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Dieser Text erschien erst­mals im Januar 2019 in 11FREUNDE #207. Das Heft ist hier in unserem Shop erhält­lich.

Züge bereiten Salo Müller noch in den sech­ziger Jahren ein mul­miges Gefühl. Er wun­dert sich dann, dass er ein­fach so durch die Abteile laufen und sich einen Kaffee holen kann, auf die Toi­lette gehen, in den Spei­se­wagen oder her­um­tollen mit den jon­gens, seinen Spie­lern von Ajax Ams­terdam, die zu jener Zeit ein­fach nur Ajax sind und noch keine Legenden. Weil damals auch nie­der­län­di­sche Spit­zen­teams regel­mäßig mit der Bahn anreisen, sitzt Muller häufig im Zug. Der, das wird ihm nach und nach klar, ist ein ganz nor­males Ver­kehrs­mittel. Salo Muller teilt diese Erkenntnis mit nie­mandem. Und auch nicht das, was sie in ihm aus­löst.

Etwa zwanzig Jahre zuvor werden Lena Blitz und Louis Muller in einem über­füllten Vieh­wagen von der Neder­landse Spo­or­wegen ins Durch­gangs­lager Wes­ter­bork im Norden des Landes trans­por­tiert. Von dort werden sie nach Ausch­witz gebracht, wo die Nazis sie ver­gasen. Ihr Sohn Salo ist fünf Jahre alt, als er seine Eltern zum letzten Mal sieht. Von dem Tag an wird er ver­steckt. Nach einer Odyssee, die ihn aus der Stadt Ams­terdam durch die nord­hol­län­di­sche Pro­vinz bis nach Fries­land führt, über­lebt er den Holo­caust.

Ich hatte also immer etwas mit Zügen“, sagt Salo Muller Anfang 2019. Er wird in diesem Winter 83 Jahre alt, ein ele­gant geklei­deter Mann in guter Ver­fas­sung, eigent­lich. Nur eine hart­nä­ckige Bron­chitis macht ihm zu schaffen. Die habe ich mir durch all die Hektik der letzten Monate geholt“, kon­sta­tiert er. Diese Hektik hat ihren Grund: Muller hat es Ende letzten Jahres in die inter­na­tio­nalen Schlag­zeilen geschafft, denn auf sein jah­re­langes Drängen hin hat die nie­der­län­di­sche Bahn ein­ge­wil­ligt, die Nach­fahren der depor­tierten Juden indi­vi­duell zu ent­schä­digen.

Die dras­ti­schen Details des Hor­rors

Woher nimmt ein Mann seines Alters die Kraft, die Energie, die Beharr­lich­keit für eine solche Mis­sion? Wer Muller in seiner Woh­nung im Süden Ams­ter­dams auf­sucht und mit ihm abtaucht in die Abgründe und Anek­doten seiner gut acht Jahr­zehnte, bekommt eine Ahnung davon. Salo Muller ist freund­lich und zugleich scharf­sinnig und schlag­fertig, er gibt mit Verve zahl­reiche Schoten platten Fuß­ball­hu­mors zum Besten und imi­tiert seine Weg­ge­fährten so tref­fend, dass sie fast anwe­send erscheinen – um dann scho­nungslos die dras­ti­schen Details des Hor­rors zu erzählen, den er erlebt hat. Man begreift: Egal wie kurz­weilig es gerade ist, dieser Mann hat das Wesent­liche immer im Blick.

Genauso ist es wäh­rend seiner fast 14 Jahre bei Ajax Ams­terdam. Damals spricht Salo Muller so gut wie nie über Züge, und auch nicht über die Angst vorm Ent­deckt­werden. Die jah­re­lange Unge­wiss­heit über das Schicksal seiner Eltern. Das Aus­harren in einem Loch im Die­len­boden oder im Hüh­ner­stall eines Bau­ern­hofs. Es fragt ihn auch keiner danach. Nach außen wird Muller, mit seiner Buddy-Holly-Brille und dem streng zurück­ge­kämmten schwarzen Haar, so etwas wie das Mas­kott­chen des Ajax-Teams, das auf seinem Höhen­flug überall die Herzen erobert.

Dahinter jedoch ver­birgt sich ein schwer trau­ma­ti­siertes Kriegs­opfer, das trotz seines erschüt­terten Ver­trauens in die Men­schen und psy­cho­so­ma­ti­scher Leiden zu leben ver­sucht. Fast ist es, als sei Muller in jener Zeit die Per­so­ni­fi­zie­rung der nie­der­län­di­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft, in der Schre­cken und Ver­gessen so nah bei­ein­an­der­liegen, und die wenigen Juden, die übrig­ge­blieben sind, mit­tellos und ver­waist sehen müssen, wie sie zurecht­kommen.