröffentlichung von „Always Managing: My Autobiography“ im Oktober ein Mangel an Material über den Mann geherrscht. Die aktuelle Autobiografie, deren Ghostwriter Martin Samuel einer der renommiertesten Fußballautoren auf der Insel ist, ist schon seine zweite. Erst im April erschien zudem ein von einem Journalisten verfasstes Buch über sein Leben, das ebenfalls bereits das zweite war. Eine Zitatesammlung gibt es auch noch. Dennoch stürmte das neue Werk die Bestsellerlisten und jeder, der meinte, etwas zu sagen zu haben, sagte etwas dazu.
Wer aber ist dieser Harry Redknapp überhaupt – und warum gilt er in seinem Heimatland auch ohne Titel und Trophäen als absoluter Startrainer? Die erste Frage ist beinahe unmöglich zu beantworten, für die zweite reicht vielleicht schon eine kleine Geschichte.
Im Sommer 1994 war Redknapp Co-Trainer bei West Ham United, seinem Heimatverein, für den er selbst einst sieben erfolglose Jahre lang als Außenstürmer spielte. West Hams Kader war so groß, dass er für einige der Vorbereitungsspiele geteilt wurde. Am 28. Juli fuhr Cheftrainer Billy Bonds mit der Hälfte des Teams zu einem Testspiel an die Ostküste, während Redknapp mit dem Rest der Truppe nach Oxford reiste.
Damals wie heute ging er keinem Plausch aus dem Weg. Das Spiel gegen den Amateurklub Oxford City hatte noch gar nicht begonnen, da diskutierte Redknapp schon munter mit den West-Ham-Fans hinter seiner Trainerbank. Einer von ihnen, sein Name war Steve Davies, vertrat lautstark die Meinung, dass Mittelstürmer Lee Chapman eine Flasche sei. Redknapp sah das naturgemäß anders.
Besser als der scheiß Chapman
Zur Pause wechselte der Trainer alle seine Ersatzleute ein. Dann, in der zweiten Hälfte und beim Stand von 2:0 für West Ham, verletzte sich einer der Profis und konnte nicht weiterspielen. Redknapp drehte sich zu Davies um. „Kannst du so gut kicken, wie du redest?“, fragte er. Der Fan erwiderte, dass er auf jeden Fall besser sei als „der scheiß Chapman“. „Welche Schuhgröße hast du?“, wollte Redknapp wissen. „Größe neun“, antwortete Davies. „Okay“, sagte Redknapp, „geh in die Kabine und zieh dich um, du kommst jetzt rein.“
Als der Stadionsprecher sah, dass ein Fußballer den Platz betrat, der nicht auf dem Aufstellungsbogen stand, schickte er jemanden zu Redknapp hinunter. „Wer ist der Spieler dort?“, wollte der Mann wissen. „Haben Sie etwa die WM nicht verfolgt?,“ gab Redknapp zurück. „Das ist der bulgarische Nationalspieler Tittishev.“ Kurz danach spielte West Hams Mittelfeldmotor Matty Holmes den Ball in den Lauf von Davies. Der rauchte 30 Zigaretten am Tag, war aber trotzdem schneller als Oxfords Verteidiger. Es war die 71. Minute. Die Minute, in der ein Fan ein Tor in einem offiziellen Spiel für West Ham United schoss. „Er hatte recht“, schreibt Redknapp in seiner Autobiografie. „An diesem Abend war er besser als der scheiß Chapman.“
’arry ist eine echte Type
Wegen solcher Aktionen lieben viele Engländer ihren ’arry. (Redknapp ist im armen Osten von London aufgewachsen und dort spricht man den Cockneydialekt, in dem das „H“ verschluckt wird.) Für sie ist er der letzte Vertreter der alten Schule, ein Relikt aus der Zeit, als Fußballer noch ganz normale Kerle von der Straße waren und nicht einmal wussten, wie man „Allüren“ buchstabiert. Übrigens im wahrsten Sinne des Wortes: Redknapp, der mit 14 Jahren die Schule verlassen hat, gibt ohne Umschweife zu, dass er nur sehr eingeschränkt schreiben kann.
Anders gesagt, ’arry ist eine echte Type. Und darum ist sein Buch auch wunderbar unterhaltsam und von einer Anekdotendichte, wie sie sonst nur noch Rudi Gutendorf zu bieten hat. So berichtet Redknapp, dass die Spieler von Newcastle United gelegentlich vor der Massageliege standen und nicht behandelt werden konnten, weil der Physiotherapeut gerade einen Windhund durchkneten musste, auf den Trainer Charlie Mitten Geld gesetzt hatte. Er erzählt, dass er Wimbledons Besitzer Sam Hammam mal dabei erwischte, wie der die Gästekabine in West Hams Stadion mit obszönen Anti-Wimbledon-Graffiti beschmutzte – als Motivationshilfe, damit seine Spieler am nächsten Tag glauben sollten, Redknapp habe die Beleidigungen an die Wand geschrieben.
Oder er gesteht, dass er nach Japan geflogen ist, um einen Torwart bei einem Spiel zu beobachten, nur um kurz nach Anpfiff der Partie in seinem Tribünensessel einzuschlafen. Auch nicht schlecht ist die Geschichte, wie Paul Merson ihn vor einem Spiel in Millwall bittet, auf 30 000 Pfund aufzupassen, die der Stürmer irischen Gangstern schuldet. Redknapp bindet sich Mersons Geldbündel um die Beine und schlüpft in eine weite Sporthose. Kaum hat das Spiel begonnen, springt er an die Seitenlinie, um Anweisungen zu geben – und spürt, wie die ersten Banknoten die Hosenbeine hinunter und auf den Rasen rutschen.
Es war vermutlich sein großes Glück, dass dieser Moment von keiner Fernsehkamera eingefangen wurde, denn er hätte bestens zu einem gänzlich anderen Bild gepasst, das manche Leute von ihm haben. Für eine ebenfalls beträchtliche Anzahl von Engländern ist Harry Redknapp nämlich keineswegs der Mann des Volkes, der das Herz am rechten Fleck hat und es zugleich auf der Zunge trägt. Sie halten ihn für einen ausgebufften Mauschler, dessen Geschäfte selten sauber sind. Als Redknapp vor ein paar Jahren zum Erhalt eines alten Fischmarktes in London aufrief, titelte eine Zeitung genüsslich: „Something fishy about Harry.“ Das Wortspiel bedeutet so viel wie „Irgendwas an Harry ist faul“.
Auf Youtube findet sich noch ein Interview vom November 2000, in dem Redknapp – zu jener Zeit Nachfolger von Bonds als Cheftrainer bei West Ham United – zum Verkauf von Rio Ferdinand an Leeds United befragt wird. „Es war ein so gutes Angebot, dass wir es nicht ablehnen konnten“, sagt er. Als das Gespräch beendet ist, gibt Redknapp auf Bitte des Reporters das ganze Interview noch einmal. Diesmal aber so, als wäre Ferdinand nicht gewechselt! „Er ist ein so wichtiger Spieler, dass ich ihn unbedingt behalten wollte“, sagt Redknapp. Das ist einerseits amüsant, andererseits hat es einen Hauch des Unangenehmen, wenn man sieht, wie es Redknapp nur ein kurzes Blinzeln mit den Augen kostet, um von einer Rolle in die nächste zu gleiten.
Das Ungewöhnliche ist das Normale
Vorwürfe und sogar Vorladungen gab es schon reichlich. Vor knapp sieben Jahren ging Redknapp, damals Trainer von Portsmouth, dem Undercover-Reporter Knut auf dem Berge in die Falle. (Doch, der heißt wirklich so. In Harrys Universum ist das Ungewöhnliche das Normale.) Der sammelte im Auftrag der BBC Material für eine Sendung über Schmiergelder, die angeblich von Spielerberatern an Trainer gezahlt wurden, damit die ihre Klienten verpflichteten. Redknapps Äußerungen in dem mit versteckter Kamera aufgenommenen Film waren aber so knapp gehalten und vieldeutig, dass keine Anklage erhoben wurde.
Auch ein Jahr später entging Redknapp einem Prozess, zumindest fürs Erste. Ende 2007 wurde er für einen Tag verhaftet, weil sich die Polizei im Rahmen jener Schmiergeldgerüchte für ein Konto in Monaco interessierte. Redknapp hatte es einige Jahre zuvor auf Betreiben von Portsmouths Besitzer Milan Mandaric eröffnet – und nach seiner Bulldogge Rosie benannnt. Auf dieses Konto zahlte Mandaric nach und nach 189 000 Pfund ein, während Redknapp es, wie er später mehrfach versicherte, einfach vergaß.
Die Behauptung, dass es sich dabei um Bestechungsgelder gehandelt habe, konnten die ermittelnden Beamten zwar nicht aufrechterhalten, dafür nahm sich nun das Finanzamt des Kontos an. Und so wurde im Januar 2010 Anklage gegen Redknapp und Mandaric wegen Steuerhinterziehung erhoben. Zwei Jahre später kam der Fall endlich vor Gericht. Wie Redknapp schreibt, machte er sich trotz seiner Unschuld die allergrößten Sorgen, denn er hatte einfach „nicht den Grips des Mannes, der die Fragen stellte“. Der gegnerische Anwalt, wiederholt er, „war intellektuell auf einem anderen Level“. Wer sich so rotzfrech auf sein schlichtes Gemüt beruft, der dürfte in der Tat mit allen Wassern gewaschen sein. Redknapp wurde freigesprochen.
„Harry Houdini“ nennen manche Leute Redknapp. Aber nicht etwa, weil er sich aus solch brenzligen Situationen herauswindet wie einst der legendäre amerikanische Entfesselungskünstler. Der Name geht vielmehr auf das Jahr 2006 zurück, als Redknapp das schon hoffnungslos abgeschlagene Portsmouth noch auf einen Nichtabstiegsplatz führte. Er selbst bezeichnet diese Rettung als eine der drei größten Leistungen seiner Trainerlaufbahn, obwohl er mit demselben Klub zwei Jahre später sogar den englischen Pokal holte. Die beiden anderen Großtaten sind seiner Meinung nach der Aufstieg mit Bournemouth in die zweite Liga 1987 sowie die Champions-League-Qualifikation mit Tottenham Hotspur 2010.
Das ist eine relativ bescheidene Ausbeute für jemanden, der seit über 30 Jahren als Trainer arbeitet. Dennoch ging Redknapp davon aus, englischer Nationaltrainer zu werden, als Fabio Capello Anfang 2012 von diesem Posten zurücktrat. Man kann es ihm nicht wirklich verübeln. In den Augen vieler Fans und Medienvertreter war er für die Nachfolge des spröden Italieners in der Tat der ideale Mann: Englisch bis auf die Knochen, immer eine launige Geschichte in petto und außerdem auch noch ein symbolisches Bindeglied zwischen früher und heute – schließlich war Redknapp ein guter Freund des großen Bobby Moore und ist der Onkel von Frank Lampard.
„Er ist ein totaler Hype – wie die ganze Liga“
Aber es regte sich auch Widerstand. Mark Perryman, der Sprecher des Fanklubs der englischen Nationalmannschaft, wies darauf hin, dass die letzte „populistische Wahl“ des Verbandes zu einem „Desaster“ geführt habe. (Gemeint war die Ernennung des Publikumslieblings Kevin Keegan 1999.) Fragt man ihn heute direkt nach Redknapp, wird Perryman noch deutlicher. „Er steht für alles, was falsch ist am modernen englischen Fußball“, sagt er. „Hier ist jemand, der allen Ernstes Nationaltrainer werden sollte, obwohl er in seiner gesamten Trainerlaufbahn nur einen Titel geholt hat – den Pokal mit Portsmouth, im Finale gegen einen Zweitligisten. Aber die Journalisten hängen an seinen Lippen, weil er immer für einen Spruch gut ist. Redknapps positives Image steht in keinerlei Verhältnis zu dem, was er wirklich geleistet hat.“ Und Perryman setzt noch einen drauf: „Er ist ein totaler Hype – wie die ganze Liga. Er repräsentiert die Inhaltslosigkeit des heutigen englischen Fußballs.“
Auf den 410 Seiten von Redknapps Autobiographie findet sich in der Tat wenig, was diese Theorie widerlegen würde. Von Systemen oder Taktik ist praktisch nie die Rede, eine bestimmte Spielidee scheint ’arry nicht zu haben. Sobald seine Mannschaften in einer Krise stecken, ist die Lösung immer dieselbe: Neue Spieler müssen her. So rettete er Portsmouth 2006 vor allem dadurch, dass er in der Winterpause für mehr als elf Millionen Pfund vier Spieler kaufte und zwei weitere auslieh. „Wir hätten eigentlich zehn neue gebraucht“, schreibt er ungeniert. Felix Magath dürfte seine Freude an Harry Houdini haben.
Was sich im Buch aber zuhauf findet, sind Hiebe unter die Gürtellinie und Halbwahrheiten. Schon der Vorabdruck des Werks im Boulevardblatt „Daily Mail“ stieß auf ein geteiltes, aber in jedem Fall lautes Echo. Redknapp nannte die Entscheidungsträger des Verbandes, die sich gegen ihn und für Roy Hodgson als Nationaltrainer entschieden hatten, „unbedarft“. Sie würden einen guten Trainer nicht erkennen, „selbst wenn ihr Leben davon abhinge“. Hodgson (der sieben Meistertitel in Schweden gewonnen hat) habe den Job nur bekommen, weil er in einigen Ausschüssen der UEFA und der FIFA sitzt und „einfach ins Raster passt“. Das wollte David Bernstein, der Vorsitzende des englischen Fußballverbandes, nicht unkommentiert lassen. Er war der Erste, aber weiß Gott nicht der Letzte, der Inhalt und Form von Redknapps Darstellungen anprangerte.
Schon Mitte Oktober zog der Journalist Rory Smith folgende Bilanz: „Zwei Wochen, nachdem das Buch in die Läden gekommen ist, sind große Teile bereits diskreditiert.“ Man warf Redknapp vor, „mit der Wahrheit sparsam umzugehen“ und seine Leser „hinters Licht geführt“ zu haben. Und sein ehemals bester Freund Billy Bonds, dem Redknapp einst den West-Ham-Job geklaut hat (oder eben nicht, je nachdem, wem man glaubt), bezeichnete Teile des Buches als „armselig“ und „blanken Unsinn“.
Harry als ukrainischer Nationaltrainer
Und ’arry? Der hat gerade eigentlich ganz andere Sorgen, als sich mit all der Kritik an seinem Buch zu beschäftigen. Ende des vergangenen Jahres lehnte er das Angebot ab, ukrainischer Nationaltrainer zu werden und übernahm stattdessen in der Premier League den Abstiegskandidaten Queens Park Rangers. Dass dies ein Fehler war, merkte er schnell. Als er einen seiner Spieler zur Rede stellte, weil der angeblich am Freitag vor einem wichtigen Spiel morgens um 4.30 Uhr im Spielkasino gesehen worden war, antwortete der Profi treuherzig: „Freitag? Ich glaube nicht, aber es könnte Donnerstag gewesen sein.“
Selbst Harry Houdini konnte mit solchen Leuten die Klasse nicht halten, wie er wenig später erkennen musste. „Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich im Januar die halbe Mannschaft rausgeschmissen, aber so viele neue Leute wären nicht zu bekommen gewesen.“ Und so hat er in dieser Saison die schwierige Aufgabe, den Wiederaufstieg zu schaffen.
Aber er muss sich ja äußern zu den Zweifeln an seiner Glaubwürdigkeit. Also versicherte der 66-Jährige einem englischen Reporter mit Hundeblick, dass er im Grunde seines Herzens ein Pfundskerl sei. „Ich muss zugeben, dass das Buch mir zuletzt Ärger eingebracht hat“, sagt er. „Aber die Leute könnten sich nicht größer in mir täuschen. Ich weiß genau, wer ich bin. Und ich mag die Person, die ich bin, sehr.“
Schön, dass wenigstens einer genau weiß, wer Harry Redknapp wirklich ist. Aber am Ende ist das ja auch nicht wichtig. Solange wir ein paar Länder und den Ärmelkanal zwischen ihm und uns wissen, können wir ihn als den letzten großen Entertainer des Fußballs würdigen und uns einfach unterhalten lassen.
Ach ja, die Geschichte von dem Fan, der das Tor schießt … Keine Angst, die ist wirklich wahr.