Im Frühjahr ging der niederländische Zweitligist SC Veendam in Konkurs. Kein Zwangsabstieg und kein Neuanfang ganz unten. Zurück bleiben ein fast verwaistes Stadion und eine Trauergemeinde.
Zum Ende der Sommerpause kam ein Tweet aus dem Totenreich: „Freitag, 2. August, kurz vor acht Uhr. Die Jupiler League stößt eine neue Saison an, aber an der Langeleegte ist es still. Sehr still.“ Vielleicht ist @scveendam das Einzige, was sich noch regt in diesem Standbild: ein Twitteraccount als virtueller Grabstein eines Klubs, der einfach verschwand. Ab und an werden hier neue Arbeitgeber von Spielern verkündet, die bis zum Frühjahr im gelb-schwarzen Trikot des SC Veendam aufliefen. Oder der alte Zeugwart sucht auf diesem Weg einen Job, „egal was, bin flexibel und kann anpacken“.
Gut zwei Wochen später wirkt das Stadion „Aan de Langeleegte“ (An der langen Leere) noch immer wie eine Schule in den Sommerferien. Unberührt liegt es inmitten von Reihenhäusern, Seniorenappartements und dem Brieftaubenverein, in den Büschen singen vereinzelt Vögel. „Manchmal kann es hier spuken“, schallte es hier früher bei den Heimspielen über die Tribünen, wenn das Veendamer Vereinslied die Angst der Gegner vor diesem Ort beschwor: vor der Anreise in die frühere Torfstich-Kolonie im äußersten Nordosten der Niederlande. Dorthin, wo es kalt und zugig war und oft eine Niederlage wartete. Doch inzwischen hat es sich ausgespukt, denn Anfang April erklärte ein Gericht den SC Veendam für bankrott.
Winnetou, Old Shatterhand, Alaska
Wer könnte die Stille besser brechen als der Mann, der bis dahin die Stimme der Langeleegte war? Stadionsprecher Hans Postma, 49, war der Platz am Mikrofon auf den Leib geschneidert. Bevor er nach Veendam kam, gab er beim Amateurklub seines Wohnorts Appingedam die Torschützen durch. Für einen örtlichen Krankenhausrundfunk kommentierte er das Derby Groningen gegen Veendam, als der SC 1986 eines seiner drei Kurzgastspiele in der höchsten Spielklasse gab. Und zuvor hatte Hans Postma gemeinsam mit Bruder und Vater den illegalen Radiosender WOA betrieben, benannt nach ihren Pseudonymen: Winnetou, Old Shatterhand, Alaska.
Freitag Nachmittag, kurz vor fünf Uhr. In der zweiten niederländischen Liga, die seit ein paar Jahren Jupiler League heißt, wird in wenigen Stunden der vierte Spieltag angepfiffen. Wie früher ist Hans Postma direkt von der Arbeit am Kundenschalter einer Autowerkstatt nach Veendam gekommen. Eigentlich würde er gleich noch etwas essen gehen, dann rüber ins Stadion, hoch auf die Gegentribüne in seine Fünf-Quadratmeter-Box unterm Dach, wo nicht mal genug Luft für die Zigarre vor der Partie war. Den Ablauf hat er nach acht Jahren und rund 130 Spielen verinnerlicht: Musik auflegen ab halb sieben, Begrüßung um Viertel vor acht, Aufstellungen, Vereinslied.
„Nüchterne Nordlichter“
Sein Publikum, sagt Postma, schätzte eine konventionelle Interpretation seiner Rolle. Dass er die Aufstellung einmal in Reimform vortrug, ging ausnahmsweise klar, weil Nikolaus war. Ansonsten galt: keine verbalen Pirouetten. „Die Menschen hier sind nüchterne Nordlichter. Wenn ich zu viel sagte, schauten sie gleich komisch.“ Nun ist Postma selbst auch ein Kind des Nordens, ohne Hang zur Melancholie. „Ich wäre mit Freuden alle zwei Wochen dabei, wenn es hier weiterginge. Aber schlaflose Nächte habe ich seit dem Bankrott nicht.“
Vielleicht hat aber auch einfach die Zeit die ersten Wunden geheilt, denn es flossen viele Tränen, als im Frühjahr das Ende des 119 Jahre alten Fußballklubs nahte. Als es zwischendurch noch einmal Hoffnung gab, die schließlich aber doch trog. Dann war der Klub wirklich gestorben, ohne Hintertürchen oder Neuanfang unter anderem Namen in der untersten Spielklasse. Ein ewiger Zweitligist, der 42 Spielzeiten in der „Eersten Liga“ auf dem Buckel hatte, einfach so ausgelöscht. Das muss man sich mal vorstellen.
Seine Box sah Postma zuletzt am Ostermontag, als es kurz noch Hoffnung gab auf eine wundersame Rettung. Er saß dort, um beim Benefizkonzert für den Klub im Fall eines Unglücks per Mikrofon eingreifen zu können. Das eigentliche Unglück war da schon längst geschehen. Eine Woche zuvor hatte ein Groninger Gericht den SC Veendam für bankrott erklärt, weil sich die nötigen 675 000 Euro zum Weitermachen nicht auftreiben ließen. Der Vereinspräsident war danach vor die Kameras getreten und hatte gesagt: „Es ist ein dunkler Tag für alle mit einem gelb-schwarzen Herz.“ Eine völlige Überraschung war das nicht, denn einen ähnlichen Tag hatte es schon 2010 gegeben. Nur war damals der Konkurs in zweiter Instanz aufgehoben worden.
Diesmal hatte der Richter acht Tage als Berufungsfrist eingeräumt, und der soeben für tot erklärte Patient rappelte sich noch mal mächtig auf. Der Mann für solche Situationen heißt Henk de Haan, legendärer Abwehrspieler der Blütezeit in den Achtzigern, der nach dem Ende seiner Karriere als Fan weiter zur Langeleegte kam. Mit dem Rücken zur Wand blies „Henkie“ zum letzten Gefecht. „Journalisten fragten mich: Wie konnte es so weit kommen? Ich sagte: Das ist überhaupt nicht wichtig, wir müssen nach vorne gucken.“ Noch heute blitzt es in seinen Augen auf, wenn er über die Situation spricht. Damals glaubte er, das Rezept zur Rettung zu kennen: „Ich dachte: Crowdfunding!“
Am Nachmittag, als das Gericht den Bankrott des Klubs beschloss, nahm De Haan sich bei der Bank frei, wo er als Privatkundenberater arbeitet. Er gründete die Stiftung Red SC Veendam, deren Kontonummer er sich aufs Hemd drucken ließ. Dann rief er einen Journalisten an, zu dem er einen guten Draht hat, lud sich für den Abend in dessen TV-Show ein und organisierte einen Bus, der wenig später randvoll mit Veendam-Fans nach Amsterdam aufbrach. Außerdem nahm er Kontakt zu Red Bull Salzburg auf, wo der Niederländer Piet Hamberg als Scout arbeitet. Arjen Robbens Vater und Berater Hans, der aus der Region kommt, stellte eine Verbindung zu Adidas her.
SMS-Spendenaktion mit lokalem Radiosender
In der folgenden Woche tüftelten De Haan und seine Rettungscrew, bestehend aus dem Hauptsponsor „und Menschen, denen Veendam am Herzen liegt“, an ihrem Coup. Sie planten das Benefizkonzert, eine SMS-Spendenaktion mit einem lokalen Radiosender und warben um Überweisungen. „Wir begannen selbst daran zu glauben“, sagt er. Dann zog De Haan wieder ins Fernsehen. Der Zähler stand auf etwa 150 000 Euro. „Als der Moderator mich fragte, sagte ich, wir hätten 190 000. Etwas später kam er wieder: Henk, wie steht’s? 200 000, meinte ich. Das war vielleicht nicht schlau, aber sonst kommt ja keiner in die Gänge.“
Es reichte auch so nicht. Am Ende standen knapp 200 000 Euro, fast eine halbe Million zu wenig. Angelo Cijntje zuckt mit den Schultern. „Du kannst nicht hoffen, dass du jedes Mal aufs Neue davonkommst“, sagt der Rechtsverteidiger, der als letzter Kapitän des SC Veendam in die Geschichte eingegangen ist. Über zehn Jahre fegte er die Außenbahnen der zweiten Liga entlang und hatte das Ende kommen sehen. „Schon im Dezember hieß es, das Geld sei knapp, erst recht im Januar. Es dauerte immer länger, bis die Gehälter kamen. Dann weißt du, wie spät es ist.“
Ausgerechnet Angelo Cijntje ist der Letzte, der noch regelmäßig an der Langeleegte verkehrt. Was nichts mit Nostalgie zu tun hat, oder mit dem sinkenden Schiff, das der Kapitän als Letzter verlässt. Vielmehr liegt es an der Massagepraxis, die er im Erdgeschoss des Stadions betreibt. Eigentlich wollte er damit für die Zeit nach dem Fußball etwas aufbauen. „Jetzt hat sich die Sache plötzlich beschleunigt.“ Ein neuer Klub fand sich nicht. „Klar, es ist Krise, man will die Kader klein halten. Dazu kommt, dass ich 32 bin und zwei Kinder habe. Ich kann nicht für 1500 Euro kicken.“ Um sich fit zu halten, trainiert er mit der zweiten Mannschaft des FC Groningen, denn so soll seine Karriere nicht enden.
„Wir Fußballer sind Nomaden!“
Unten im Stadion kennt Angelo Cijntje sich also noch aus. “Aber hier oben komme ich fast nie mehr hin“, sagt er. Er sitzt auf der Haupttribüne, wo zwischen den blauen Plastikschalen schon Spinnweben hängen und schaut auf den Rasen. „Was hier alles passiert ist!“ Nicht sentimental, nur eine Feststellung. Wie diejenige, dass es drinnen auf den Treppen wie in einem Museum zu riechen beginne. Und dass es eigentlich aussehe wie in der Sommerpause. Die Tore abgebaut, ein paar Werbebanden fehlen. Über dem Zaun hängt die Reklametafel eines Gerichtsvollziehers, ausgerechnet. Zwei Libellen fliegen über den Rasen. Cijntje sagt: „Es ist schlimm, aber wir Fußballer sind Nomaden. Richtig übel ist es für die Fans.“
Für Coba Snijders und ihre Tochter Diana de Groot etwa, die auch noch ständig an das erinnert werden, was sie verloren haben, weil sie von daheim die Flutlichtmasten sehen können. Nur ein paar hundert Meter wohnen sie vom Stadion entfernt, und doch haben sie sich monatelang nicht dorthin getraut. Jetzt ist das Wiedersehen unwirklich: „Man könnte einen Ball reinwerfen, ein paar Spieler dazu, und es könnte wieder losgehen“, sagt Coba Snijders, 71, eine große Frau mit kurzen weißen Haaren. Ihre Augen werden feucht, wenn sie die Zahlen „23, 22, 21“ sagt. Das waren die Plätze, wo sie mit Tochter Diana und Sohn Tonnie jeden zweiten Freitagabend gesessen hat, jahrein, jahraus. „Es ist noch immer sehr schwer für sie“, sagt die Tochter und nestelt selbst etwas hilflos am Tabakbeutel, um die Contenance nicht zu verlieren.
Wie Phantomschmerz
Später in einem Café in der Innenstadt erzählt Coba Snijders, dass ihre Karriere an der Langeleegte früh begann, als achtjähriges Mädchen in einer Familie von Voetbalbeesten, von „Fußballbiestern“. Später schmiss sie mit ihrem Ex-Mann die Vereinskantine. Sie trug die kulinarische Verantwortung für Vorstandssitzungen und Auswärtsspiele, machte Sandwich-Pakete für die Spieler („jeder nach Wunsch, aber immer mit Frikadelle“). Irgendwann gab sie den Virus an ihre Tochter weiter, die jetzt 48 ist. Zusammen verkauften sie am Stadion Lose und Programmhefte. Es ist wie Phantomschmerz, sagt Coba, und vergräbt ihr Gesicht in den Fingern.
Vielleicht muss man den Korb bemühen, um die Schwere des Verlusts zu beziffern. „Jeden Freitagabend gingen mein Bruder und ich zu Mutter“, beginnt Diana zu erzählen und muss nun doch lächeln. „Dort gab es Kaffee und Kuchen, und dann zogen wir mit dem Korb, den sie vorbereitet hatte, zum Stadion. Getrocknete Wurst und Käsestückchen, Schokoriegel, Bananen, Kakao und Sportdrinks waren darin, die sie unterwegs verteilte. Eigentlich durfte man damit nicht rein, aber jeder an der Langeleegte kannte Coba.“ Oft beschwerten sich ihre Kinder, der Korb sei zu schwer. „Heute würden wir gerne zehn Körbe tragen.“
Der Sommer brachte Coba Snijders noch einen weiteren Verlust. Kurz bevor die erste Saison ohne ihren Klub begann, flog auch Angelo davon, der Papagei. Natürlich hatte sie ihn nach ihrem Lieblingsspieler, dem Mannschaftskapitän, benannt. Der Käfig stand draußen, Coba Snijders war duschen. Angelo öffnete die Tür mit dem Schnabel und war weg.
Gerade, als sie wieder einmal darüber lamentiert, dass ihr Cluppie nicht einmal genug Geld hatte, um bei den Amateuren neu anzufangen, schaltet sich am Nachbartisch ein Mann ein. „Sind Sie Veendam-Fan?“, fragt er interessiert. Die Damen nicken. „Ich war auch einmal im Stadion, als ich gerade hierher gezogen bin“, fährt er fort und erntet einen Blick, halb interessiert, halb beschuldigend. „Einmal?“, fragt Coba Snijders. „Das war doch kein Fußball!“, entgegnet der Mann und holt zu einer Begründung aus. Aber Coba Snijders hat genug gehört. „Das ist das Ende dieses Gesprächs“, sagt sie, und dreht sich bestimmt weg. Ihr Herz mag gebrochen, ihr Klub mag gestorben sein und nicht zurückkommen, doch von zugezogenen Schnöseln muss sie sich deswegen noch lange nicht beleidigen lassen. Sie starrt vor sich hin und spielt an ihrem rosa Taschentuch herum. Ihre Tochter spricht schließlich aus, was beide denken: „Wir werden nie darüber wegkommen.“