Schon jetzt ist klar: diese WM wird nicht als Turnier der Taktikfinessen in die Geschichte eingehen. Leidenschaft und Herz dominieren!
Per Mertesacker hat in den letzten beiden Tagen eine Menge Zuspruch bekommen, nachdem der sonst so kontrolliert norddeutsche Innenverteidiger einen Interviewer vom ZDF direkt nach dem Spiel gegen Algerien ordentlich angeblafft hatte. Dieser Zuspruch hat verschiedene Gründe, sei es die einfache Freude daran, dass mal was anderes passiert als sonst, sei es aufgrund des sowieso beliebten Bashings blöder Fernsehtypen oder des Ärgers darüber, dass nach einem Sieg zu maulig nachgefragt worden war. Ein wichtiger Punkt für viele Fans, die Mertesacker beisprangen, war aber noch ein anderer. Erschöpft wie nach der zwölften Runde eines Boxkampfs hatte der Lulatsch vor der Kamera gestanden, völlig verausgabt, völlig leer – und sein Befrager hatte das Besondere dieser Situation nicht thematisiert.
Wer aber die 120 Minuten gesehen hatte, konnte bei allen Unzulänglichkeiten im Spiel der deutschen Mannschaft einen Umstand nicht übersehen: Mertesacker und die meisten seiner Kollegen hatten alles aus sich herausgeholt. Deshalb hatte auch mit ihnen leiden müssen, wer kein ganz kaltes Herz hatte. So erging es einem jedoch nicht nur bei der deutschen Mannschaft gegen Algerien, sondern in fast allen Spielen des Achtelfinales. Kaum eine Partie der K.O.-Runde ging zu Ende, ohne in Gesichter von Männern zu schauen, die von Krämpfen geplagt in eine Welt vorgestoßen waren, die viele vorher noch nicht gesehen hatten.
Kein Spiel dieser Weltmeisterschaft hat bislang die kühle Präzision erreicht, die wir aus den Schlussrunden der Champions League kennen. Dort erleben wir regelmäßig faszinierende Aufführungen von Großmeistern der Fußballtaktik und –strategie. Bei dieser WM hingegen fehlt die Raffinesse von Reals triumphalen 4:0‑Sieg in München, die Abgebrühtheit von Mourinhos Chelsea oder das intelligent durchkomponierte Spiel von Atletico Madrid. Natürlich war Chiles mal frenetisches, mal dosiertes Pressing mit der für uns ungewohnten Dreier-Kette in der Abwehr faszinierend. Und natürlich ist Luis van Gaal bislang der cleverste Trainer des Turniers, weil er seine Holländer die Gegner eine Stunde lang anrennen lässt und dann auf Offensive umstellt.
Aber selbst bei Chile oder Holland war letztlich ein anderes Thema wichtig. Angespielt wurde es in dieser Saison schon in der Champions League, von einem aus den besten Spielern der Welt zusammengesetzten Milliardenteam. Das Endspiel in Lissabon zwischen Real und Atletico Madrid wurde bei allen taktisch-strategischen Verknotungen nämlich durch einen fantastischen Willensakt von Reals Verteidiger Sergio Ramos entschieden, der sein Team in die letztlich siegreiche Verlängerung rettete.
Mit dem Slogan „Wer will es mehr?“ bewarb der Fernsehsender Sky in den entscheidenden Wochen der Saison seine Übertragungen. Genau diese Frage, die nach der Bereitschaft zum Kampf und dem schieren Willensakt, schwebt über dem Turnier in Brasilien noch deutlicher. Sie ist scheinbar sogar die entscheidende Frage. Denn keine Mannschaft ist bislang ohne Grenzerfahrungen ausgekommen. Brasilien litt gegen Chile bitterlich, Frankreich wankte gegen Nigeria, die Schweiz trieb Argentinien auf einen fußballerischen Achttausender, und selbst die USA forderten Belgien bis zum letzten Moment alles ab. Die Frage, ob das guter Fußball war, stellte sich nicht. Und wenn doch: natürlich war das großartig, mitreißend und bewegend.
Trotz der empörenden Umstände eines Turniers mit all den berechtigten Protesten in Brasilien gegen die Verschwendung von Staatsgeldern, die dringender für Krankenhäuser und Schulen gebraucht werden, und trotz eines marode und mafiös anmutenden Weltverbandes FIFA, wird diese WM als ein Moment der Erneuerung in die Fußballgeschichte eingehen. Oder zumindest als einer, der auf ein zentrales Moment des Spiels hinweist: seine Emotionalität.
Fußball ist dann besonders groß, wenn sich seine Protagonisten ungeschützt zeigen. Als Menschen, die sich verzweifelt langen Bällen in den Weg werfen, mit letzter Kraft noch einen Flankenlauf versuchen oder mit zitternden Gliedern zum Elfmeterschießen wanken. Wie durch ein Wunder erleben wir das bei dieser Weltmeisterschaft in Serie. Denn nicht Matchpläne werden hier abgearbeitet, und es wird auch nicht eiskalt kalkuliert. Wer es dennoch im Normalmodus versucht, wird dafür bestraft – wie Spanien und Italien. Das erklärt sich vor allem dadurch, dass sich Nationalmannschaften in kurzer Vorbereitungszeit unmöglich so komplex einspielen können, wie das im Vereinsfußball auf höchstem Niveau selbstverständlich ist. Für die Spieler hat das Folgen: Sie müssen sich stärker auf sich selbst verlassen, Nachbarschaftshilfe für den Nebenmann leisten, improvisieren können und überhaupt alles geben.
Während wir ihnen dabei zusehen, verlieren sich aufs Schönste all die Nebengeräusche, die den modernen Fußball oft so unerträglich machen. In diesen Grenzbereichen helfen nämlich keine Marketingkampagnen und Werbeverträge mehr, keine Facebook-Freunde und keine Twitter-Follower. Hier müssen die Spieler sich zeigen, wie sie wirklich sind. Fast allen gelingt das bei dieser WM, und dafür verdienen sie unseren Respekt. Den müssen wir ihnen auch zollen! Erst dann dürfen wir Per Mertesacker fragen, warum eigentlich die deutsche Mannschaft so in Not gekommen ist.