38 Tage, 21 Spiele, und am Ende der Aufstieg in die Achte Liga? 2013 besuchte unser Autor die Marathonmänner des FC Guernsey.
Heute hat Gott keine Zeit. Heute kommt fucking Ash United.
Tony Vance steht an seiner Taktiktafel und zieht Pfeile von links nach rechts. „Jemand, der nicht fit ist, ha?“, fragt Guernseys Trainer, doch seine Spieler schweigen, starren auf die Kacheln der Kabine, auf die Iso-Drinks, die Bananen, die Hände der zwei Masseure, die unaufhörlich Waden und Füße kneten. Vance zählt seine Spieler durch. Hat er überhaupt noch genug? Was ist mit Jamie? „Here! Waiting for a piss!“ Und Dom? „Here! Waiting for the game!“
Ash United also, ein kleiner Verein bei Aldershot, Grafschaft Hampshire. Hinspiel im September 2012, Glyn Dyers Hammer aus 25 Metern, Dominic Heaumes Kopfball, die haben sie zerlegt, 5:1 am Ende, ein grandioses Spiel. Und heute? Eingefallene Wangen, müde Augen, sie sitzen da wie Bergarbeiter, bereit für die nächste Schicht unter Tage. Football, bloody hell.
Es ist der letzte Freitag im April. Der Guernsey FC hat in den vergangenen 25 Tagen 13 Spiele bestritten. Jetzt kommen drei Heimspiele an einem einzigen Wochenende: Ash United, Molesey und Sandhurst Town. Am nächsten Dienstag geht es weiter bei Bedfont Sports und um das erste Mai-Wochenende herum folgen die letzten vier Saisonspiele innerhalb von vier Tagen: Dorking, Hartley Wintney, Epsom & Ewell und Farnham Town. Wenn der GFC alle diese Spiele gewinnt, steigt er am 6. Mai von der neunten in die achte Liga auf. Nach 21 Partien in 38 Tagen. Es ist ein Spielemarathon, den es so noch nie im englischen Fußball gegeben hat. Die Frage ist nur: Wer hält das durch?
„Fuck it! Niemand hier ist fit!“
„Niemand!“ Co-Trainer Colin Fallaize hat sie als Erster durchschaut. „Fuck it! Niemand hier ist fit, das weiß ich!“, schnaubt er, und dann zeigt er auf die Wände und Türen der Kabine. Überall hängen Zettel mit rot-gelben Kreuzen auf weißem Grund, es ist die Flagge von Guernsey. Fallaize will sie heute über die gute alte Heimat- und Ehre-Nummer packen, denn Guernsey, dieses Idyll im Ärmelkanal mit eigener Währung, eigenem Steuersystem, eigenem Slang, diese Insel, die weder zum Vereinigten Königreich noch zur EU gehört, ist ihr ganzer Stolz. Fallaize klopft wieder und wieder auf die Kreuze.
Sie nennen den 58-Jährigen hier „Mr. Motivator“, Typ Hafenarbeiter, graue Schläfen, schiefe Schneidezähne, Hände wie Bärenpranken. Immer dann, wenn seine Jungs in den vergangenen Wochen aussahen, als müssten sie noch in der Halbzeit ins Sauerstoffzelt, hat er ihnen von seiner Lieblingssequenz aus dem ersten „Rocky“-Film erzählt: Zu Bill Contis „Gonna Fly Now“ rennt der Boxer durch Philadelphia, läuft am Ende die Treppenstufen zum Museum of Arts hinauf und reißt die Arme hoch. „Immer weiter“, hat Fallaize dann gesagt. „Immer weiter.“ Die Spieler haben genickt und ein bisschen gelacht über den lieben, alten Mann mit seinen Erinnerungen aus einem anderen Leben. Dann haben sie die Stereoanlage aufgedreht – Outkast, Robbie Williams, Kasabian, der heiße Scheiß der letzten Jahre – und ihre neuen Frisuren und Tätowierungen verglichen. Das Tattoo von Jamie Dodd zum Beispiel. Der Abwehrriese hat sich ein Gemälde über den kompletten Rücken stechen lassen, zum Gedenken an seinen toten Bruder, 30 Stunden hat das gedauert. Auch so ein Marathon.
Als der Schiedsrichter die Spieler hinausruft, schreit auch Fallaize: „Ach, scheiß’ auf Fitness!“, und er zeigt wieder auf die Zettel an den Wänden. „Ihr spielt heute für dieses Kreuz! Kein verdammter Spaß! Es geht nur um dieses Kreuz!“ Und der Mann, den sie zu seiner aktiven Zeit „Le God“ nannten? Matt Le Tissier sitzt in London und analysiert für „Sky“ die Premier League.
Es schneite, es stürmte, es regnete
Die ungewöhnliche Spielplan-Situation zeichnete sich bereits im Dezember und Januar ab, als der GFC nur ein einziges Ligaspiel bestreiten konnte. Das Wetter war schuld, natürlich. Der Winter hatte die Insel überrascht, denn normalerweise herrscht hier dank des Golfstroms ein mildes Klima. Es schneite, es regnete, es stürmte, an manchen Tagen ließen Kinder kleine Papierschiffe auf den Feldern herumfahren, so hoch stand das Wasser. Die Gegner vom Festland hätten nicht mal anreisen können, weil immer wieder Flüge gestrichen wurden.
Und dann war da noch die FA. Der englische Fußballverband wollte die Saison der Combined Counties Football League unbedingt am 6. Mai beenden, schließlich findet an diesem Tag das jährliche FA-Treffen in London statt. „Warum können sie nicht am 6. Mai dinieren und Ende des Monats den Papierkram erledigen?“, fragt Mark Le Tissier. „Die sprechen immer von Fairplay und Gesundheit, doch das hier ist das verdammt Gefährlichste, was ich je im Fußball erlebt habe.“ Mark Le Tissier ist Sportdirektor des GFC und der Bruder von Matt Le Tissier, dem berühmtesten Sohn der Insel. Matt Le Tissier ist ehemaliger Nationalspieler, eine Legende des FC Southampton und heute so was wie der Ehrenpräsident des GFC, das Aushängeschild.
Im September 2012 hatten sie ihn klammheimlich bei der FA angemeldet. Matt dachte, es wäre eine nette Sache, wenn er am Ende der Saison noch einmal in Guernsey Fußball spielen würde, dort, wo vor über 44 Jahren alles angefangen hatte, dort, wo er nach seiner Karriere auf der Tribüne saß und Kinder ihn fragten: „Bist du der, den sie ›Gott‹ nennen?“ Da ahnten Matt und Mark allerdings noch nicht, wie das Ende der Saison aussehen würde.