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Es fließt ein kleiner Fluss durch St. Bar­thé­lemy, er heißt Le Talent“. Le Talent, das Talent, bahnt sich seinen Weg in sanften Win­dungen erst süd- und dann nord­wärts, wo er in einen grö­ßeren Fluss und dann bei Yverdon in einen See fließt, in den Lac de Neu­châtel. Von dort geht es weiter in den Bie­lersee und aus dem Bie­lersee in die Aare und mit der Aare in den Rhein, hinaus in die Welt. Lucien Favre hat als Trainer seinen Radius sachte, aber stetig erwei­tert, er hat die Arbeit im Nach­bar­dorf seines Hei­mat­ortes St. Bar­thé­lemy auf­ge­nommen, im zwei Kilo­meter ent­fernten Echal­lens, ist dann weiter fluss­ab­wärts nach Yverdon, von dort nach Genf, dann nach Zürich, schließ­lich nach Deutsch­land. Ist er vor­sichtig? Nein, nein. Das hat nichts mit Vor­sicht zu tun.“ Lucien Favre wider­spricht ein erstes Mal. Er will prä­zise bleiben: Sie haben ver­gessen, dass ich zwi­schen­durch in Neu­châtel war, für 18 Monate. Nicht als Trainer zwar, doch die Arbeit dort hat mich geprägt.“

Das Kapitel Neu­châtel, wo Lucien Favre bei Xamax als Nach­wuchs­ma­nager arbei­tete, mag das Bild des sich auch räum­lich erwei­ternden Wir­kungs­kreises etwas stören. Es ändert aber nichts daran, dass dieser Trainer, der am Morgen danach über das 5:0 seiner Glad­ba­cher gegen Werder Bremen sagt es war okay“, eine für einen frü­heren Natio­nal­spieler ganz und gar unge­wöhn­liche Kar­riere gemacht hat. Er ist nicht in der ersten Liga ein­ge­stiegen, nicht in der zweiten und auch nicht in der dritten. Er hat 1991, wenige Monate nach dem Ende seiner Kar­riere als Pro­fi­fuß­baller, die C‑Junioren des FC Echal­lens über­nommen. Je vou­lais voir“, sagt er dazu in einer Doku­men­ta­tion des West­schweizer Fern­se­hens, ich wollte schauen, ob das etwas für mich ist.“ Wie es war?“, fragt Ludovic Magnin, 62-facher Schweizer Natio­nal­spieler, Ex-Bremer, Ex-Stutt­garter und damals einer jener 13-jäh­rigen Jungs beim FC Echal­lens. Es war so, dass wir alle dastanden mit auf­ge­ris­senen Augen, offenem Mund und keiner einen Ton her­aus­brachte. So war es.“

Zeit ist sehr wichtig, doch sie ist knapp“

Favre war damals ange­treten, einen Fuß­ball­klub von Grund auf ken­nen­zu­lernen. Um her­aus­zu­finden, ob er als Trainer geeignet ist, musste er Ein­blick erhalten in alle Tätig­keits­felder, die sich einem Trainer öffnen. Nun sitzt er an einem Tisch in der Geschäfts­stelle von Borussia Mön­chen­glad­bach, trinkt einen Latte mac­chiato, den er bei der Mit­ar­bei­terin in einer Freund­lich­keit bestellt hat, als würde er sich wegen der auf­wen­digen Zube­rei­tung des Heiß­ge­tränks ent­schul­digen wollen, und sagt, das Beherr­schen dieser vielen ver­schie­denen Tätig­keiten sei noch immer die größte Her­aus­for­de­rung in seiner Arbeit als Coach: Mit dem Mit­ar­bei­ter­stab, mit der medi­zi­ni­schen Abtei­lung, mit dem Vor­stand, dem DFB, der Presse, den Schieds­rich­tern, überall muss man Wege finden, um mit den Leuten gut zusam­men­zu­ar­beiten. Dazu braucht man einen Plan, und für einen Plan braucht man Zeit. Zeit ist sehr wichtig, doch sie ist knapp.“

All diese Neben­tä­tig­keiten gehen auf Kosten seiner Kern­auf­gabe, der Arbeit mit der Mann­schaft, mit guten Spie­lern, die er besser machen will, indi­vi­duell und im Kol­lektiv“, der Ana­lyse der eigenen Spiele und jener der Gegner, dem end­losen Sichten von DVDs. Favre tut sich des­halb gerade mit Pres­se­ter­minen schwer, steht meist nur einmal die Woche für Inter­views zur Ver­fü­gung und lässt sich dann doch mit großer Selbst­ver­ständ­lich­keit auf sein Gegen­über ein. Die Zeit, die ihm so knapp ist, scheint er zu ver­gessen. Das ist ein ganz guter Mann“, sagt ein Betreuer, der seit über vierzig Jahren in Diensten der Borussia steht. Der arbeitet wie keiner vor ihm, und dann hat er noch für jeden ein freund­li­ches Wort übrig.“

Für jeden ein freund­li­ches Wort: Es ist der häu­figste Satz, den man hört, wenn man sich mit den Leuten über Lucien Favre unter­hält. Wenn man sich hin­gegen mit ihm selbst über seine Freund­lich­keit unter­hält, kommt ein Schul­ter­zu­cken. Es ist normal, oder? Dass man die Leute grüßt, dass man nett ist.“ In St. Bar­thé­lemy, einem Dorf in der fran­zö­si­schen Schweiz, im Hin­ter­land von Lau­sanne, ist es normal. Etwas über 700 Ein­wohner zählt die Gemeinde inzwi­schen, 58 Fami­lien tragen den Namen Favre. Er leitet sich vom latei­ni­schen Faber ab, was Schmied bedeutet, aber auch Arbeiter oder Künstler. Hier in St. Bar­thé­lemy ist Lucien Favre auf­ge­wachsen, als Bau­ern­sohn, in einem Dorf mit damals noch 200 Ein­woh­nern, hier besitzt er ein Haus. Es gab damals nichts anderes als Fuß­ball“, erzählt er, ich habe ein­fach stun­den­lang mit meinen Freunden draußen gespielt.“ Die Eltern hätten ihn spielen lassen, sie seien groß­zügig gewesen mit ihm. Ich habe schon auch geholfen auf dem Hof, manchmal. Aber ich war kein großer Fan dieser Arbeit.“

Mit 19 für Lau­sanne-Sport, später für den FC Tou­louse

St. Bar­thé­lemy ist noch immer stark land­wirt­schaft­lich geprägt, im Spät­herbst türmen sich die geern­teten Zucker­rüben am Acker­rand. Der Fuß­ball­platz des FC Le Talent ist da schon bereit für den Win­ter­schlaf, ein Zettel am Klub­haus wirbt noch für die Soirée Sau­cisse à rôtir“, einen Ver­eins­abend mit Brat­wurst­schmaus Ende November, danach ist Ruhe. In der klaren, kalten Luft geht der Blick weit über die groß­zü­gige Land­schaft, vom Schweizer Jura­ge­birge bis zu den Savoyer Alpen. Vor der Dorf­schule liegen zwanzig Klap­p­roller im Gras, daneben stehen Fahr­räder. Schlösser sieht man keine.

Von St. Bar­thé­lemy ist Lucien Favre auf­ge­bro­chen in die Welt des Fuß­balls, er spielte mit 19 für Lau­sanne-Sports in der höchsten Schweizer Liga, später für Neu­châtel Xamax, für Ser­vette Genf. Mit 26 zierte er als Spiel­ma­cher des FC Tou­louse die Titel­seite der Fach­zeit­schrift France Foot­ball“, was in Frank­reich einer Art Rit­ter­schlag gleich­kommt. Favres Stil war von einer in der Schweiz nie gese­henen Ele­ganz, es schien, als erfinde er den Fuß­ball neu. Er war schon damals allen weit voraus“, weiß Ludovic Magin, dessen Vater mit Favre seit Jugend­zeiten befreundet ist. Er hat nach neu­esten Erkennt­nissen trai­niert und auch seine Ernäh­rung ange­passt. Er hat nie etwas dem Zufall über­lassen, damals und heute nicht.“ Wäh­rend Favre in der fran­zö­sisch­spra­chigen Presse mit Pla­tini ver­gli­chen wurde, galt seine über­ra­gende Technik man­chem Deutsch­schweizer als Schön­spie­lerei. 1984 kam es des­wegen zum Bruch mit der Natio­nal­mann­schaft, deren Defen­siv­ab­tei­lung bezeich­nen­der­weise Abbruch GmbH“ genannt wurde.

Das Foul an Favre erschüt­terte die Öffent­lich­keit

Favre, von der deutsch­schweizer Bou­le­vard­presse für aus­blei­bende Erfolge ver­ant­wort­lich gemacht, sah für sich und sein Ver­ständnis von Fuß­ball im Natio­nal­team keine Zukunft mehr und kon­zen­trierte sich fortan ganz auf Ser­vette Genf, wohin er inzwi­schen zurück­ge­kehrt war. Doch der nächste, noch viel tie­fere Ein­schnitt in seine Pro­fi­kar­riere folgte bald. Am 13. Sep­tember 1985 grätschte Pierre-Albert Cha­puisat, der Vater von Sté­phane, im Meis­ter­schafts­spiel gegen Vevey Sports mit Anlauf, voller Wucht und ohne Blick auf den Ball in Favres linkes Knie und zer­trüm­merte es. Die Attacke erschüt­terte die Sportöf­fent­lich­keit, sie steht bis heute für einen Angriff auf den Fuß­ball, den Lucien Favre ver­kör­perte.

An Cha­puisat, von seinem Opfer wegen Kör­per­ver­let­zung ver­klagt und vom Gericht ver­ur­teilt, blieb der Vor­fall für immer haften. Favre spielte zwar nach langer Pause wieder für Ser­vette, unter anderem an der Seite von Karl-Heinz Rum­me­nigge, doch fand er nie mehr zu seiner alten Form zurück. Ich hatte zu viel Angst“, erklärte er später. Als ihn ein Fern­seh­jour­na­list 2006 – er hatte den FC Zürich gerade zum ersten Meis­ter­titel seit 1981 geführt – fragte, ob er bevor­zuge, Spieler zu sein oder Trainer, ant­wor­tete er ohne zu zögern: Spieler. Aber ich schätze auch meinen jet­zigen Beruf.“

In diesen Tagen im Früh­winter 2011 dürfte Lucien Favre seinen Beruf beson­ders schätzen: Er hat eine Mann­schaft, deren mög­li­cher Neu­aufbau in der zweiten Liga ein Grund für seine Ver­pflich­tung im Februar dieses Jahres war, noch in der Bun­des­liga gehalten und lässt sie nun, per­so­nell kaum ver­än­dert, einen Fuß­ball spielen, der sie in direkte Kon­kur­renz mit Bayern, Dort­mund und Schalke treten lässt. Bis­weilen wirkte es so, als mischte eine ver­spielte Free­jazz-Combo eine Gang leicht gest­riger Alt­ro­cker auf“, schrieb die taz“ nach dem 5:0 gegen Werder. Ist so etwas mög­lich? Kann ein Trainer aus der­selben Mann­schaft so viel mehr her­aus­holen als sein Vor­gänger? Es tut mir leid, das so sagen zu müssen“, ant­wortet Favre darauf, aber dass wir Erfolg haben, ist kein Zufall. Überall, wo man mich hat arbeiten lassen, hatte ich Erfolg.“

Das klingt unbe­scheiden. Es ist aber auch unbe­stritten richtig. Es gilt für den Schweizer Dritt­li­gisten Echal­lens, den Favre in die zweite Liga führte, für den Zweit­li­gisten Yverdon-Sport, der als Auf­steiger in der höchsten Klasse mit modernem, schnellem Angriffs­fuß­ball und offen­siven Außen­ver­tei­di­gern die Liga ver­blüffte, und für Ser­vette Genf, mit dem Favre den Pokal holte und im UEFA-Pokal 2002 unter anderem die Hertha eli­mi­nierte. Es soll Favres Spiel­ana­lyse nach Ser­vettes 3:0‑Sieg in Berlin gewesen sein, die Dieter Hoeneß ver­an­lasst hat, den Mann fortan zu beob­achten. Am meisten aber gilt Favres Ver­weis auf seinen Erfolg für den FC Zürich.

Ankunft in Zürich galt als Heils­ver­spre­chen

Nur weil 2003 der Wunsch­kan­didat und Bekannte des dama­ligen FCZ-Sport­chefs Axel Thoma, Joa­chim Löw, mit der Unter­schrift zu lange gezö­gert hatte, war Favre als Trainer der Zür­cher ins Spiel gekommen. Im Umfeld des FCZ galt seine Ankunft zunächst als Heils­ver­spre­chen, das er jedoch lange nicht ein­lösen konnte. Der FCZ stand am Tabel­len­ende. Ent­gegen allen Gepflo­gen­heiten gewährte der Verein dem Trainer nach einem gewon­nenen Pokal­spiel noch eine Frist, und von da an ging es stetig auf­wärts. Als Favre 2007 nach Berlin zog, hatte er mit dem FCZ einen Pokal- und zwei Meis­ter­titel geholt. Es brauchte Zeit“, sagt er heute, die Mann­schaft sei in einer sehr schlechten Ver­fas­sung gewesen, das könne man nicht von heute auf morgen ändern.

Eine seiner ersten Amts­hand­lungen damals war der Besuch des U18-Meis­ter­schafts­fi­nales zwi­schen dem FCZ und dem FC Sion. Von den sieg­rei­chen Junioren holte er drei zu sich ins Team. Einer von ihnen war der heu­tige Schweizer Natio­nal­spieler Blerim Dze­maili: Favre war für mich wie ein Vater. Was ich unter ihm gelernt habe, war die Basis für alles, was ich bis jetzt errei­chen konnte.“ Der neue Trainer habe dem Team bei­gebracht, wie man als Spieler aus meh­reren mög­li­chen Lösungen die beste wählt und wie sich jeder kon­struktiv am Spiel betei­ligt. Dze­maili, heute in Diensten des SSC Neapel, beschreibt den Effekt von Favres prä­zisen Erklä­rungen: Wir haben Spiel­züge aus dem Trai­ning eins zu eins im Match aus­pro­biert, und es hat funk­tio­niert! Wir konnten es selber kaum fassen. Weil nun jeder am offen­siven Spiel betei­ligt war, ent­standen mit der Zeit eine Spiel­freude und ein Team­geist, die ein­malig waren.“ Und dann, bevor er sich ver­ab­schiedet, fügt Dze­maili an: Ich hoffe, irgend­wann wieder unter Favre zu spielen.“

Berlin ist eine Wunde, die noch nicht ver­heilt is

So ähn­lich wie Dze­maili oder Magnin äußern sich die meisten Spieler, die unter Lucien Favre trai­niert haben. Auch die von Hertha BSC. Doch in Berlin war etwas anders als zuvor, denn im Unter­schied zu seinen vor­he­rigen Trai­ner­sta­tionen endete diese jäh und laut. Zwi­schen dem Lieb­äu­geln mit Meis­ter­titel und Cham­pions League und einer skur­rilen Pres­se­kon­fe­renz nach seiner Ent­las­sung, wo der Geschasste sich erklären wollte, aber nur Kopf­schüt­teln ern­tete, lagen ganze vier Monate – und der erzwun­gene Abgang von Manager Dieter Hoeneß. Berlin ist eine Wunde, die noch nicht ver­heilt ist. Das haben sie in Mön­chen­glad­bach gemerkt, wo Favre sein Ver­trauen anfangs nur sehr vor­sichtig schenkte. Und man merkt es heute noch, wenn er zugleich eigent­lich nicht über das selt­same Ende seiner Ber­liner Zeit spre­chen will und ihn das Thema doch zugleich unge­mein auf­regt. Er ist zer­rissen zwi­schen dem Wunsch, das Getu­schel über die letzten Wochen bei Hertha ein­fach zu igno­rieren und die Schach­züge hinter den Kulissen zu erklären.

Bezeich­nend ist, dass die Zusam­men­ar­beit mit seinem lang­jäh­rigen Assis­tenten Harald Gäm­perle dar­über zer­bro­chen und das Ver­hältnis nun häss­lich ist. Vor Glad­bachs Spiel in Berlin unter­stellte Gäm­perle seinem frü­heren Chef in einem Zei­tungs­in­ter­view für die Hertha-Zeit feh­lende Loya­lität, schlechtes Scou­ting und all­ge­mein einen schlechten Cha­rakter. Ich will über Gäm­perle nicht spre­chen, aber was er da behauptet, sagt mehr über ihn als über mich“, meint Favre dazu. Die Wunde Berlin mag noch schwären, aber im Ver­gleich zu seiner Zeit bei Hertha erkenne man den Trainer heute nicht wieder, sagt Hansi Felder, der dama­lige Pres­se­spre­cher: Er lernt aus Feh­lern. Das ist seine große Stärke. Und des­halb hat er von der schwie­rigen Zeit in Berlin stark pro­fi­tiert.“

Sehr viele Leute haben keine Ahnung von Fuß­ball“

Doch es gibt einen Haupt­kri­tik­punkt, der ihm aus seiner Ber­liner Zeit noch nach­hängt und auch schon früher in der Schweiz erhoben worden ist: seine angeb­liche Zöger­lich­keit, sein stän­diges Hadern, gerade wenn es um Neu­ver­pflich­tungen geht. Er scheue die Ver­ant­wor­tung, heißt es da etwa, oder er gefährde mit seinem Zweifel viel­ver­spre­chende Trans­fers. In diesem Geschäft, und das dürfen Sie ruhig so schreiben“, sagt Favre ein­dring­lich, haben sehr viele Leute keine Ahnung von Fuß­ball. Und ich spreche nicht von den Bera­tern. Es muss immer schnell gehen, immer. Es wird behauptet, der Spieler gehe sonst zu einem anderen Verein, man habe keine Zeit mehr, ich müsse mich jetzt ent­scheiden. So wird Druck gemacht. Weil sehr viele in diesem Geschäft mit­ver­dienen.“ Den Zweifel hält Favre nicht für ver­werf­lich. Wer nicht zwei­felt, kommt nicht weiter“, hat er einmal gesagt, und er illus­triert die Erkenntnis an einem Bei­spiel aus frü­heren Tagen. Wir haben uns einen neuen Spieler ange­schaut, der Prä­si­dent und ich, lange und gründ­lich, bis wir uns einig waren. Dann fuhr der Prä­si­dent nach Hause, direkt vor ihm der Spieler, und dabei über­fuhr der drei rote Ampeln. Der Prä­si­dent rief mich an. Ich über­legte sehr, sehr lange. Dann sagte ich: Es geht nicht. Wir können ihn nicht nehmen.“

Bei­spiele wie dieses hat Favre zuhauf zu bieten, und es ist kei­nes­wegs so, dass er sich dabei immer ins beste Licht rückt. Er beharrt ledig­lich darauf, dass es ohne Zögern nicht geht. Einen Spieler wie Ribéry kannst du viel­leicht blind ver­pflichten. Doch von allen andern musst du alles wissen. Wer ist er, wie ist er, passt er, auch mensch­lich? Da reicht keine DVD mit den High­lights. Ver­gessen Sie das! Arsenal schaut sich einen Spieler bis zu fünfzig Mal an, bevor sie ihn holen. Fünfzig Mal!“ Er redet sich in Rage, Lucien Favre, in einem heute recht sicheren Deutsch, und man fragt sich, ob einer wie er noch Refe­renz­punkte wie Johan Cruyff und den FC Bar­ce­lona, wo er schon früh hos­pi­tierte, oder seinen guten Bekannten Arsène Wenger nennen muss, um glaub­würdig zu sein.

Lucien Favre, der Bau­ern­sohn aus St. Bar thé­lemy, der Natio­nal­spieler, der eine kom­plette Aus­bil­dung“ machen wollte und dafür als Nach­wuchs­ma­nager von Xamax den Sani­täts­koffer bereit­stellte, sich mit Puber­tie­renden abmühte und am Telefon Väter beru­higte, die sich über das Reser­vis­ten­da­sein ihrer Söhne beklagten, Lucien Favre, der sich fast zehn Jahre Zeit genommen hat vom ersten Tag als Trainer bis zum ersten Tag als Trainer in einer ersten Liga, macht heute in einer der besten Meis­ter­schaften der Welt die Kon­kur­renz nervös, lässt aber in diesem oft eitlen und groß­spu­rigen Zirkus immer noch jeden Stan­des­dünkel ver­missen.

Favres Hobbys: Kultur und Natur

Als er 2006 seinen ersten Titel mit dem FCZ fei­erte und die Mann­schaft auf der Lade­fläche des Meister-Trucks durch Zürichs Innen­stadt tuckerte, grüßte der Trainer die bekannten Gesichter am Stra­ßen­rand, als träfe man sich zufällig im Bier­garten: Ah, guten Tag, wie geht es Ihnen?“ Sollte er sich seiner Rolle und seiner Wir­kung irgendwie bewusst sein, so ist sein Wesen davon bis heute auf eine bemer­kens­werte Weise unan­ge­tastet geblieben. Nur so ist zu erklären, wie er, dem von allen Seiten extreme Akribie, Detail­ver­ses­sen­heit und Fleiß attes­tiert werden, am Tag nach einem für Mön­chen­glad­bach denk­wür­digen Kan­ter­sieg gegen einen direkten Kon­kur­renten nüch­tern das Spiel ana­ly­siert, um sich sodann begeis­tert über aktu­elle Kino­filme zu unter­halten, als sei der Fuß­ball weit weg. Kultur, ja, Kultur und Natur“, das seien seine Hobbys, sagt er. Wenn er in Paris sei, gehe er ins Theater, das sei wun­der­schön.

Von Mön­chen­glad­bach, wo der nahe Rhein auch das Wasser des Talent mit sich führt, ist man schnell weit weg. Die Län­der­spiel­pause im Oktober, unmit­telbar nach dem Sieg bei der Hertha, nutzte Favre, um mit seiner Frau für zwei Tage nach Brüssel zu fahren. Sie wollten wieder einmal Filme auf Fran­zö­sisch schauen. Der erste war Tim und Struppi. Ich habe Tintin schon immer gemocht und wollte wissen, was Spiel­berg daraus gemacht hat“, erklärt er. Am nächsten Morgen dann hätten sie allein im Kino­saal gesessen, für die Neu­fas­sung des Klas­si­kers Krieg der Knöpfe“, in dem sich Kinder aus zwei Nach­bar­dör­fern immer hef­tiger bekämpfen, gleich­zeitig aber unter der Gewalt ihrer Eltern leiden. Es war sehr gut“, sagt Favre, aber dann mussten wir zurück.“ Sit­zung, um vier Uhr, in Mön­chen­glad­bach.