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In einem neuen Land anzu­kommen, bedeutet oft eine totale Reiz­über­flu­tung der Sinne. Steigt man aus der her­me­ti­schen Ein­tö­nig­keit des Flug­zeugs, schlägt einem eine Flut von Bil­dern, Klängen und unbe­kannten Gerü­chen ent­gegen.



In der hai­tia­ni­schen Haupt­stadt Port-au-Prince kommt eine unmensch­liche tro­pi­sche Hitze dazu, die einem wie ein heißes, nasses Hand­tuch ins Gesicht schlägt. Es ist unmög­lich, beim Anflug auf His­pa­niola, die kari­bi­sche Insel, die sich Haiti mit seinem wohl­ha­ben­deren Nach­barn, der Domi­ni­ka­ni­schen Repu­blik, teilt, nicht nervös und ange­spannt zu sein. Euro­päi­sche Rei­sende werden gewarnt, Haiti, das die Ver­einten Nationen zum ärmsten Land der Region erklärt haben, nur dann zu besu­chen, wenn es unbe­dingt nötig ist“.

Streng genommen ist die aben­teu­er­liche Reise nicht unbe­dingt nötig. Der Stür­mer­star der Welt­meis­ter­schafts-Mann­schaft von 1974, Emma­nuel Manno“ Sanon, hatte mir kurz vor seinem Tod Anfang 2008 am Telefon sein Herz aus­ge­schüttet. Außerdem stand ich mit meh­reren anderen Spie­lern und Funk­tio­nären in regel­mä­ßigem Kon­takt per E‑Mail. Doch Sanon hatte beharrt: Du musst auf einen Besuch vor­bei­kommen, mein Freund, sonst kannst du unmög­lich begreifen, welche Aus­wir­kungen unsere Qua­li­fi­ka­tion damals auf Haiti hatte.“ 

Was willst du hier, Kumpel?“

Als mein hai­tia­ni­scher Kon­takt­mann mich am Flug­hafen trifft, schaut er kurz, schnaubt ver­ächt­lich und meint: Du fällst hier auf wie ein bunter Hund. Wenn du nicht auf­passt, wirst du gekid­nappt.“ Zwar sagt er es halb im Scherz, doch werden Haiti-Besu­cher im Rei­se­büro gewarnt, sich vor plötz­li­chen gewalt­samen Auf­ständen und ille­galen Stra­ßen­sperren“ in Acht zu nehmen. Auch der Typ an der Pass­kon­trolle beäugt mich skep­tisch. Was willst du hier, Kumpel?“, fragt er. Bist du James-Bond-Fan? Ein paar von denen sind in letzter Zeit aus den USA und Europa her­ge­kommen.“ Trotz Typhus- und Ruhr­epi­de­mien hat Port-au-Prince von Daniel Craigs Dreh­ar­beiten in der her­un­ter­ge­kom­menen Hafen­ge­gend für Ein Quantum Trost“ pro­fi­tiert. Als ich den Beamten über den Zweck meines Besu­ches infor­miere, wirft er mir einen amü­sierten Blick zu. Bis du auf Voodoo und die Duva­liers aus“, kichert er, oder auf Musik und Son­nen­schein? Kannst du hier alles haben, wenn du gut recher­chierst.“

Wäh­rend meines zwei­tä­gigen Auf­ent­halts erweisen sich die Worte des Kon­trol­leurs als gera­dezu pro­phe­tisch. Für die von poli­ti­schen Umwäl­zungen, wirt­schaft­li­chen Pro­blemen und zwie­lich­tigen Macht­ha­bern heim­ge­suchte Nation bedeu­tete die WM-Teil­nahme mehr als nur ein sport­li­ches Aben­teuer. Die Geschichte ist voll mit Berichten über schwarze Magie, einer gott­glei­chen Ver­eh­rung der Star­spieler, Musik und den Machen­schaften der Geheim­po­lizei Tonton Macoute. Zwar war in Haiti schon lange Fuß­ball gespielt worden, doch erst im Zuge der Macht­er­grei­fung Fran­cois Papa Doc“ Duva­liers erlangte der Sport eine grö­ßere Bedeu­tung im Land, was vor allem der Tat­sache geschuldet war, dass der Dik­tator ab Mitte der sech­ziger Jahre Unmengen von Geld in den Fuß­ball pumpte. Als lei­den­schaft­li­cher Ver­ehrer des ita­lie­ni­schen und süd­ame­ri­ka­ni­schen Spiels wusste er, dass sich nichts anderes so sehr eig­nete wie der Fuß­ball, um die Bevöl­ke­rung auf seine Seite zu ziehen, und dass er von einer starken Natio­nalelf immens pro­fi­tieren könnte.

Papa Doc hatte Glück: Beim kari­bi­schen Jugend­tur­nier von 1965 zog sich die hai­tia­ni­sche Mann­schaft achtbar aus der Affäre. Spieler wie der talen­tierte Links­außen Roger St. Vil, Tor­hüter Henri Fran­cillon und der spä­tere Kapitän Phil­ippe Vorbe begannen, sich einen Namen zu machen und das Inter­esse euro­päi­scher Klubs zu wecken. Papa Doc war jedoch ent­schlossen, seine Roh­dia­manten bei­sammen zu halten. Damit sie nicht wie viele ihrer Lands­leute in der Dia­spora ver­schwanden, unter­sagte er sämt­liche Trans­fers ins Aus­land. St. Vil, der heute in New York lebt, erin­nert sich: Wir bekamen bes­sere Trai­nings­ein­rich­tungen, und wenn wir gegen einen kari­bi­schen Kon­kur­renten antraten, wurden wir in erst­klas­sigen Hotels unter­ge­bracht und gut ver­sorgt. Man muss bedenken, aus wel­chen Ver­hält­nissen wir stammten. Viele von uns kamen aus armen Fami­lien, und Fran­cois Duva­lier brachte etwas Licht in unser Leben.“

Die Natio­nal­mann­schaft arbei­tete mit Hoch­druck auf die WM 1970 in Mexiko hin. Dass sie letzt­lich in der Qua­li­fi­ka­tion schei­terte, ist bis heute in trau­riger Erin­ne­rung geblieben. Das Ticket löste damals El Sal­vador, dem Haiti in einem Ent­schei­dungs­spiel auf neu­tralem Boden in Jamaika mit 0:1 unterlag. Das Spiel war nötig geworden, nachdem das Team, das eine Woche zuvor noch mit 3:0 in El Sal­vador gewonnen hatte, im Rück­spiel daheim 1:2 verlor. Das war unglaub­lich bitter“, sagt Joe Namphy, der frü­here Gene­ral­se­kretär des hai­tia­ni­schen Fuß­ball­ver­bandes. Die Anzahl der erzielten Tore spielte damals noch keine Rolle, sonst wären wir auch in Mexiko dabei gewesen. Dieser Jahr­gang war min­des­tens ebenso stark wie der vier Jahre später.“

Der mutige Angriffs­fuß­ball, den der schlitz­oh­rige Trainer Antonie Tassy spielen ließ, beein­druckte die Beob­achter, und nach der ver­passten Qua­li­fi­ka­tion gab das Duva­lier-Regime eine Erklä­rung heraus, die besagte: Wir geloben unserem Volk, dass die Natio­nalelf die WM 1974 errei­chen wird, und dass Prä­si­dent Duva­lier weiter die Fort­schritte des Teams über­wacht und die Spieler und den Trainer unter­stützt, damit dieser Traum wahr wird.“

Nachdem er in einer wei­teren Schein­wahl 28 Mil­lionen Stimmen bekommen hatte (3000 uner­schro­ckene Seelen stimmten gegen ihn), hatte sich Papa Doc 1964 zum Prä­si­denten auf Lebens­zeit ernannt. Als über­zeugter Ver­fechter der Négri­tude erhielt er viel Rück­halt aus der armen schwarzen Bevöl­ke­rung, die der mulat­ti­schen Elite des Landes mit Miss­trauen begeg­nete. Manno Sanon erklärt: Die Duva­liers för­derten die Idee der Négri­tude, womit sie bei den Massen gut ankamen. Sie bedeu­tete, dass wir etwas wert waren und nicht nur irgend­welche Schwarzen. Die Duva­liers wie auch Trainer Tassy ver­standen sich darauf, die Spieler zu begeis­tern. Ich wusste, dass ich sowohl Haiti reprä­sen­tierte als auch für die Idee der Négri­tude ein­stand, wenn ich das oran­ge­far­bene Trikot überzog. Doch es spielten auch einige Mulatten in der Mann­schaft und das Team bil­dete eine Ein­heit, weil Tassy nichts anderes hätte gelten lassen. Ich denke des­halb, dass die Natio­nal­mann­schaft für ein ideales Haiti stand.“

Duva­lier liebte aller­dings nicht nur den ita­lie­ni­schen Fuß­ball, er bewun­derte auch Mus­so­linis schwarze Hemden und nahm sich Il Duces Pri­vat­armee als Vor­bild für seine Geheim­po­lizei. Papa Docs Schergen wurden nicht bezahlt, son­dern machten ihren Schnitt mit Erpres­sung und der Ver­un­treuung von Gel­dern, die für soziale Zwecke in Haitis ärmsten Gegenden vor­ge­sehen waren. Sanon: Das war die Seite des Regimes, der sich die Spieler nicht bewusst waren, obwohl ständig diese fins­teren Typen mit der Mann­schaft rum­hingen, vor allem, wenn wir im Aus­land antraten. Uns lächelten sie aller­dings an. Ihre häss­liche Seite sahen wir nicht, zumin­dest nicht bis zur Welt­meis­ter­schaft 1974.“

Ich habe die Duva­liers aus tiefstem Herzen gehasst“

Damals lebten die meisten Spieler Haitis noch in ihrem Hei­mat­land. Was die Ton­tons Macoutes gerade der Land­be­völ­ke­rung antaten, ent­ging ihnen kei­nes­wegs. Papa Docs Männer beschlag­nahmten einen Groß­teil des besten Acker­landes und zwangen viele Men­schen zur Flucht in die zuneh­mend gefähr­liche und von Seu­chen bedrohte Haupt­stadt. Ein Mit­glied des dama­ligen Teams, das noch immer in Port-au-Prince ein kleines Elek­tro­ge­schäft betreibt, sagt: Ich habe die Duva­liers aus tiefstem Herzen gehasst. Man brauchte nur die Augen auf­zu­ma­chen, um zu wissen, was vor sich ging. Damals ver­schwanden einige meiner Ange­hö­rigen, und meine Cou­sins ver­loren ihr Land, für das sie jah­re­lang hart gear­beitet hatten. Doch als ehr­gei­ziger Fuß­baller war mir auch klar, dass mein Schicksal in Duva­liers Hand lag. Damals machte man sich selbst etwas vor und meinte, dass all das, was die Leute sagten, ein­fach nicht wahr sein konnte. Die Pro­pa­ganda behaup­tete, dass nicht Papa Doc, son­dern seine Feinde für die vielen Ver­schwun­denen ver­ant­wort­lich seien. Wenn man sich blind und taub stellte, konnte man fast daran glauben.“

Im April 1971 starb Papa Doc, und sein ein­ziger Sohn, Jean Claude Baby Doc“ Duva­lier, wurde mit zwanzig Jahren der jüngste Prä­si­dent der Welt. Zwar scherte sich Baby Doc herz­lich wenig um innen­po­li­ti­sche Belange und war eher auf das süße Leben eines Play­boys aus, den­noch war ihm klar, dass er bald gestürzt werden würde – etwa durch eine von der CIA gelenkte Ver­schwö­rung –, wenn er sich nicht ein wenig vom auto­kra­ti­schen Füh­rungs­stil seines Vaters ver­ab­schie­dete. Auf Druck der USA führte er ein etwas gemä­ßig­teres Regime als sein Vater. Er ließ poli­ti­sche Gefan­gene frei, lockerte die Pres­se­zensur und ver­an­lasste Reformen. Als Akt des guten Wil­lens nahm die US-Regie­rung dar­aufhin Ende 1971 ihr Hilfs­pro­gramm wieder auf. Dank dieser Finanz­spritze erlebte Haiti eine Art kleines Wirt­schafts­wunder. His­to­riker Jean Antoine: Natür­lich lag noch immer vieles im Argen, doch viele Hai­tianer bli­cken auf diese Zeit mit nost­al­gi­schem Stolz zurück. Die Zahl der Plün­de­rungen, Morde und Epi­de­mien ging zurück, und die Regie­rung unter­nahm gezielte Anstren­gungen, jedem Kind eine ver­nünf­tige Schul­bil­dung zu ermög­li­chen. Auch die Natio­nal­mann­schaft pro­fi­tierte enorm.“

Baby Doc öff­nete seine Scha­tulle und rich­tete für den hai­tia­ni­schen Fuß­ball­ver­band ein eigenes Bank­konto ein. Joe Namphy erzählt: Er finan­zierte alles, unter anderem das Natio­nal­sta­dion Sylvio Cator, das zum CON­CACAF-Tur­nier 1973 für eine Mil­lion Dollar kom­plett über­holt wurde. Er hatte alles im Griff und unter Kon­trolle, ein wenig wie Silvio Ber­lus­coni beim AC Mai­land.“ Emma­nuel Sanon meint: Er ließ keinen Zweifel daran, dass es seine Mann­schaft war und sein Geld, wel­ches uns dahin gebracht hatte, wo wir waren. Er war wesent­lich umgäng­li­cher als sein Vater, schaute beim Trai­ning vorbei und rief mich und andere Spieler regel­mäßig an, um zu hören, ob es uns gut ginge. Einigen war nicht wohl dabei, Jean Claude ständig in der Nähe zu haben. Obwohl er noch so jung war, war er so etwas wie ein Vater für uns. Er sorgte dafür, dass es uns gut ging, konnte aber auch bestrafen, wenn ihm danach war.“

Der CON­CACAF-Nati­onscup von 1973 diente zugleich als Qua­li­fi­ka­tion für die Welt­meis­ter­schaft. Sämt­liche Spiele wurden im 30000 Zuschauer fas­senden Sylvio Cator von Port-au-Prince aus­ge­tragen, das als Hexen­kessel berüch­tigt war. Manno Sanon räumt die Bedeu­tung des Heim­vor­teils ein: Das Publikum ver­an­stal­tete einen Höl­len­lärm und schüch­terte den Gegner ein. Spiele in Mit­tel­ame­rika oder der Karibik sind meist laut, doch bei uns ging es manchmal gera­dezu giftig zu, Gegen­stände wurden aufs Feld und auf geg­ne­ri­sche Spieler geworfen. Es gab auch Berichte von geg­ne­ri­schen Spie­lern, die auf dem Sta­di­onpark­platz schi­ka­niert wurden. Das hätte keiner von uns gut­ge­heißen, aber ich kann auch nicht leugnen, dass es uns geholfen hat.“

Diri­genten“ im Publikum

Wie schon seinem Vater wurde auch Baby Doc Mani­pu­la­tion vor­ge­worfen, ins­be­son­dere vor der wich­tigen Partie gegen Tri­nidad & Tobago, die Haiti mit 2:1 gewann. Tri­ni­dads Stürmer Steve David behaup­tete, dass schwarze Künste Haiti zum Sieg ver­halfen“. Seine Zweifel an der Leis­tung des Schieds­rich­ters Enri­quez aus El Sal­vador, der vier Tref­fern Tri­ni­dads die Aner­ken­nung ver­wei­gerte, schienen sich zu bestä­tigen, als Enri­quez später wegen der Annahme von Schmier­gel­dern gesperrt wurde. Mitt­ler­weile ist außerdem her­aus­ge­kommen, dass Baby Doc Diri­genten“ im Publikum plat­ziert hatte.

Knei­pen­be­sitzer Pierre Dier­diste, in den Sieb­zi­gern ein bekanntes Gesicht bei Spielen der hai­tia­ni­schen Natio­nal­mann­schaft, behauptet, von einem Regie­rungs­be­amten dazu beauf­tragt worden zu sein, bei den Spielen das Publikum anzu­heizen. Man gab mir ein Mega­phon, stellte mir ein paar Trommler zur Seite und befahl mir, für Stim­mung zu sorgen. Im Sta­dion befanden sich meh­rere sol­cher Diri­genten, außerdem waren Hexen­dok­toren da, die Geister beschworen und die Gegner ver­zau­berten.“




Der bekannte hai­tia­ni­sche Musiker Bob Lemoine schrieb Toup Pou Yo“ („Schieß ein Tor“), das von den Kickern ein­ge­spielt wurde und bis heute das popu­lärste Fuß­ball­lied des Landes ist. Der frü­here Mit­tel­feld­spieler Jean Her­bert Austin erin­nert sich: Diese drei Wochen waren die unglaub­lichsten, die ich in Port-au-Prince je erlebt habe. Nach jedem Sieg gab es Kar­neval in den Straßen und in der ganzen Stadt ging gar nichts mehr. Das ent­schei­dende Spiel fand gegen Gua­te­mala statt. Vor dem Anpfiff kam Duva­lier in die Kabine und beschwor uns, für Haiti zu siegen. Und genau das taten wir.“ Als beim Stand von 2:1 der Schluss­pfiff ertönte, sank Manno Sanon auf die Knie und dankte Gott für diese Chance“.

Andere weinten oder brüllten wie die Irren, das ganze Land war in Auf­ruhr. Nachdem die Polizei die Menge zer­streut hatte und die Spieler das Sta­dion ver­lassen konnten, fei­erten sie mit Baby Doc. Ihr seid Helden, jeder ein­zelne von euch“, strahlte der Wohl­täter. Er hatte den Traum seines ver­stor­benen Vaters ver­wirk­licht.

Zwei Wochen vor Tur­nier­be­ginn flog die Mann­schaft nach Deutsch­land und bezog ihr Quar­tier in der Sport­an­lage Grün­wald in Mün­chen, wo sie ihre schweren Grup­pen­spiele gegen Ita­lien, Polen und Argen­ti­nien aus­tragen musste. Die meisten Spieler waren zum ersten Mal in Europa. Jean Her­bert Austin erin­nert sich, dass einige von uns sich sehr iso­liert fühlten, fernab von allem, was sie kannten“. Den­noch konnten sie es kaum erwarten, gegen Ita­lien zu spielen, wie Austin sagt: Die Ita­liener hatten seit 1100 Minuten kein Gegentor bekommen, was damals Welt­re­kord war, doch sie waren schon ein wenig in die Jahre gekommen, und wir wollten ver­su­chen, es ihnen so schwer wie mög­lich zu machen.“

Die ita­lie­ni­sche Elf um Tor­hüter Dino Zoff prak­ti­zierte sei­ner­zeit ihren Caten­accio in Voll­endung. Es war Sanon, der die Ita­liener kurz nach der Pause schockte, als er nach einem mil­li­me­ter­ge­nauen Zuspiel von Phil­ippe Vorbe durch die Ver­tei­di­gung brach, Zoff umspielte und den Ball ins Tor schoss. Ich erin­nere mich, als wäre es ges­tern gewesen“, sagt er.




Ich wusste, dass ich die ita­lie­ni­sche Abwehr mit meiner Schnel­lig­keit in Schwie­rig­keiten bringen konnte. Mit diesem Tor hat sich Haiti inter­na­tio­nales Ansehen erworben, ganz egal, was danach pas­sierte. Psy­cho­lo­gisch waren wir damit wohl etwas über­for­dert und ver­loren unsere Kon­zen­tra­tion. Doch das Tor war der größte Moment meiner Kar­riere. Zoff war stink­sauer auf seine Vor­der­leute und ich freute mich ein­fach riesig, weil ich wusste, dass daheim alle aus­ras­teten.“

Zwar drehten die Azzurri das Spiel noch und gewannen mit 3:1, aber die ita­lie­ni­sche Presse machte keinen Hehl aus ihrer Empö­rung, dass aus­ge­rechnet das kleine Haiti dem Zoff’schen Rekord nach 1147 Minuten ein Ende gesetzt hatte. Sanon und seine Mit­spieler waren die Helden des Tages. Am nächsten Morgen mar­schierten sie bei strah­lendem Son­nen­schein durch den Münchner Zoo und genossen die mediale Auf­merk­sam­keit. Baby Doc, der Haiti nur selten ver­ließ, über­mit­telte seine Glück­wün­sche.

Dann aber geschah etwas, was die Laune des Wohl­tä­ters schlag­artig kippen ließ. Ernst Jean-Joseph, der mulat­ti­sche Mit­tel­feld­spieler, wurde bei der rou­ti­ne­mä­ßigen Doping­probe positiv getestet. Jean-Joseph beteu­erte, er habe Pillen wegen seines Asthmas nehmen müssen, doch der Mann­schafts­arzt gab gegen­über der Presse zu Pro­to­koll, dass das Unsinn sei und der Spieler zu dumm, um zu wissen, was er tut“.

Am nächsten Tag gingen die Bilder von Jean-Joseph, der wie ein Häuf­chen Elend in der Lobby des Penta Hotels kau­erte, durch die Welt­presse. Dann zerrten Team­of­fi­zi­elle den schrei­enden Spieler aus der Sport­an­lage Grün­wald, schlugen ihn vor den Augen der Jour­na­listen, stießen ihn in ein Auto und setzten ihn in den Flieger zurück nach Haiti. Jean-Josephs Mit­spieler waren ent­setzt. Ich erin­nere mich an die fins­tere Miene eines Offi­zi­ellen, der zuvor immer nur gelä­chelt hatte“, sagt der heute in Miami lebende Fritz Plantin, damals Innen­ver­tei­diger. Jetzt erlebten wir die Schat­ten­seite des Regimes, vor der wir als erfolg­reiche Fuß­baller immer geschützt gewesen waren. Vor dem Match gegen Polen hatten wir eine schlaf­lose Nacht, und ehr­lich gesagt dachte ich nur an Ernst und nicht an das Spiel.“

Plan­tins Mann­schafts­ka­me­raden ging es ver­mut­lich ähn­lich, und so wurden sie von den bei diesem Tur­nier aller­dings sehr starken Polen mit 7:0 vor­ge­führt. Zur Halb­zeit lagen wir 0:5 zurück“, meint Plantin, und hätten sie zwei­stellig gewonnen, hätten wir uns auch nicht beschweren dürfen.“

Jean-Joseph wurde später ange­wiesen, im Team­quar­tier anzu­rufen und Kapitän Phil­ippe Vorbe mit­zu­teilen, dass er noch am Leben sei. Das beru­higte die Mann­schaft, und sie schlug sich beim 1:4 gegen Argen­ti­nien im dritten Spiel durchaus achtbar, wobei erneut Sanon als Tor­schütze erfolg­reich war.

Jean-Joseph, der zuvor nie über die zwei­fel­hafte Ehre gespro­chen hat, als erster Spieler über­haupt wegen eines posi­tiven Doping­tests von einer Welt­meis­ter­schaft aus­ge­schlossen zu werden, ver­spricht mir vor meiner Ankunft in Haiti ein Inter­view, ist aber wie vom Erd­boden ver­schluckt, als ich schließ­lich in Port-au-Prince ein­treffe. Ein Freund der Familie erklärt sich zu einem Treffen bereit und demen­tiert Berichte, wonach Jean-Joseph von den Ton­tons Macoutes beide Arme gebro­chen worden seien. Er hatte das Glück, einer der Lieb­lings­spieler von Baby Doc zu sein, und das weiß er auch“, sagt der Freund. Er spricht über die Ereig­nisse von damals nicht gerne, weil er glaubt, Schande über Haiti gebracht zu haben. Damit muss er bis heute leben.“ Hat Jean-Josephs Bestra­fung dem WM-Aben­teuer ein wenig von seinem Glanz genommen? Ein wenig viel­leicht“, räumt Sanon ein, aber Ernst kehrte ins Natio­nal­team zurück und setzte seine Kar­riere fort. Es gibt also kein tra­gi­sches Ende oder so etwas. 1974 war unser Moment, unsere Zeit. Eine Zeit, in der Haiti so stabil war wie lange nicht.“

In Port-au-Prince wird beson­ders Manno Sanon ver­göt­tert wie Diego Mara­dona in Neapel oder Luigi Riva auf Sar­di­nien. In zahl­rei­chen Cafés und Kneipen hängt sein Bild, und in den klapp­rigen Bussen, den Tap Taps, wird noch immer Bob Lemo­ines Lied gespielt. Anders als vielen Spie­lern des anderen Außen­sei­ters Zaire ist es den meisten Hai­tia­nern nach dem Tur­nier von 1974 gut ergangen. Gene­ral­se­kretär Joseph Namphy: Viele konnten sich durch ihre Auf­tritte für aus­län­di­sche Klubs emp­fehlen. Sanon spielte in Ant­werpen, Tor­hüter Fran­cillon bei 1860 Mün­chen und Joseph, Mat­thieu und Antoine in der NASL für Chi­cago Sting. Der Groß­teil des Teams blieb bis zur Qua­li­fi­ka­tion für die Welt­meis­ter­schaft 1978 zusammen, bei der wir Zweiter wurden. Damals konnte sich leider nur ein Team aus unserer Region qua­li­fi­zieren.“

Einige Spieler leben heute wieder in Haiti, andere sind ins Aus­land gegangen und halten nur wenig Kon­takt zur Heimat. Sie alle aber kamen noch einmal zusammen, als Sanon im Februar 2008 einem Pro­sta­ta­krebs­leiden erlag. Bei der Bei­set­zung in Port-au-Prince trugen Mit­glieder der Mann­schaft den Sarg. Sämt­li­chen Akteuren des Kaders wurde zu diesem Anlass von der Regie­rung eine Rente auf Lebens­zeit zuge­spro­chen, was für manche ein Segen war.

Baby Doc war bei der Beer­di­gung nicht zugegen. Der frü­here Macht­haber lebt im Pariser Exil und kommt eher schlecht als recht über die Runden, nachdem er fast sein gesamtes Ver­mögen ver­schleu­dert hat und der Rest einer kost­spie­ligen Schei­dung zum Opfer fiel. Hin und wieder tönt er, in seine Heimat zurück­kehren zu wollen, doch die Angst, von seinen Lands­leuten für die Ver­bre­chen seines Clans ver­ant­wort­lich gemacht zu werden, hält ihn davon ab. Der Dik­tator wurde 1986 durch einen Mili­tär­putsch ent­machtet, aber bis heute haben die Duva­liers zahl­reiche unver­bes­ser­liche Anhänger, die behaupten, dass die sieb­ziger Jahre trotz aller wirt­schaft­li­cher Not, Berichten über Folter und der Ver­schwen­dung öffent­li­cher Gelder für viele Hai­tianer ein gol­denes Zeit­alter war.

Es gibt einige Fuß­baller, die dem nicht wider­spre­chen würden.