Die „Schalker Meile“ ist längst nicht mehr das Epizentrum des modernen S04. Für unser Bundesliga-Sonderheft wagte sich Jens Kirschneck trotzdem zwischen die Fangruppen und fragte sich: Wo bitte ist die Grenze zwischen Tradition und Kommerz?
Als sich das neue Schalke die Köpfe heiß redet, liegt das alte in tiefem Schlummer. In der hochmodernen Arena auf Schalke, die seit Jahren nach einer Brauerei benannt ist, haben sich 9000 Klubmitglieder versammelt, um einen neuen Aufsichtsrat zu wählen und über den 3,6 Millionen Euro teuren Deal des FC Schalke 04 mit der Ticket-Plattform Viagogo zu streiten. Die Klubführung würde allerdings am liebsten nicht streiten und hat deshalb zu einem Familientag geladen, bei dem einiges geboten ist. Karten für die neue Saison werden verkauft, Autogramme geschrieben und Auszüge aus dem Musical „We Will Rock You“ aufgeführt. Die dahinterstehende Strategie ist selbst für naive Gemüter leicht zu entschlüsseln: Amüsiert euch gefälligst und kümmert euch nicht um unsere Geschäftspraktiken! Doch dieser Plan geht nur teilweise auf, die kritischen Fans versinken keineswegs in der Masse des auf gefällige Unterhaltung bedachten Eventpublikums. Noch nie waren auch nur annähernd so viele Menschen auf einer der traditionell lebhaften Mitgliederversammlungen auf Schalke, und nach sieben Stunden mit unzähligen Redebeiträgen, Abstimmungen und Buhrufen verspricht der Vorstand, ein wachsames Auge auf die umstrittene Ticketbörse zu haben, während der trotz der Unruhen im Amt bestätigte Aufsichtsratschef Clemens Tönnies seufzt: „Wir haben Prügel bekommen, wie ich sie in 19 Jahren noch nicht erlebt habe.“
Glückauf-Kampfbahn
Das alte Schalke hat von dem ganzen Aufruhr nichts mitbekommen. Es liegt etwa drei Kilometer südlich der Arena – entlang der Kurt-Schumacher-Straße, die selbst ausgewiesene Ruhrgebiets-Enthusiasten als abgrundtief hässlich bezeichnen würden. Die Gegend rund um den Schalker Markt ist der Nucleus, aus dem einst der Mythos vom Proleten- und Polackenverein entstand, der Schalke 04 bis heute trägt. Hier lebten die echten Knappen, die in der Zeche Consolidation schufteten, hier liegt die Glückauf- Kampfbahn, in der Schalke zu einem der populärsten deutschen Fußballklubs wurde. Heute ist die Gegend so gut wie tot, das Stadion wird bloß noch von einem Kreisligisten bespielt, viele Wohnungen und die Mehrzahl der Ladengeschäfte stehen leer und der Schalker Markt ist nur mehr ein Parkplatz. Der ruhmreiche FC Schalke 04 ist vor vielen Jahren nach Norden in den Stadtteil Erle geflüchtet – erst ins Parkstadion, später in die funkelnde neue Arena.
Zweites Zentrum der königsblauen Seligkeit
Olivier Kruschinski liebt Schalke dennoch, nicht nur den Verein, auch den Stadtteil. Und es tut ihm in der Seele weh, dass viele von denen, die heute in die Arena pilgern, kaum etwas von der Entstehungsgeschichte dieses Klubs wissen, den er für den großartigsten der Welt hält. Gerade wegen seiner Historie. „Es gibt mittlerweile Generationen von Schalke-Fans, die noch nie einen Fuß auf Schalker Boden gesetzt haben“, sagt er. Um das zu ändern, versuchen Kruschinski, den hier alle nur Oli4 nennen, und verschiedene Mitstreiter die Gegend wiederzubeleben. Nicht, dass sie den Niedergang der Industriekultur rückgängig machen und die Leerstände beseitigen könnten, aber zumindest ein zweites Zentrum der königsblauen Seligkeit abseits des Arena-Geländes soll hier wieder entstehen.
Dass er dabei auf den FC Schalke nicht zählen kann, weiß Kruschinski. „Der Verein kokettiert mit seiner Gründungsgeschichte und macht damit Marketing, aber er hat sich vom Stadtteil abgewendet“, sagt er. Alles, was in der Gegend passiert, kommt durch die Fans. Oli4 selbst, einer der Köpfe des Schalker Supporters Club, bietet Führungen an: zur Kampfbahn, zu Ernst Kuzorras Geburtshaus, zum Schalker Markt. Es gibt mittlerweile eine S‑Bahn-Haltestelle, die „Schalker Meile“ heißt, Strommasten wurden in Vereinsfarben angemalt, leere Schaufenster dekoriert und Schilder aufgestellt. Immer noch würde niemand von blühenden Landschaften reden, doch auf den 800 Metern zwischen der Glückauf-Kampfbahn und der Berliner Brücke residieren heute die wichtigsten Fanorganisationen.
Der Schalker Fanclub-Verband (SFCV), Dachorganisation der blau-weißen Anhänger mit rund 90 000 Mitgliedern, betreibt die Kneipe „Auf Schalke“, die ehemalige Gaststätte Wellhausen. Die Supporters verkehren in einem eigenen Lokal, das sinnigerweise „Anno 1904“ heißt. Die Faninitiative hat ihren Laden auf der anderen Straßenseite. Sogar die Haudraufs von der „Gelsen-Szene“ wohnen mit ihrem „Private Members Club“ in der Nachbarschaft.
„Das Kind kommt ins Kinderheim“
Und dann gibt es noch das Bosch. Das liegt direkt an der Kampfbahn und ist vielleicht das authentischste Lokal an der Meile. Früher tranken auch die Spieler hier, die Plakette an einer Sitzbank verweist auf den Stammplatz des legendären Ernst Kuzorra. Freilich ist das lange her, der letzte Aktive, der sich sehen ließ, war Youri Mulder. Und ja, der sehr junge Manuel Neuer ist einmal spät abends wegen einer Bulette vorstellig geworden. Heute ist das Bosch die Heimat des Fanklubs „Kuzorras Enkel“, dessen Vorsitzender Ralph Barthlomaycyk heißt, und weil das kaum jemand aussprechen oder unfallfrei schreiben kann, sind alle erleichtert, wenn er sagt: „Hallo, ich bin der Batto.“
Batto ist nach eigener Aussage „eine Schalker Hausgeburt“ und hat das königsblaue Fantum in seiner DNA festgeschrieben. „Hätte ich damals gesagt, ich werde Doofmund oder Bayern-Fan, hätte es geheißen, das Kind kommt ins Kinderheim!“ Der 47-Jährige kann erdige Geschichten über den Verein und das Viertel erzählen. Über die Straßengangs, die – „Schalker Straße gegen Grenzstraße, Herdstraße gegen Grillostraße“ – einst gegeneinander kickten oder sich auf die Fressen hauten. Oder beides. Er erzählt von den letzten Schalker Spielen in der Glückauf-Kampfbahn, die seine ersten als Zuschauer waren, und natürlich von 2001, als S04 vier Minuten lang Deutscher Meister war.
„Ich stand auf der Gegengerade und hab auf der Großbildleinwand gesehen, dass das Spiel in Hamburg noch nicht vorbei war. Die ersten waren schon unten, mein Kumpel Geiger hat mit dem Taschenmesser einen Quadratmeter Rasen ausgesägt. Ich hab’ geschrien: „›Geiger, schmeiß den Rasen weg, das Spiel ist nicht zu Ende!‹“ Er schrie zurück: ›Du Pessimist, du scheiß Schalker!‹“ Und dann traf 400 Kilometer entfernt Patrick Anderson. Aber ist es nicht für den Schalker Mythos fast schöner, dass es so ausging? Weil es die bessere Geschichte und glamourösere Legende abgibt als eine schnöde errungene Meisterschaft? Nun, das hat man davon, wenn man als postmodern geschulter, zwanghaft ironischer Schreiberling an die Sache herangeht: Battos Blick könnte verständnisloser nicht sein. Zweiter besser als Erster? Warum denn das?
Legalisierter Straßenhandel
Später stößt sein Fanklub-Kumpel Michael Otte dazu. Es wird ein sehr unterhaltsamer Abend, weil beide anschaulich erzählende Zeugen des Schalker Lebens sind. Es wird ein die körperliche Unversehrtheit beeinträchtigender Abend, weil der Zapfhahn im Bosch locker sitzt. Und es wird ein etwas anstrengender Abend, weil man den Namen der Stadt Dortmund nicht in den Mund nehmen darf. Sobald man vergisst, „Doofmund“ zu sagen, was als zur Neu-tralität verpflichteter Journalist durchaus passieren kann, verschwindet ein weiterer Euro im Sparschwein des Fanklubs „Kuzorras Enkel“. Also besser nicht über den schwarz-gelben Nachbarn reden, sondern über das neue Schalke. Es ist der Tag vor der Mitgliederversammlung und Ralph Barthlomaycyk, Schalkefan qua Geburt, ist stolz, weil er morgen für seine 25-jährige Vereinsmitgliedschaft geehrt wird. Er freut sich auf das Unterhaltungsprogramm und wird seine Töchter mitnehmen, doch die Sache mit Viagogo schlägt auch ihm auf den Magen. „Ich find’ das absolute Scheiße, für mich ist das legalisierter Straßenhandel.“ Schon heute könnten sich viele Schalke-Anhänger die Tickets nicht mehr leisten, und überhaupt, unter Rudi Assauer wäre das nicht passiert. Hätte, wäre, wenn … Batto reißt sich am Riemen und schüttelt den Kopf. „Hätte meine Tante Klötze, wär’ sie mein Onkel.“ Drei Neue, bitte.
Schalke Unser
Stößt sich schon Batto – der, ohne ihm zu nahe treten zu wollen, kein besonders politischer Fan ist – an manchen Phänomenen der Schalker Gegenwart, so gilt dies erst recht für die Leute von der Faninitiative. Die sind bekannt für ihr unermüdliches Engagement gegen Rassismus, unterhalten einen Fanladen, machen Kulturarbeit und geben das beliebte Fanzine „Schalke Unser“ heraus. An diesem Morgen aber, wenige Stunden vor der Mitgliederversammlung, haben Susanne Franke und Helmut Schiffer die Krise. „Das ist ein Familienevent, nicht mehr das höchste Gremium einer demokratischen Veranstaltung“, klagt Susanne Franke. Man muss in der Tat kein Verschwörungstheoretiker sein, um zu konstatieren, dass die Vereinsführung die Versammlung genial vorbereitet hat – so als hätte ein Spin Doctor dabei Regie geführt. Ist es Zufall, dass die „Bild“-Zeitung just an diesem Morgen meldet, Schalke hätte ein Angebot für Julian Draxler in Höhe von 45 Millionen Euro abgelehnt? „Natürlich nicht!“, stößt Susanne hervor. Opium fürs Volk.
Die Schalker Meile ist ein Symbol für den schwierigen Spagat, den das moderne Schalke versucht. Eigentlich müsste ein solcher Straßenabschnitt für die Klubführung ein gefundenes Fressen sein, die Folk- lore zu pflegen, die in diesem traditionsschwangeren Verein immer noch wichtig ist. „Als Horst Heldt neu im Amt war, hat er sich interessiert“, sagt Susanne Franke. „Er war im Bosch, beim Dachverband, im Anno und bei uns in der Fan-Ini. Er wollte es fördern und hier mal einen Schalke-Tag veranstalten.“ Dann ist die gute Idee des Managers wohl irgendwie im Tagesgeschäft unter die Räder gekommen. Doch es ist auch nicht leicht für den Vorstand in einem Klub, dessen Anhänger einerseits ihren Gelsenkirchener Barock pflegen und sich andererseits nach dem großen Erfolg sehnen. „Nach dem UEFA-Cup-Sieg 1997“, erzählt Helmut Schiffer, „standen die Alten hier mit Tränen in den Augen am Straßenrand und seufzten: „So schön! Aber einmal die Deutsche!“ Seit 1958 ist Schalke 04 nicht mehr Deutscher Meister geworden. Heute indes holt den Titel niemand mehr, der in erster Linie die nostalgische Karte spielt. Wie aber geht die Balance zwischen Tradition und Kommerz? Es ist eine Frage von geradezu faustschen Dimensionen: Will man die Seele dem Teufel verkaufen, um etwas zu bekommen, was man sich so sehr wünscht? „Den Schalker Kreisel kriegst du nicht mehr zurück“, sagt Helmut Schiffer.
Kurz darauf machen er und Susanne Franke sich auf den Weg in die Arena. Auch die Supporters, die sich vor dem „Anno 1904“ versammelt hatten, sind in die Schlacht gezogen. Wilhelm Plenkers sitzt derweil in seiner Kneipe im acht Kilometer entfernten Ückendorf. Der Mann, den alle nur „Trompeten-Willy“ nennen, weil er im Stadion seit 1981 zur Attacke bläst, hat eine einleuchtende Begründung dafür: Er ist kein Klubmitglied. „Ich bin ausgetreten, als Eichberg Präsident wurde“, sagt er. „Damals habe ich mir geschworen: Bevor ich wieder eintrete, entschuldigt sich der Vorstand für Eichberg oder Schalke wird Deutscher Meister.“ Beides ist bisher nicht passiert.
Euro aus der Tradition
„Trompeten-Willy“ gibt den Außenseiter in dieser Geschichte. Nicht nur, dass er kein Mitglied ist, er sitzt mit seiner Kneipe auch nicht auf der Schalker Meile. Warum eigentlich nicht? „Meinst du wirklich, du belebst die Meile, wenn du da fünf Kneipen hinhaust, die sich gegenseitig die Gäste wegnehmen?“, fragt er. Willy hat seinen eigenen Umgang mit dem Schalker Mythos: Er ist Kleinunternehmer in Sachen Königsblau. Da ist ja nicht nur die Fußballkneipe. Er war Protagonist in einer gerade abgedrehten Dokumentation über Fußballfans, „Der 12. Mann“. Er hat in verschiedenen Fernsehformaten wie „Fantausch“ und „Frauentausch“ mitgewirkt. Und er schreibt seine Memoiren. Im Grunde versucht der ehemalige Hartz-IV-Empfänger auf seine Weise nichts anderes als der Verein selbst: mit der Tradition seinen Euro zu machen. Aber darf man ihm das übel nehmen? Ein redlich bekloppter Schalker ist er allemal. Als er auf dem 50. Geburtstag von Clemens Tönnies die Trompete blasen sollte, war er felsenfest entschlossen, dem Schalke-Boss eine runterzuhauen, weil der einst sein Idol Rudi Assauer entlassen hatte. Willys Frau konnte ihn erst unter Scheidungsandrohung davon abhalten.
So gesehen hat Clemens Tönnies schon mehrere brenzlige Situationen überstanden. Die Sache mit Viagogo nahm kurz nach der Mitgliederversammlung übrigens eine überraschende Wendung: Der Vorstand kündigte den Vertrag mit der Ticketbörse fristlos. Ob das tatsächlich ein Triumph der Fans war, sei dahingestellt. Es hat zumindest den Vorteil, dass man sich auf Schalke erst mal wieder aufs Sportliche konzentrieren kann. Der Verein soll ja eine junge, sehr interessante Mannschaft haben, wie man hört.