Für Hoffenheim und Kaiserslautern beginnt heute die Relegation und damit der Kampf um den letzten Platz in der Bundesliga. 11FREUNDE-Mitarbeiter Sebastian Wolf erinnert sich an seine Nahtoderfahrung mit Borussia Mönchengladbach am anderen Ende der Welt.
Als ich im Februar 2011 in das Flugzeug Richtung Australien stieg, um dort für ein halbes Jahr mein Auslandssemester zu absolvieren, war Borussia Mönchengladbach so weit vom Klassenerhalt entfernt wie mein neues Zuhause von meiner alten Heimat. Der Abstand zum rettenden Ufer betrug zwar „nur“ sechs Punkte, doch gefühlt waren wir schon längst in der Zweiten Liga. Allein in der Hinrunde hatte man 47 Tore Gegentore kassiert und musste derbe Niederlagen wie ein 0:7 beim VfB Stuttgart einstecken. Zahlreiche Stammspieler fielen der Reihe nach verletzungsbedingt aus. Der einst als „Superman“ gefeierte Keeper Logan Bailly nahm den gegnerischen Stürmern die Arbeit ab und Führungen wurden regelmäßig aus der Hand gegeben. Kurz gesagt: So spielte ein typischer Absteiger.
Nachdem Michael Frontzeck nach einer 1:3‑Niederlage beim Mitkonkurrenten FC St. Pauli entlassen wurde und Lucien Favre seine Nachfolge antrat, erschien es auch von Seiten der Vereinsführung wie eine Art Aufruf zum Neuaufbau in Liga Zwei. Denn der eigenwillige Fußballästhet aus der französisch-sprachigen Schweiz strahlte nun wirklich nicht die Aura eines klassischen Feuerwehrmanns und Retters aus. Doch irgendwie schaffte er es mit Akribie und dem kleinen Fußball-Einmaleins die Mannschaft wieder in die Spur zu bringen. Am 34. Spieltag erreichten wir fast schon sensationell den Relegationsnplatz, der uns immerhin die große Chance bot, in zwei Spielen gegen den Drittplatzierten der Zweiten Liga, den VfL Bochum, das Wunder zu schaffen.
180 Minuten Intensivstation
Während meine Mitbewohner, zum Großteil Alibi-Anhänger der falschen Borussia, in dieser Nacht die Übergabe der Meisterschale feierten, zelebrierte ich den 16. Tabellenplatz, als wären wir in ein Champions-League-Finale eingezogen. Doch nach Momenten purer Freude und Erleichterung zog mein Kopf die Partybremse, denn die Relegation war so etwas wie die Katze im Sack. Eine lebensverlängernde Maßnahme, die das Steckerziehen entweder nur hinauszögerte oder eben eine Wunderheilung versprach.
Die Tage bis zum 19. Mai 2011 vergingen im Zeitlupentempo, aber so richtig unerträglich wurde es erst, als der Tag des Hinspiels im Borussia Park gekommen war. Anstatt im Stadion meinen Teil zum Erfolg beitragen zu können, war ich über 10.000 Kilometer weit entfernt. Ich war machtlos. Hinzu kam die Zeitverschiebung, denn ich war der deutschen Zeit um sechs Stunden voraus. Sechs Stunden in denen mich sowohl meine Leidensgenossen in der Heimat als auch die deutschen Medien mit meinen Ängsten und meiner Nervosität alleine ließen. So einsam hatte ich mich noch nie zuvor gefühlt.
Ich versuchte den Vormittag zu überbrücken, in dem ich mir sämtliche Borussen-Lieder in der Endlosschleife anhörte und die Zusammenschnitte unserer grandiosen Aufholjagd in mir aufsog. Nachdem am Nachmittag dann auch endlich Deutschland aus dem Schlaf erwachte, verschlang ich nahezu jeden Vorbericht, den das Internet zu bieten hatte. Doch der Anpfiff ertönte erst um 2:30 Uhr Ortszeit, also nutzte ich den Abend um mir mit australischem Bier Mut anzutrinken.
Noch schlimmer als diese unerträgliche Anspannung war jedoch die Tatsache, am anderen Ende der Welt auf einen osteuropäischen Livestream angewiesen zu sein, der mir in den Liga-Spielen bereits das ein oder andere Mal den Dienst verweigert hatte. Gott sei Dank stand pünktlich zum Anpfiff die Leitung in den Borussia Park, und dennoch ließ jede kleinste Verzögerung in der Übertragung meinen Ruhepuls, der gefühlt bei 180 lag, immer weiter in die Höhe schnellen. Als Joker Igor de Camargo dann in der letzten Minute der Nachspielzeit das so wichtige 1:0‑Siegtor erzielte, war mein Herz an der Grenze des Belastbaren. Meine Jubelschreie sorgten nicht nur dafür, dass die Nacht für meine Mitbewohner zu Ende war, sondern beraubten mich auch für den nächsten Tag meiner Stimme. Dass mich nur sechs Tage eine noch größere Dramatik erwarten würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht im geringsten.
Westernhagen hatte recht
Der Tag des Rückspiels verlief noch nahezu identisch, bis auf den Unterschied, dass australisches Bier nicht mehr ausreichte, um meine Anspannung einigermaßen im Zaun zu halten. Marius Müller Westernhagen sollte zum Glück recht behalten, denn ein gewisser Johnny Walker erwies sich an diesem Abend tatsächlich als mein bester Freund. Immerhin erbarmten sich auch zwei Kommilitonen, mit mir das Spiel zu gucken, was sie jedoch spätestens nach 24 Minuten bereuten. Harvard Nordtveit brachte die Bochumer mit einem Eigentor in Führung und meinem blanken Entsetzen folgte ein minutenlanger Tourette-Tornado. Bochum war obenauf und hatte den Heimvorteil auf seiner Seite. Vor dem Latop sitzen, konnte ich längst nicht mehr. Stattdessen lief ich wie ein apathischer Zoo-Tiger in einem ca. zehn Quadratmeter großen Zimmer auf und ab.
Aber was dann folgte als Marco Reus Mitte der zweiten Hälfte den Ausgleich erzielte und damit der Borussia den Klassenerhalt sicherte, dürfte nicht nur bei mir bleibende Spuren hinterlassen haben. Reflexartig riss ich mir mein Trikot vom Leib und startete oberkörperfrei einen mit einem Urschrei untermalten Jubellauf durch den Flur des Studentenwohnheims. Meine Kommilitonen müssen gedacht haben, nicht Reus, sondern ich hätte den entscheidenden Treffer erzielt. Dieser Anblick hatte einen indischen Nachbarn, der sich gerade aus seinem Zimmer begeben wollte, um sich über die nächtliche Lärmbelästigung zu beschweren, derart verschreckt, dass er noch auf seiner Türschwelle kehrt machte und sich leicht verstört seinem Schicksal ergab.
Diese Relegation war das schrecklichste und zugleich schönste, was ich bislang im Fußball erlebt habe. Sie mag zwar nicht unbedingt zur Völkerverständigung beigetragen haben, doch gerade im Überlebenskampf offenbart der Sport seine gesamte Faszination. Ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt, eine Meisterschaft oder gar die Champions League zu gewinnen, aber mehr Emotion geht eigentlich nicht!