Sein Sololauf gegen Argentinien machte ihn zum Superstar der Jahrtausendwende. Er schoss Tore für Liverpool, Real Madrid und England. Er war der beste Fußballer Europas. Jetzt beendet Michael Owen seine Karriere.
Und die Welt steht still. Für den Bruchteil einer Sekunde. Dann schlägt der Ball im Netz ein und die Stille explodiert. „What a goal!“, kreischt der englische Kommentator. Man hört seine Stimme kaum, denn um ihn herum explodieren die Menschen. Michael Owen, 18, hat soeben das 2:1 gegen Argentinien geschossen. Für die englische Nationalmannschaft. Im Achtelfinale. Bei einer Weltmeisterschaft.
Das war am 30. Juni 1998. Stade Geoffroy Guichard, St. Etienne, Frankreich. Die Platzhirsche Gabriel Batistuta (6.) und Alan Shearer (10.) hatten in diesem verrückten Achtelfinale bereits per Elfmeter getroffen. 1:1, obwohl das Spiel noch gar nicht richtig begonnen hatte. England gegen Argentinien – nach dem Falkland-Krieg und der Hand Gottes längst kein gewöhnliches Fußballspiel mehr. Sondern eine Schlacht. Und was tat Englands Nationaltrainer Glenn Hoddle, um diese Schlacht zu gewinnen? Schickte einen 18-jährigen Hänfling auf den Rasen, dem selbst das kleinste Trikot noch zu groß war.
Gut, dieser Michael Owen aus Liverpool war in den Gruppenspielen gegen Tunesien und Rumänien eingewechselt worden, hatte gegen die Rumänen sogar das zwischenzeitliche 1:1 (Endstand: 1:2) erzielt und war dafür mit einem Startelf-Debüt gegen Kolumbien belohnt worden – aber das hier war verdammt noch mal Argentinien! Eine Mannschaft voller Spieler wie Roberto Ayala, Matias Almeyda, Diego Simeone oder Hernan Crespo. Eine Mannschaft voller Krieger. Hoddle musste wahnsinnig geworden sein.
Ayala, die argentinische Burg – Owen fliegt einfach an ihm vorbei
Die 16. Minute. Argentinien greift an, ist weit aufgerückt, doch der Angriff versandet im englischen Mittelfeld. Hinter der Mittellinie lauert Michael Owen. Ein hoher Pass fliegt in seinen Lauf, Owen ist längst gestartet. Mit dem rechten Außenrist legt er sich den Ball selbst vor. José Antonio Chamot – zehn Jahre älter, zehn Zentimeter größer, zehn Kilo schwerer – verfolgt ihn. Er zieht und zerrt, tritt und drückt, aber Owen schüttelt ihn ab wie eine Stubenfliege. An der Strafraumgrenze hat sich Roberto Ayala aufgebaut. Wenn das hier eine Schlacht ist, ist Ayala die feste Burg. Ein Haken nach rechts, Owen fliegt an Ayala vorbei. Paul Scholes ist mitgelaufen, der Ball rollt ihm genau vor den starken rechten Fuß. Doch Owen sieht ihn nicht, will ihn nicht sehen, braucht ihn nicht sehen. Aus vollem Lauf schießt er den Ball quer an Torwart Carlos Roa vorbei in den Winkel. Und die Welt steht still.
England verliert dieses Achtelfinale noch. Natürlich im Elfmeterschießen. Michael Owen verwandelt seinen Versuch, aber Paul Ince und David Batty scheitern an Roa. England ist mal wieder frühzeitig ausgeschieden. Aber England stört das nicht sonderlich. England hat jetzt Michael Owen.
Knapp 15 Jahre später gibt Michael Owen, 33, das baldige Ende seiner Karriere bekannt. Der inzwischen für Stoke City stürmende Fußballer verkündet via Twitter: „Heute ist ein großer Tag. Ich habe entschieden, dass diese Saison meine letzte als Profi-Fußballer ist.“ Heute ist ein trauriger Tag.
Michael Owen, das ist eine Geschichte von Toren und Sensationen, von Titel und Triumphen. Aber auch eine Story von Verletzungen, verpassten Hoffnungen und gescheiterten Plänen. Nicht wenige Wegbegleiter, Mitspieler und Experten sind sich darüber einig, dass Owen der beste englische Angreifer aller Zeiten hätte werden können. Doch weil er sich immer wieder verletzte, vielleicht auch falsche Entscheidungen traf, haftet ihm heute der „Was wäre wenn“-Makel an. Er selbst sagt: „Ich bin einer der glücklichsten Menschen auf der Welt, habe für Liverpool, Real Madrid und Manchester United gespielt, habe in 89 Spielen für mein Land 40 Tore geschossen. Ich habe so viel Geld verdient, dass ich nie wieder arbeiten muss. Was habe ich verpasst?“ Eine Weltkarriere, kein Zweifel. Aber.
Vielleicht war er nie besser als in jenem Sommer 1998
Aber vielleicht war er nie besser, als in jenem Sommer 1998, als er mit 18 Treffern Torschützenkönig in der Premier League wurde und mit seinem Tor gegen Argentinien die Welt kurzzeitig aus den Angeln hob. Nicht mal ein Jahr später, am 12. April 1999, reißt ihm im Ligaspiel gegen Leeds United eine Sehne am hinteren Oberschenkel. Möglicherweise zahlt der Jüngling schon jetzt für die Dauerbelastung im Jugendbereich. Weil immer schneller, immer talentierter, immer besser als seine gleichaltrigen Mitstreiter war, setzten ihn die Trainer immer in den älteren Jahrgängen ein. Mit fatalen Folgen für den jungen Körper. „Steven Gerrard musste mit 14 mal lange Zeit wegen einer Verletzung pausieren, das war sein Glück. Sein Körper wurde nicht überlastet. Ich konnte und wollte immer spielen“, sagt Owen.
Die Verletzung verheilt schnell, Owen ist erst 19. Aber die Probleme wird er nie wieder los. Drei dieser Sehnen gibt es in jedem Oberschenkel. Ist ein Bein beschädigt, wird automatisch das andere Bein stärker belastet. Und so weiter. „Jeder Spezialist hat mir dasselbe gesagt“, hat es Owen mal erklärt, „du belastet links, die Sehnen werden gereizt. Du belastet rechts, die Sehnen werden gereizt. Ein Teufelskreis. Kein Zweifel: Diese Verletzung hat meine Karriere nachhaltig beeinflusst.“
Davon merkt man zunächst nichts. Als Owen seine Jugendliebe Liverpool 2004 nach 13 Jahren Vereinszugehörigkeit verlässt, hat er in 216 Pflichtspielen 118 Tore geschossen. Darunter zwei grandiose Treffer in den letzten sieben Minuten des FA-Cup-Endspiels 2001 gegen den FC Arsenal. Liverpool gewinnt mit 2:1. Im selben Jahr steht Owen in der Startelf beim sensationellen 5:4‑Finalerfolg seiner Mannschaft im UEFA-Cup gegen Deportivo Alaves. 2001 gibt es keinen spektakuläreren Stürmer als den jungen Briten. Vor Raul und Oliver Kahn wird er als erster Engländer seit Kevin Keegan zu „Europas Fußballer des Jahres“ gewählt. Im September 2001 schießt er drei Tore beim gefeierten 5:1‑Sieg gegen den Erzrivalen Deutschland. Er ist wie eine kleine, weiße, fußballspielende Version von Muhammad Ali: Er ist schnell wie ein Schmetterling und sticht wie eine Biene. So eiskalt ist Owen vor dem gegnerischen Tor, dass ihm angeborene Gefühlskälte attestiert wird. Er selbst sagt Jahre später: „Es stimmt, ich bin ein ziemlich emotionsloser Typ. Ich habe nur einmal geweint: Als mein Pferd ›Brown Panther‹ beim legendären Ascot-Pferderennen zum Sieg lief.“ 2004 wechselt Owen zu Real Madrid.
Schon im Frühjahr 2002 hatte Real-Mäzen Florentino Perez seine Fühler nach dem gefeierten Stürmer ausgestreckt. Die simple Begründung des „Galacticos“-Visionärs: „Owen ist einer der besten Spieler der Welt und die besten Spieler der Welt müssen bei Real Madrid spielen.“ Liverpool-Trainer Gerrard Houllier hatte sich zunächst vehement gegen den Wechsel gestemmt („Die können sich vielleicht Ronaldo leisten, aber nicht Michael Owen!“), aber was blieb dem armen Teufel auch anderes übrig? Für zwölf Millionen Euro holt sich Perez schließlich Owen in sein galaktisches Team. Ronaldo hatte zwei Jahre zuvor mehr als das Dreifache gekostet.
Als Owen den FC Liverpool verlässt um bei Real Madrid anzuheuern, ist er 24 Jahre alt. Bei anderen geht die Karriere da erst los. Aber Michael Owen, der Frühstarter, hat seinen Zenit bereits überschritten. Vor sechs Jahren hat er im Stade Geoffroy Guichard das Tor seines Lebens geschossen.
Newcastle bezahlt noch einmal 25 Millionen Euro Ablöse
Nach nur einem Jahr ist das Abenteuer Real Madrid für Owen beendet. Er ist immer noch ein herausragender Vollstrecker, er ist immer noch schneller als die meisten Abwehrspieler, ihm gelingen – zumeist als Joker – 14 Tore in 36 Saisoneinsätzen, aber gegen die Konkurrenten Ronaldo und Raul kann er sich auf Dauer nicht durchsetzen. Und immer wieder verhindern die gereizten Oberschenkelsehnen eine vollständige Rekonvaleszenz. Owen spürt, dass ihm die Zeit davonrennt. Er will weg. Mehrere Interessenten melden sich, darunter auch der FC Liverpool. Doch am Ende sticht Newcastle United mit einem spektakulären 25-Millionen-Euro-Angebot sämtliche Konkurrenten aus. Es folgen Jahre in der Bedeutungslosigkeit des englischen Fußballs. 2006 steht er zwar erneut im englischen WM-Kader, aber auch nur, weil Nationaltrainer Sven-Göran Eriksson die Alternativen fehlen. Im letzten Gruppenspiel gegen Schweden verdreht sich Owen in der ersten Minute das rechte Knie und muss ausgewechselt werden. Die Diagnose: Kreuzbandriss. Auch diese Verletzung ist eine langfristige Folge der ewigen Oberschenkelprobleme. Es ist der vorläufige Tiefpunkt im Karrieretal des einst so gefeierten Wunderjungen. Die Welt explodiert nicht mehr wegen Michael Owen. Die Welt hat jetzt nur noch Mitleid.
2009 endet die Episode Newcastle. Manchester United bietet Owen einen neuen Vertrag an, der Stürmer ist ablösefrei zu haben, Alex Ferguson setzt auf die Erfahrung und Joker-Qualitäten seines neuen Edelreservisten. Von der Bank aus kann Owen seinen Nachfolger beobachten: Wayne Rooney. Der war zwölf, als er den Sololauf seines späteren Mitspielers am Fernseher bestaunte. „Als Michael bei der WM 1998 das Tor gegen Argentinien machte“, erinnert sich Rooney, „war er die größte Figur im Weltfußball. Ich kann mich erinnern, dass ich immer Owen sein wollte, wenn wir auf der Straße gekickt haben.“ Der Schüler hat den Meister längst überholt. Während Rooney zum neuen englischen Nationalhelden aufsteigt, spielt Owen den getreuen Ersatzmann. Nach der Saison 2011/12 wird sein Vertrag nicht verlängert. Owen verlässt endgültig die große Bühne – und streift sich das Trikot von Stoke City über. Verletzungen, Formschwächen und jüngere Konkurrenten zwingen den Stürmer erneut in die Reservistenrolle.
Bevor er tatsächlich in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, hat Michael Owen jetzt die Reißleine gezogen. Auf seiner Homepage steht der Satz: „Meine Karriere hat mich auf eine Reise geführt, von der ich nur hätte träumen können.“ Eine Reise aus der Kleinstadt Chester nahe der walisischen Grenze, hin zum großen FC Liverpool und auf den Thron Europas. Eine Reise zwischen dem Stade Geoffroy Guichard und Real Madrid, dem UEFA-Cup-Sieg 2001 und der ersten Meisterschaft zehn Jahre später als Ersatzmann von Manchester United. Ein wahrlich beeindruckendes Abenteuer. Das jetzt zu Ende geht.