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Als ich im Februar 2011 in das Flug­zeug Rich­tung Aus­tra­lien stieg, um dort für ein halbes Jahr mein Aus­lands­se­mester zu absol­vieren, war Borussia Mön­chen­glad­bach so weit vom Klas­sen­er­halt ent­fernt wie mein neues Zuhause von meiner alten Heimat. Der Abstand zum ret­tenden Ufer betrug zwar nur“ sechs Punkte, doch gefühlt waren wir schon längst in der Zweiten Liga. Allein in der Hin­runde hatte man 47 Tore Gegen­tore kas­siert und musste derbe Nie­der­lagen wie ein 0:7 beim VfB Stutt­gart ein­ste­cken. Zahl­reiche Stamm­spieler fielen der Reihe nach ver­let­zungs­be­dingt aus. Der einst als Superman“ gefei­erte Keeper Logan Bailly nahm den geg­ne­ri­schen Stür­mern die Arbeit ab und Füh­rungen wurden regel­mäßig aus der Hand gegeben. Kurz gesagt: So spielte ein typi­scher Absteiger.

Nachdem Michael Front­zeck nach einer 1:3‑Niederlage beim Mit­kon­kur­renten FC St. Pauli ent­lassen wurde und Lucien Favre seine Nach­folge antrat, erschien es auch von Seiten der Ver­eins­füh­rung wie eine Art Aufruf zum Neu­aufbau in Liga Zwei. Denn der eigen­wil­lige Fuß­bal­l­äs­thet aus der fran­zö­sisch-spra­chigen Schweiz strahlte nun wirk­lich nicht die Aura eines klas­si­schen Feu­er­wehr­manns und Ret­ters aus. Doch irgendwie schaffte er es mit Akribie und dem kleinen Fuß­ball-Ein­mal­eins die Mann­schaft wieder in die Spur zu bringen. Am 34. Spieltag erreichten wir fast schon sen­sa­tio­nell den Rele­ga­ti­ons­n­platz, der uns immerhin die große Chance bot, in zwei Spielen gegen den Dritt­plat­zierten der Zweiten Liga, den VfL Bochum, das Wunder zu schaffen.

180 Minuten Inten­siv­sta­tion

Wäh­rend meine Mit­be­wohner, zum Groß­teil Alibi-Anhänger der fal­schen Borussia, in dieser Nacht die Über­gabe der Meis­ter­schale fei­erten, zele­brierte ich den 16. Tabel­len­platz, als wären wir in ein Cham­pions-League-Finale ein­ge­zogen. Doch nach Momenten purer Freude und Erleich­te­rung zog mein Kopf die Par­ty­bremse, denn die Rele­ga­tion war so etwas wie die Katze im Sack. Eine lebens­ver­län­gernde Maß­nahme, die das Ste­cker­ziehen ent­weder nur hin­aus­zö­gerte oder eben eine Wun­der­hei­lung ver­sprach.

Die Tage bis zum 19. Mai 2011 ver­gingen im Zeit­lu­pen­tempo, aber so richtig uner­träg­lich wurde es erst, als der Tag des Hin­spiels im Borussia Park gekommen war. Anstatt im Sta­dion meinen Teil zum Erfolg bei­tragen zu können, war ich über 10.000 Kilo­meter weit ent­fernt. Ich war machtlos. Hinzu kam die Zeit­ver­schie­bung, denn ich war der deut­schen Zeit um sechs Stunden voraus. Sechs Stunden in denen mich sowohl meine Lei­dens­ge­nossen in der Heimat als auch die deut­schen Medien mit meinen Ängsten und meiner Ner­vo­sität alleine ließen. So einsam hatte ich mich noch nie zuvor gefühlt.

Ich ver­suchte den Vor­mittag zu über­brü­cken, in dem ich mir sämt­liche Borussen-Lieder in der End­los­schleife anhörte und die Zusam­men­schnitte unserer gran­diosen Auf­hol­jagd in mir aufsog. Nachdem am Nach­mittag dann auch end­lich Deutsch­land aus dem Schlaf erwachte, ver­schlang ich nahezu jeden Vor­be­richt, den das Internet zu bieten hatte. Doch der Anpfiff ertönte erst um 2:30 Uhr Orts­zeit, also nutzte ich den Abend um mir mit aus­tra­li­schem Bier Mut anzu­trinken.

Noch schlimmer als diese uner­träg­liche Anspan­nung war jedoch die Tat­sache, am anderen Ende der Welt auf einen ost­eu­ro­päi­schen Live­stream ange­wiesen zu sein, der mir in den Liga-Spielen bereits das ein oder andere Mal den Dienst ver­wei­gert hatte. Gott sei Dank stand pünkt­lich zum Anpfiff die Lei­tung in den Borussia Park, und den­noch ließ jede kleinste Ver­zö­ge­rung in der Über­tra­gung meinen Ruhe­puls, der gefühlt bei 180 lag, immer weiter in die Höhe schnellen. Als Joker Igor de Camargo dann in der letzten Minute der Nach­spiel­zeit das so wich­tige 1:0‑Siegtor erzielte, war mein Herz an der Grenze des Belast­baren. Meine Jubel­schreie sorgten nicht nur dafür, dass die Nacht für meine Mit­be­wohner zu Ende war, son­dern beraubten mich auch für den nächsten Tag meiner Stimme. Dass mich nur sechs Tage eine noch grö­ßere Dra­matik erwarten würde, ahnte ich zu diesem Zeit­punkt nicht im geringsten.

Wes­tern­hagen hatte recht

Der Tag des Rück­spiels ver­lief noch nahezu iden­tisch, bis auf den Unter­schied, dass aus­tra­li­sches Bier nicht mehr aus­reichte, um meine Anspan­nung eini­ger­maßen im Zaun zu halten. Marius Müller Wes­tern­hagen sollte zum Glück recht behalten, denn ein gewisser Johnny Walker erwies sich an diesem Abend tat­säch­lich als mein bester Freund. Immerhin erbarmten sich auch zwei Kom­mi­li­tonen, mit mir das Spiel zu gucken, was sie jedoch spä­tes­tens nach 24 Minuten bereuten. Har­vard Nord­tveit brachte die Bochumer mit einem Eigentor in Füh­rung und meinem blanken Ent­setzen folgte ein minu­ten­langer Tour­ette-Tor­nado. Bochum war obenauf und hatte den Heim­vor­teil auf seiner Seite. Vor dem Latop sitzen, konnte ich längst nicht mehr. Statt­dessen lief ich wie ein apa­thi­scher Zoo-Tiger in einem ca. zehn Qua­drat­meter großen Zimmer auf und ab.

Aber was dann folgte als Marco Reus Mitte der zweiten Hälfte den Aus­gleich erzielte und damit der Borussia den Klas­sen­er­halt sicherte, dürfte nicht nur bei mir blei­bende Spuren hin­ter­lassen haben. Reflex­artig riss ich mir mein Trikot vom Leib und star­tete ober­kör­per­frei einen mit einem Urschrei unter­malten Jubel­lauf durch den Flur des Stu­den­ten­wohn­heims. Meine Kom­mi­li­tonen müssen gedacht haben, nicht Reus, son­dern ich hätte den ent­schei­denden Treffer erzielt. Dieser Anblick hatte einen indi­schen Nach­barn, der sich gerade aus seinem Zimmer begeben wollte, um sich über die nächt­liche Lärm­be­läs­ti­gung zu beschweren, derart ver­schreckt, dass er noch auf seiner Tür­schwelle kehrt machte und sich leicht ver­stört seinem Schicksal ergab.

Diese Rele­ga­tion war das schreck­lichste und zugleich schönste, was ich bis­lang im Fuß­ball erlebt habe. Sie mag zwar nicht unbe­dingt zur Völ­ker­ver­stän­di­gung bei­getragen haben, doch gerade im Über­le­bens­kampf offen­bart der Sport seine gesamte Fas­zi­na­tion. Ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt, eine Meis­ter­schaft oder gar die Cham­pions League zu gewinnen, aber mehr Emo­tion geht eigent­lich nicht!