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Gleich wird sich das Staunen über das West­fa­len­sta­dion legen. 
Das Bun­des­li­ga­duell zwi­schen Borussia Dort­mund und Bayer Lever­kusen ist nach einer Stunde im Däm­mer­schlaf eines müden 0:0 ver­sunken, als der gerade 18-jäh­rige Außen­stürmer Daniel Simmes noch in der eigenen Hälfte an den Ball kommt.

Wie von einer unsicht­baren Hand geführt, läuft der Junge mit der hell­blonden Flash-Gordon-Frisur los, lässt den ersten Lever­ku­sener aus­steigen, dann den zweiten. Leicht­füßig schneidet er durch die Bayer-Abwehr. Immer wieder werfen sich ihm Spieler in weißen Tri­kots ent­gegen, aber jede Grät­sche wirkt nur wie der lächer­liche Ver­such, auf Blitzeis in High­heels ein Huhn ein­zu­fangen. Simmes ist nicht zu halten. Ich bin ein­fach los­ge­laufen, habe gemerkt, wie immer mehr Lever­ku­sener ange­flogen kamen. Aber ich hab nur das Tor gesehen“, erin­nert sich Simmes an den Moment zwi­schen seiner ersten Ball­be­rüh­rung und dem tau­send­fa­chen Tor­schrei.



Zehn Sekunden später schlägt der Ball hinter Rüdiger Voll­born ein. Simmes hat ein Kunst­werk auf den Rasen gezeichnet. Das West­fa­len­sta­dion eska­liert. Und der vorher nahezu unbe­kannte Nach­wuchs­spieler dreht weiter auf, bereitet auch noch den 2:1‑Siegtreffer durch Bernd Klotz vor. An diesem 5. Oktober 1984 feiert der Ruhr­pott sein neues Jahr­hun­dert­ta­lent und Simmes‘ erstes Bun­des­li­gator, das in seiner Kom­bi­na­tion aus Wucht und Grazie so sehr an Mara­donas Ewig­keits­solo gegen Eng­land erin­nert, wird später in der Sport­schau zum Tor des Jahres“ 1984 gewählt, Simmes danach die zwangs­läu­fige Welt­kar­riere vor­aus­ge­sagt.

Der war eine Rakete“

Der Simmes war min­des­tens so gut wie der Boss Helmut Rahn“, erin­nert sich sein dama­liger Trainer Timo Konietzka. Und auch Eike Immel, der gegen Lever­kusen im BVB-Tor stand und Simmes‘ Lauf ungläubig stau­nend ver­folgt hatte, war sich damals sicher, dass der Daniel mal über 100 Län­der­spiele machen würde. Was der am Ball drauf hatte, das konnten nur ganz wenige. Der war eine Rakete.“ Auch für Berti Vogts, der ihm als DFB-Nach­wuchs­trainer begeg­nete, war Simmes einer der letzten echten Rechts­außen, ein Stürmer, der mit unbän­diger Kraft aus der Tiefe kam, der mit dem Ball schneller war, als die meisten anderen ohne. Vogts wollte Simmes für den Fall, dass er einmal Bun­des­trainer wird, zum Natio­nal­spieler machen. Das hatte er ihm ver­spro­chen.

Doch dazu kam es nicht mehr. Als Vogts 1990 die Nach­folge von Franz Becken­bauer antritt, gibt es den Simmes, wie er ihn kannte, schon nicht mehr.

Nicht einmal sieben Jahre nach seinem Wun­der­lauf ist Simmes aus der Bun­des­liga ver­schwunden, gestrandet in Lierse, in der zweit­klas­sigen Dia­spora der bel­gi­schen Liga. Der Wechsel über die Grenze ist jedoch nur das sicht­bare Ende eines unauf­halt­samen Abstiegs. Zuvor war Simmes bereits in Dort­mund geschei­tert und 1988 nahezu unbe­achtet nach Karls­ruhe abge­schoben worden. Nach drei dürf­tigen Jahren in Baden gibt er schließ­lich auf. Mit 25 Jahren, also einem Alter, in dem die Kar­riere eines Fuß­bal­lers unter nor­malen Umständen ihren Hoch­sommer erlebt. Doch Simmes war ein­fach zu müde für die Bun­des­liga. Ich war immer so abge­schlafft“, erin­nert sich Simmes heute. Vor jedem Spiel habe ich mich immer gefühlt, als hätte ich schon neunzig Minuten in den Beinen.“

Erst 2003, zwölf Jahre nachdem Simmes Deutsch­land ver­lassen hatte, erfuhr er den Grund für seine patho­lo­gi­sche Abge­schlafft­heit: Er war mit einem Herz­fehler geboren worden, litt an Herz­rhyth­mus­stö­rungen, die seinen Kreis­lauf beein­träch­tigten. In seinem Herzen befand sich ein über­flüs­siger Nerv, der von Jahr zu Jahr größer wurde. Und so schleppte er sich schon in seiner Debüt­saison wie mit Blei beladen über den Platz. Gala­vor­stel­lungen wie gegen Lever­kusen blieben die Aus­nahme von der gäh­nend trägen Regel. Wenn er mor­gens auf dem Trai­nings­platz stand, hatte Simmes durch­ge­zechte Nächte in den Kno­chen, die es nie gegeben hatte, war ver­ka­tert, ohne getrunken zu haben.

Simmes, dessen Spiel von der Wucht lebte, mit der er sich durch die geg­ne­ri­schen Abwehr­reihen walzte, konnte plötz­lich nicht mehr laufen. Das Spiel wurde zur Agonie und zwi­schen dem eigenen Anspruch, den Erwar­tungen der Trainer und der Rea­lität auf dem Rasen klaffte bald eine mons­tröse Lücke. Man hatte immer das Gefühl, dass da eigent­lich mehr kommen musste“, bestä­tigt Eike Immel. Aber der Daniel machte immer einen eher phleg­ma­ti­schen Ein­druck.“

Die Müdig­keit trieb ihn ins Bett, doch sie ließ ihn nicht schlafen

So ver­fes­tigte sich das Bild eines zu früh gesät­tigten Senk­recht­star­ters, der sich auf seinem durchaus vor­han­denen Poten­zial aus­ruhte. Beson­ders der Bou­le­vard, der ihn zuvor noch hoch­ge­ju­belt hatte, ver­teilte klat­schende Schellen. Max Merkel hat mich in der BILD-Zei­tung nach jedem Spiel nieder geschrieben. Und das tat beson­ders weh, weil er Recht hatte.“ Simmes reagierte auf die wach­sende Kritik, indem er sich zuneh­mend zurückzog. Gleich­zeitig wurden die Selbst­zweifel mit jedem abge­bro­chenen Sprint boh­render. Seine uner­klär­liche Schwäche trieb Simmes ins Bett, ließ ihn aber nicht schlafen: Näch­te­lang habe ich wach gelegen und mich immer wieder gefragt, wie es kommt, dass ich nicht laufen kann. Ich war doch noch jung.“ 

Nach der Dia­gnose befiel Simmes des­halb auch eine ebenso späte wie absurde Erleich­te­rung. Er wusste nun, dass er krank ist, doch er wusste auch, dass er kein Spinner war. Ich bin so froh, dass sie letzt­end­lich den Herz­fehler gefunden haben, weil ich auf alle quä­lenden Fragen und die ganze Kritik plötz­lich eine Ant­wort hatte.“ 

Denn obwohl er auch als Spieler immer wieder Rat bei den Ärzten gesucht hatte, bekam Simmes weder in Dort­mund noch später in Karls­ruhe eine befrie­di­gende Erklä­rung für diesen grauen Nebel aus chro­ni­scher Erschöp­fung, der ihn umgab. Die Ergeb­nisse der Unter­su­chungen waren ernüch­ternd. Die haben ein paar mal den Blut­druck gemessen und auch mal das Herz abge­hört. Aber nie­mandem ist etwas auf­ge­fallen“, erzählt Simmes und kann die Ver­bit­te­rung in seiner Stimme kaum unter­drü­cken. Irgend­wann haben ihm weder Ärzte noch Mit­spieler geglaubt. Er galt als ein­ge­bil­deter Kranker. Die dachten alle, das Pro­blem liegt zwi­schen den Ohren“, sagt er und lacht. Noch bit­terer.

Des­halb hat er irgend­wann ein­fach gar nichts mehr gesagt und den Kampf gegen die blei­erne Abge­schlafft­heit alleine geführt. Denn Simmes war er vor allen Dingen ein Getrie­bener, der Fuß­ball atmen musste, selbst wenn er daran erstickt wäre. Und so begeg­nete er den von Jahr zu Jahr stärker wer­denden Sym­ptomen, indem er ver­bis­sener wurde. Mit dem ehr­gei­zigen Dreh­mo­ment eines Fuß­ball­ver­rückten lief er so immer wieder gegen die Wand aus Müdig­keit. Denn: Egal, was ich gemacht habe, ich bin immer wieder geschei­tert.“ Die Erschöp­fung und der gleich­zei­tige Wille, das Spiel nicht auf­zu­geben, ver­wan­delten Simmes’ Alltag schließ­lich in eine mono­tone End­los­schleife. Nur schlafen und Fuß­ball. Simmes wurde ein Gefan­gener seines Kör­pers. Und seine Kar­riere knickte unter der Last der schwin­denden Kräfte.

Heute weiß Simmes aber auch, dass er Glück gehabt hat, weil er in jedem Trai­ning, bei jedem Lauf mit seinem Leben gespielt hat. Die Ärzte in Bel­gien, die den stö­renden Nerv in Simmes‘ Brust mit zwei Ein­griffen geglättet hatten, waren erstaunt, dass er über­haupt Bun­des­liga spielen konnte, ohne irgend­wann ein­fach zusammen zu bre­chen. Dass ich nicht im Sta­dion gestorben bin, grenzt an ein Wunder“, weiß Simmes heute. Und wirkt noch immer halb ungläubig, halb erleich­tert.

In stillen Momenten trauert er der ver­hin­derten Kar­riere trotzdem hin­terher: Ich hätte so viel errei­chen, Welt­meis­ter­schaften spielen können.“ Doch diese Gedanken schiebt er dann immer schnell bei­seite. Simmes ist nicht undankbar. Er ist zufrieden mit dem, was er hat. Seine Frau und die Kinder, seinen Job. Er ist in Bel­gien geblieben und irgendwie auch ange­kommen. Simmes arbeitet für den Bus­her­steller Van Hool und als Trainer der U14 des RSC Ander­lecht, nebenbei bas­telt er an seiner A‑Lizenz.

Dem Fuß­ball ist er so, natür­lich, treu geblieben, auch wenn er mit etwas Abstand sagt: Wenn ich heute einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wün­schen, nie­mals mit dem Fuß­ball ange­fangen zu haben.“ Kurze Pause. Denn eigent­lich lebe ich erst jetzt richtig.“