Sieben Jahre ist es her, da hatte Rüdiger Vollborn eine Erscheinung. Sie traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel und veränderte sein Leben von einem Tag auf den anderen. Vollborn hatte damals zwei Jobs, er war Torwarttrainer bei Bayer Leverkusen und beim DFB. Anlässlich eines Sichtungslehrgangs des Verbandes in Leipzig beobachtete er den damals 14-jährigen René Adler und war von den Socken: »Ich habe auf den ersten Blick gesehen, wie gut er ist. Beim ersten Ball, den ich geschossen habe. Er hat gleich einen Bewegungsablauf gehabt, der dem eines guten Torhüters sehr nahe kommt.« Vollborn war regelrecht euphorisiert. Als er nach dem Lehrgang nach Hause fuhr, sagte er zu seiner Frau: »Ich habe den neuen Nationaltorwart gesehen.« Folgenreicher war das Gespräch mit Frank Schäfer, dem Coach der Leverkusener B‑Junioren. Der löcherte Vollborn wegen des Lehrgangs und insbesondere wegen dieses Leipziger Talents, von dem man sich in der Branche erzählte. »Hast du den Adler gesehen?«, fragte Schäfer. Oh ja, das hatte Vollborn. »Und wie ist er?«, wollte Schäfer wissen. »Eine Granate«, antwortete Vollborn. »Dann müssen wir ihn holen«, sagte Schäfer da nur.
Die Geschichte hat Rüdiger Vollborn zweierlei eingebracht: einerseits einen dritten Sohn neben den zwei selbst gezeugten, andererseits eine Menge Ärger. Denn nicht allen schmeckte der Transfer des jungen René Adler nach Leverkusen. Insbesondere der Schalker Jugendkoordinator Helmut Schulte, der seinerseits ein Auge auf das Ausnahmetalent geworfen hatte, echauffierte sich über das vermeintliche Doppelspiel des DFB- und Bayer-Trainers in Personalunion. Vollborn musste seinen Job beim Verband aufgeben, was ihn damals geschmerzt hat. Doch da wusste er noch nicht, dass für ihn ohnehin eine neue Zeitrechnung begonnen hatte. Dass er sich in eine Aufgabe verbeißen würde, die ihn fordern sollte wie nichts zuvor in seinem Leben: René Adler, den ungeschliffenen Diamanten, zu einem erstklassigen Torwart zu formen.
Im Herbst 2007 sitzt Vollborn im Restaurant der BayArena und sagt: »Das Schwerste war, standhaft gegenüber den Zweiflern zu bleiben. Und es gab genügend davon.« Man kann sich vorstellen, wie Rüdiger Vollborn, der Mann mit einer Mission, manchmal schier verzweifelt ist, weil andere nicht im gleichen Maße wie er davon überzeugt waren, es hier mit einer außergewöhnlichen Begabung zu tun zu haben. Heute, zehn Monate, nachdem Adler sein Bundesligadebüt in einem Spiel gegen Schalke gefeiert hat, sind die Zweifler verschwunden. Lob gibt es von höchster Stelle, vom Bundestrainer. »Es ist toll, wie er als Torwart mitspielt und ein Spiel lesen kann«, sagt Jogi Löw. »Er verkörpert den modernen Torhüter von heute.«
Ist es also nur eine Frage der Zeit, bis Adler die einstige Prophezeiung seines Trainers gegenüber der Gattin wahr macht und im Tor der deutschen Nationalelf steht? Ganz so einfach verhält es sich nicht, aber das konnte Rüdiger Vollborn damals nicht wissen. Denn René Adler ist nicht der einzige hoch veranlagte junge Torwart im Lande. Da gibt es den Schalker Manuel Neuer, der von den Bundesligaprofis zum besten Keeper der abgelaufenen Saison gewählt wurde. Es gibt Michael Rensing, den langjährigen Kronprinzen von Oliver Kahn, der jetzt endlich wieder zeigen darf, was in ihm steckt. Und dann ist da noch Florian Fromlowitz, der beim trudelnden Zweitligisten Kaiserslautern gerade etwas im Schatten steht, aber an Potential den anderen durchaus das Wasser reichen kann. Alle vier sind zwischen 21 und 23 Jahre alt. Es scheint, als würde in Deutschland, dem Land, das schon viele große Torhüter hervorgebracht hat, eine goldene Generation heranwachsen.
Die Liste der großen Ahnen, die ikonengleich über dem Nachwuchs thronen, ist lang. Angefangen mit Toni Turek, dem Helden von Bern. Alte Wochenschaubilder von ihm zeigen teils grauenhafte Stümpereien, dennoch gilt nach wie vor das Credo der Reporterlegende Herbert Zimmermann: »Toni, du bist ein Fußballgott!« Ihm in nichts nach stand Bert Trautmann, der deutsche Kriegsgefangene, der in England zum Idol wurde. Oder Hans Tilkowski, der Sachliche, ein Gentleman des Fußballs, der 1966 in seiner berühmtesten Szene einem Ball hinterher blicken musste, der im Londoner Wembley-Stadion von der Latte auf oder eben knapp hinter die Linie des deutschen Tores fiel. Dann kam Sepp Maier. Die »Katze von Anzing« brachte die Show in die Stadien, ein Possenreißer und Entenjäger, der aber auch so gut halten konnte, dass er manchen holländischen Protagonisten des 74er Weltmeisterschafts-Finales noch heute in ihren Albträumen erscheint. Es folgte die Ära des Harald »Toni« Schumacher, des Extremisten unter den deutschen Torhüterlegenden. Sein großer, gleichermaßen bekloppter Rivale Uli Stein hätte zu anderen Zeiten seinen Stammplatz im Nationaltor sicher gehabt. Im Kasten der DDR standen Koryphäen wie Jürgen Croy und Bodo Rudwaleit. Die WM 1990 sah Bodo Illgner, den früh Vollendeten, nicht frei von Fehlern, so dass einem noch heute die sich überschlagende Stimme des damaligen Co-Kommentators Karl-Heinz Rummenigge im Ohr klingt: »Was der Torwart da macht, ist lebensgefährlich!« Aber immerhin: Weltmeister. Illgners Nachfolger Andreas Köpke wurde Europameister, Oliver Kahn mehrfach zum Welttorhüter gewählt und Jens Lehmann bescherte den Deutschen vor einem Jahr ein Sommermärchen.
In Deutschland genießen Torhüter ein höheres Sozialprestige
Zeigt man diese Auflistung einem Engländer, so wird er umgehend vor Neid erblassen. Eigentlich seit den 70ern, seit Gordon Banks, spätestens aber seit Peter Shilton suchen sie auf der Insel nach einem brauchbaren Torwart. Wie aber kommt es, dass die eine traditionelle Fußballnation gute Keeper im Dutzend hervorbringt, während die andere Reiter der Apokalypse vom Schlage eines David Seaman, David James oder Paul Robinson zwischen die Pfosten stellen muss? Nimmt man die schiere Quantität, so haben die Deutschen auch gegenüber Italienern oder Spaniern die Nase vorn. Warum also kommen gerade aus Deutschland so viele überdurchschnittlich starke Schlussmänner?
»Hier haben die kleinen Jungs immer große Vorbilder«, sagt Toni Schumacher. Das ist sicher richtig, bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass die Idole des Nachwuchses aus dem eigenen Lande kommen. Das Vorbild von Rüdiger Vollborn war der Russe Lew Jaschin, das von René Adler ist der Däne Peter Schmeichel. Was allerdings außer Frage steht: In Deutschland genießen die Torhüter ein höheres Sozialprestige als in vielen anderen Ländern, hier sind sie nicht nur die, die zu nichts anderem zu gebrauchen waren. Es gibt tatsächlich Dreikäsehochs, die sagen: »Wenn ich groß bin, will ich Torhüter werden.« Die erhöhte Aufmerksamkeit führt offenbar zu einer besseren Qualität in der Ausbildung. So war es freilich nicht immer, ein Eike Immel erzählt, man habe ihm noch Ende der 80er im Training die Bälle einfach nur links und rechts um die Ohren gehauen. Heute sieht das anders aus. »Schon die Kleinen bekommen die beste Ausbildung, die man sich vorstellen kann«, sagt Schumacher. »Und das von Leuten, die den Beruf selbst jahrelang ausgeübt haben, wenn nicht in der Nationalmannschaft, dann zumindest in der Bundesliga.« Die ersten Ergebnisse dieser Bemühungen kann man jetzt in den deutschen Stadien besichtigen.
Ein Vormittagstraining in Gelsenkirchen. Die Übungseinheit findet auf einem frei zugänglichen Platz statt, am Spielfeldrand ist eine Grillbude geöffnet. »Auf Schalke kann man sich in einen Biergarten setzen, und fünf Meter entfernt trainieren die Torhüter«, wusste neulich sogar Jens Lehmann im »Kicker« zu berichten. Sein Torwarttrainer beim FC Arsenal hatte ihm begeistert davon berichtet – nachdem er Manuel Neuer beim Training beobachtet hatte. Zweieinhalb Jahre sind seit dem kleinen Lauschangriff vergangen. Neuer war damals 18 Jahre alt, dritter Torwart bei den Königsblauen und trotzdem bereits ein Kandidat für die Premier League.
Jetzt steht er, zusammen mit den anderen Verlierern des Champions-League-Spiels gegen Valencia, in einer Ecke des Trainingsplatzes. Manuel Neuer ist der erste Spieler, der nach dem ausgiebigen Stretchen einen Ball am Fuß hat. Beim »5 gegen 2« fällt er nicht sonderlich auf, was für einen Torwart ein Kompliment ist. Am Abend zuvor hatte er nicht so gut ausgesehen. Vielleicht zum ersten Mal, seit er den erfahrenen Frank Rost verdrängt hat, wurde ihm ein Fehler angekreidet.
»Wenn er rauskommt, muss er den Ball haben«, befand sogar Schalkes Torwarttrainer Oliver Reck. Vielleicht ist der Newcomer jetzt aber auch endgültig auf dem richtigen Weg. Toni Schumacher sagt über Adler und Neuer: »Es wird sich herausstellen können, ob sie wirklich groß werden, wenn sie auch mal einen entscheidenden Fehler machen, der ihren Verein in ein Tal reißt.« Was er meint: Die Psyche eines Torwarts ist, unabhängig von seinen spezifischen Fähigkeiten, das A und O. Das Fliegen und Fangen beherrschen viele.
Die Psyche ist das A und O, fliegen und fangen kann jeder
Manuel Neuer hat nie bei einem anderen Klub als Schalke 04 gespielt und kann sich das auch nicht vorstellen. Er ist Schalker durch und durch. Als er mit vier Jahren das erste Mal zum Training erschien, wollte kein anderes Kind die Handschuhe überstreifen. Da musste halt der Neue in den Kasten. Die bestmögliche Förderung bekam er von Anfang an, mittlerweile erhalten in Gelsenkirchen schon Drei- bis Sechsjährige ein wöchentliches Torwarttraining. Nur an Bundesligaspieltagen war alles anders: Da zog es Neuer immer möglichst früh hinauf in die Nordkurve des Parkstadions, um Jens Lehmann schon beim Aufwärmprogramm zuschauen zu können. Mit elf Jahren bejubelte er den UEFA-Cup-Sieg seines Idols, mit 13 stand plötzlich die eigene Karriere auf der Kippe. »Ich wurde aus der Westfalenauswahl geworfen, weil die anderen Torhüter größer waren«, erinnert sich Manuel Neuer. Damals konnte er mit seinen 1,74 Metern nicht mithalten, obwohl die für sein Alter ganz normal waren. Doch das mickrige Milchgesicht hatte Glück im Unglück. Lothar Matuschak, seit 1995 auf Schalke für die Ausbildung der A- und B‑Juniorentorhüter zuständig, erkannte die besondere Begabung, warb bei Nachwuchschef Helmut Schulte um Geduld und rettete Neuer damit die Laufbahn.
Oliver Reck sitzt nach dem Training als Erster im Restaurant »ess null vier« auf dem Trainingsgelände. Der ehemalige Bundesligatorhüter sei ein »Schnellduscher«, hatte die Schalker Presseabteilung vorgewarnt. Reck hat seinen heutigen Schützling zum ersten Mal in der B‑Jugend spielen gesehen – ohne dass ihm etwas Besonderes aufgefallen wäre, wie er freimütig erzählt. »Ich habe ihn registriert, das war’s«, sagt der Mann, der bis heute nach Oliver Kahn die meisten Bundesligaspiele ohne Gegentor bestritten hat. Auch Reck erklärt das deutsche Torwartphänomen mit der Tradition: »In Deutschland wollen die Kinder in jungen Jahren Torhüter werden, weil sie bestimmten Ikonen nacheifern. Das war bei mir so, das hat der Manu gemacht, und das wird auch bei meinem Sohn wahrscheinlich so sein.«
Was sich freilich geändert hat, sind die Anforderungen an den Mann zwischen den Pfosten. Manuel Neuer gilt heute vielen Beobachtern als das Role Model des »fangenden Feldspielers«. Er muss in jeder Sekunde des Spiels in der Lage sein, jeden Ball anzunehmen, mitzunehmen und zur eigenen Mannschaft zurückzuspielen. So hat Oliver Reck die Grundlagen der Schalker Torwartschule definiert. Neuer ist darin so gut, dass Reck ihm als Feldspieler die Regionalliga zutrauen würde, was er mit einer kleinen Anekdote illustriert: Als der noch unbekannte Neuer einmal beim Training im Feld mitkickte, kamen aufgeregte Zuschauer angelaufen und fragten, wer denn dieser tolle neue Spieler sei. Auch im Ernstfall ist Manuel Neuer stets in der Lage, einen klugen Pass zu spielen. Noch wirkungsvoller sind allerdings seine weiten Abwürfe, einst eine Spezialität Toni Schumachers, die jener mit dem ehemaligen Speerwerfer Rolf Herings entwickelte. Neuer ist in der Hinsicht ein legitimer Erbe Schumachers: Neulich gegen Hertha BSC schleuderte er den Ball über 60 Meter auf Stürmer Peter Løvenkrands und leitete damit die entscheidende Spielszene ein. Um dieses taktische Mittel zu üben, hatte Lothar Matuschak in der A‑Jugend drei kleine Tore an der Mittellinie aufgebaut. »Wir üben das auch jetzt noch jede Woche«, sagt Neuer. In seinem ersten Jahr in der Bundesliga wäre Manuel Neuer um ein Haar Deutscher Meister geworden. Man wird das Gefühl nicht los, dass es vielleicht ganz gut für seine Entwicklung war, dass ihm die Krönung versagt blieb. Was hätte Neuer, der Casillas von Gelsenkirchen, dann noch erreichen können bei seinem Stammverein? Jetzt kann er all die Fehler nachholen, die er noch nicht gemacht hat. Und vielleicht trifft eines Tages doch ein, was ein jugendlicher Zaungast auf die Werbebande des Trainingsplatzes gekritzelt hat: »Irgendwann werdet ihr Meister.«
Michael Rensing ist bereits Deutscher Meister geworden, aber er durfte nicht viel dazu beitragen. Anders als Neuer oder Adler, die ihre alternden Vorgänger verdrängen konnten, bleibt ihm noch immer die Rolle des Thronfolgers. Rensing ist ein umgänglicherer Typ als Oliver Kahn. Ein höflicher Abiturient aus dem Emsland, der sich am Ende des Gesprächs bedankt und sagt: »Schön war’s.« So etwas würde Kahn nicht über die Lippen kommen. Dennoch sollte sich niemand täuschen: Rensing ist ebenso ehrgeizig wie der Mann, den er im nächsten Sommer im Tor der Bayern beerben soll. Er war es schon immer, selbst als Jugendlicher beim TuS Lingen, als er aus eigenem Antrieb begann, seine Ernährung umzustellen. »Der Ehrgeiz wurde immer größer, ich wollte der Beste sein und immer gewinnen.« Das hat nicht Oliver Kahn gesagt, sondern Michael Rensing. Als er 15 war, hatte sich sein Talent bis weit über die Grenzen des Emslandes hinaus herumgesprochen. Es gab die ersten Angebote von Bundesligisten, und eigentlich hatte sich Rensing schon »zu 99 Prozent für Schalke entschieden«, da riefen die Münchner an. Das brachte den jungen Keeper in Gewissensnöte, wo er doch sein Leben lang Bayern-Fan gewesen war.
Rensings Liebe zu den Roten ging so weit, dass sein erstes Vorbild als Torwart der damalige Bayern-Keeper Raimond Aumann war. Kein Wunder also, dass Schalke den Kürzeren zog. »Ich liebe Bayern München und wollte mir nicht nachsagen lassen, dass ich die Chance hatte und sie nicht genutzt habe«, sagt Rensing heute.
Ob sich der Wechsel nach München gelohnt hat, werden die nächsten zwölf Monate zeigen. Jahrelang galt Rensing als das größte deutsche Torwarttalent, doch der plötzliche Aufstieg von Neuer und Adler hat die Koordinaten verschoben. Während sich der Schalker und der Leverkusener Woche für Woche in der Bundesliga bewähren, blieben dem Münchner meist nur die Einsätze in der Regionalliga. Schon unkten die ersten Experten, dass Rensing den daraus resultierenden Mangel an Erfahrung nur schwerlich werde kompensieren können. Entsprechend nervös reagierte der 23-Jährige, als Bayern-Vize Karl-Heinz Rummenigge vor einiger Zeit dem Platzhirschen Kahn eine Vertragsverlängerung über den Sommer 2008 hinaus in Aussicht stellte. Mittlerweile hat sich die Lage für Rensing entspannt, die Ellbogenverletzung, die Kahn derzeit außer Gefecht setzt, gibt seinem Nachfolger in spe die Gelegenheit, sich ins Gedächtnis zu rufen. Da ihm dies mit Nachdruck gelingt, sind die leisen Zweifel, die sich auch bei den Verantwortlichen des FC Bayern einzuschleichen drohten, vorerst verstummt.
Mehr noch, als Manager Uli Hoeneß nach der möglichen Lehmann-Nachfolge im Tor der Nationalelf befragt wurde, sagte er einen Satz, der Fußballdeutschland in Aufruhr versetzte: »In Frage kommen drei Tormänner – Adler, Neuer und Rensing. Enke oder wie sie alle heißen, kann man vergessen.« Es war so ein typischer Uli-Hoeneß-Satz, der Spruch eines Lobbyisten ohne Diplomatenpass, aber die dahinter stehende Frage ist berechtigt: Wird angesichts der herausragenden jungen Torhüter der Mittelbau der Enkes, Hildebrands und Wieses schlicht übersprungen werden? Zuletzt galt ja ein unratifizierter Generationenvertrag auf der Position, selbst ein Oliver Kahn musste 29 Jahre alt werden, bis er regelmäßig für Deutschland spielen durfte. Jetzt aber sollte man sich da nicht so sicher sein, und das nicht nur, weil es zur Philosophie des Bundestrainers gehört, junge Spieler zu fördern. Ein Robert Enke wird es mit Hannover 96 kaum bis nach Europa schaffen, Timo Hildebrand hat genug damit zu tun, den Platz im Tor des FC Valencia zu behaupten, und Tim Wiese hat ja bereits das Handtuch geworfen, auf die ihm eigene, polternde Art.
Die Parteinahme seines Klubmanagers wird Michael Rensing gefreut haben, wenngleich er an die Nationalmannschaft noch keinen Gedanken verschwendet. Erst einmal gilt es, im eigenen Verein den Stammplatz zu sichern. Kahn wird wiederkommen und Rensing erneut auf der Bank Platz nehmen müssen, zumindest dieses Mal noch, aber »dann wird endlich mein großer Traum in Erfüllung gehen«. Es klingt fast ein wenig beschwörend, und auf einmal wirkt der höfliche Michael Rensing aus Lingen im Emsland wie ein nervöses Rennpferd, das seit einer Ewigkeit darauf wartet, dass endlich der Startschuss ertönt. »Die Schmerzgrenze ist spätestens nach dieser Saison erreicht», sagt er. »Da will und muss ich spielen.«
Dass sich Rensing überhaupt so lange in Geduld geübt hat, liegt an seiner guten Erziehung und Sepp Maier. Er hätte sich ausleihen lassen können, doch erstens wollten die Bayern das nicht und zweitens war ihm das Training bei Maier in München wichtiger als die Möglichkeit, woanders im Tor zu stehen. Sepp Maier war nicht nur ein großer Keeper und umstrittener Bundestorwarttrainer, er hat auch Bücher über das Torwarttraining geschrieben und war einer der ersten in Deutschland, der sich ernsthaft Gedanken über dessen Systematik gemacht hat. Mittlerweile sieht das anders aus, alle Profiklubs beschäftigen einen oder mehrere Torwarttrainer, doch jeder vertritt seinen eigenen Standpunkt. »Es nützt mir nichts, wenn ich ein Buch von Sepp Maier lese, und dann nicht davon überzeugt bin, was Sepp Maier sagt«, meint etwa Rüdiger Vollborn. Die Forderung des DFB-Trainers Jörg Daniel, die Standards der Torwartausbildung zu vereinheitlichen und eine Lizenz für die Trainer einzuführen, findet zwar durchaus Anhänger, doch letztlich will sich kein erfolgreicher Coach in die Karten blicken oder gar in die Suppe spucken lassen. Und so gibt es die unterschiedlichsten Schulen, und jede setzt ihre eigenen Prioritäten.
Als eine der eigenwilligsten darf die des Gerry Ehrmann aus Kaiserslautern gelten. Der war zu Beginn seiner aktiven Karriere Ersatzkeeper in Köln hinter Toni Schumacher, und man hat bis heute den Eindruck, dass ihn diese Erfahrung für sein Leben geprägt hat. Die Torhüter, die Ehrmann herausgebracht hat, sind alles Klone von Schumacher oder eben Ehrmann selbst: breiter Brustkorb, extrovertierte Körpersprache, Risikobereitschaft bis kurz vorm Harakiri. Tim Wiese und Roman Weidenfeller haben es so in den erweiterten Kreis der Nationalmannschaft gebracht, und nicht weniger ist das Ziel seines jüngsten Schützlings, Florian Fromlowitz.
Rückpassregel und Viererkette haben das Torwartspiel revolutioniert
Ehrmann vertritt einige ungewöhnliche Thesen über das Torwartspiel. Zum Beispiel sagt er: »Als Torhüter gibt es ja im Grunde nichts Neues.« Da muss man erst mal schlucken, nachdem man wochenlang gehört hat, wie sehr die Rückpassregel und die Viererkette das Spiel der Schlussmänner revolutioniert haben. Die eine hat die Keeper zur Beidfüßigkeit erzogen, die andere macht sie endgültig zum elften Feldspieler, weil sie als Absicherung hinter der Kette einen Teil der Aufgaben des früheren Liberos wahrnehmen. Außerdem bietet eine solide Technik des letzten Mannes ungeahnte Möglichkeiten der Spieleröffnung. Doch Ehrmann ficht das nicht an. »Ich halte nichts davon, wenn Torwarte zu gute Fußballer sind«, sagt er ungerührt. »Das kann schon wieder in Überheblichkeit ausarten.« In der Tat sind Ehrmanns Torhüter mit dem Fuß nicht die Besten, doch Mut, das muss man ihnen lassen, den haben sie, getreu dem Motto ihres Trainers: »Fehler kann man immer machen, aber wer Angst hat, macht zwangsläufig Fehler.«
Ehrmanns Methoden sind in der Szene durchaus umstritten. »Das ist nur Kraftraum und sonst nichts«, sagt ein Trainerkollege aus der Bundesliga. Was auffällt bei den Keepern der Lauterer Schule: Sie starten durch von Null auf Hundert, um an einem bestimmten Punkt ihrer Karriere zu stagnieren oder sich sogar zurückzuentwickeln. Aber dann sind sie nicht mehr in Kaiserslautern, und so kann man vielleicht sagen, dass das System Ehrmann nur funktioniert, wenn Ehrmann dabei ist. Als neulich Roman Weidenfeller in Dortmund schwere Zeiten durchmachte, da hat er bei seinem alten Förderer Gerry Ehrmann Trost gesucht und gefunden. Und Florian Fromlowitz lacht, wenn er sagt: »Ich bin schon froh, dass ich dem Gerry nicht im Dunkeln begegnen muss.« Das hört sich jedenfalls nicht nach einem Schleifer an, der Angst und Schrecken verbreitet, auch wenn Ehrmann selbst meint: »Wenigstens einmal die Woche müssen sie kurz davor sein, sich zu übergeben.«
Unbestritten ist das Auge des Lauterer Torwarttrainers für Talente. Fromlowitz trainiert er bereits seit der D‑Jugend. Der ging schon als kleiner Junge mit seinem Vater auf den Betze und hat deshalb zuletzt doppelt schwere Zeiten durchgemacht, als Sportler wie auch als Fan. Seine Stunde schlug, als sich Stammkeeper Jürgen Macho im Frühjahr 2005 den Arm brach. Zwar konnte auch Fromlowitz nicht den Abstieg des Traditionsklubs verhindern, doch er überzeugte mit starken Leistungen und teils spektakulären Paraden. Als er die folgende Saisonvorbereitung nachlässig anging, setzte der damalige Coach Wolfgang Wolf ihn wieder auf die Bank. So musste Fromlowitz, der Überflieger, mit ansehen, wie ihn die anderen Talente seiner Generation links und rechts überholten, wie Neuer und Adler, die Kumpels aus den Juniorenteams des DFB, die Schlagzeilen dominierten, während er nicht mal mehr in der 2. Liga zum Zuge kam. Mittlerweile ist die Welt wieder in Ordnung, wenn man das als Lauterer mit Blick auf die Zweitligatabelle sagen kann. Der neue Trainer Kjetil Rekdal erklärte Fromlowitz zur Nummer Eins, Rivale Macho ist längst in Athen. Im Sommer 2008 läuft der Vertrag von Florian Fromlowitz aus. Danach wird der 1. FC Kaiserslauten aller Voraussicht nach nicht in die Bundesliga zurückkehren, bei Fromlowitz kann man sich da nicht sicher sein. Das Jahr als Reservist, so scheint es, hat ihn geläutert: »Wenn du jung bist, ist es auch wichtig, wie du auftrittst. Vielleicht war ich zu selbstsicher, weil ich in der 1. Liga so gute Kritiken bekommen und schon als 19-Jähriger in der U21 gespielt habe.« An Neuer, Adler und die Sphären, in denen sie sich bewegen, denkt er im Moment nicht, und das ist wohl auch besser so.
Zurück in Leverkusen. Rüdiger Vollborn philosophiert über die Launen des Torwartlebens: »Jeder hat mal ein kleines Wellental. Die Kunst ist, das Wellental so flach wie möglich zu halten. In den Hochphasen auffallen und in den Tiefphasen nicht negativ auffallen.« Viele haben Adler und Neuer vor dem verflixten zweiten Jahr nach dem plötzlichen Aufstieg gewarnt. Nun, bis jetzt halten sie (sich) wacker, Adler vielleicht noch ein bisschen wackerer als Neuer. René Adler wirkt erwachsen für einen Mann seines Alters, vielleicht liegt es daran, dass eine spät erkannte Rippenverletzung im letzten Jahr beinahe seine Karriere beendet hätte, bevor sie richtig begann. »Ich habe gelernt anders zu denken«, sagt Adler, »und erkannt, dass ich mich zu sehr auf den Fußball fixiert hatte.«
Vollborn nickt beifällig, die beiden nähern sich gerade wieder ein wenig an. Von allen Trainer-Torwart-Paarungen dieser Geschichte haben sie die engste Beziehung. Das liegt daran, dass René Adler in gewisser Weise tatsächlich der Sohn von Rüdiger Vollborn ist. Zumindest hat er vier Jahre bei ihm gewohnt, damals, als er aus Leipzig ins Rheinland kam. »Danach ist er mir ein wenig aus den Händen gerutscht«, gibt Vollborn zu. Es war ein natürlicher Abnabelungsprozess, bezogen auf ihr Vater-Sohn-Verhältnis sozusagen die Pubertät. Heute begegnen sie sich auf Augenhöhe. »Er ist ein Mensch, zu dem ich gehe, wenn ich Probleme habe«, sagt Adler. Er sagt »ein Mensch«, nicht »der Mensch«, und es ist vielleicht dieser unbestimmte Artikel, der den Unterschied zu früher markiert.
»Ich hoffe, dass in Leverkusen in Zukunft ein Mensch im Tor steht und kein Titan«, sagt Vollborn mit feinem Seitenhieb auf ein Phänomen der jüngeren deutschen Fußballhistorie. Ohne seine Loyalität zum Arbeitgeber Bayer Leverkusen in Frage stellen zu wollen: Im Zweifel würde er sich wohl immer für René Adler entscheiden. So unterstützt er ihn bei der Verwirklichung seines großen Traumes, obwohl er weiß, dass der Traum nichts mit Bayer und nicht einmal etwas mit Deutschland zu tun hat: Adler würde irgendwann gerne für Manchester United im Tor stehen. Vollborn müsste dann endgültig loslassen, doch das ist der Preis, den jeder Mentor zu zahlen hat. Als René Adler das Interview beendet, weil er einen anderen Termin hat, bleibt Rüdiger Vollborn einen Moment sitzen, er möchte noch etwas loswerden. Und dann beugt er sich vor wie Schlemihl aus der Sesamstraße, wenn er eine Acht verkaufen will, und flüstert fast, als könnte sein Satz in falsche Ohren gelangen: »In der ganzen Zeit, in der ihn in der Jugend trainiert habe, kann ich mich an höchstens vier oder fünf Fehler erinnern.«
Vielleicht ist auch dies ein Geheimnis der deutschen Hüter: dass man sich nirgendwo auf der Welt so um die Keeper sorgt und kümmert wie hier.