Viele Fans in der DDR träumten von der Bundesliga, für einige von ihnen endete die Begeisterung jedoch in einem Alptraum. In 11FREUNDE#138 erzählen wir von zwei besonderen Schicksalen.
Drei Stasi-Beamte jagten Steffen Andritzke durchs Paradies. Im gleichnamigen Jenaer Bahnhofsviertel, unweit des Ernst-Abbe-Sportfeldes, schlugen sich Fans aus Jena und Erfurt die Schädel ein, doch den Beamten war’s egal. Sie wollten den kleinen Rotzlöffel erwischen, der den Klassenfeind zur Schau stellte, indem er mit einer Borussia-Mönchengladbach-Kutte durch die Gegend spazierte. Der 15-jährige Steffen Andritzke konnte gerade noch entkommen. Im Jahr 1977 war das, und in der Bundesrepublik steuerte Mönchengladbach gerade unaufhaltsam auf den Gewinn der fünften Meisterschaft zu, während man auf der anderen Seite der deutsch-deutschen Grenze wie ein Krimineller behandelt wurde, wenn man sich als Fan eines Westvereins zu erkennen gab.
Die Bundesliga als Sehnsuchtsort zwischen all den politischen Betonköpfen
Die Bundesliga hatte in der DDR eine erstaunliche Strahlkraft. Sie war für die dortigen Fußballfans ein Sehnsuchtsort und galt den politischen Betonköpfen als Symbol des Klassenfeindes. Wer seinem Verein von drüben die Treue halten wollte, musste das heimlich tun oder die Konsequenzen tragen. Denn wer offen mit Bayern, Bremen oder Hamburg sympathisierte, wurde von der Stasi beschattet, verlor seinen Ausbildungsplatz, wurde verhaftet oder bekam etliche Stolperfallen in den Alltag gelegt, die sich das DDR-Regime für seine vermeintlich schwarzen Schafe ausgedacht hatte.
Steffen Andritzke, Jahrgang 1962, war noch ein Kind, als er das erstmals erfahren musste. Sein Vater schaute die Sportschau in der ARD – auch das war natürlich verboten – und Andritzke verguckte sich in Günter Netzers wilde Mähne genauso wie in dessen Verein vom unerreichbar fernen Niederrhein. Auf sein Federmäppchen malte der Schuljunge eine aufgehende Sonne und darüber den Namen seines neuen Lieblingsklubs. Für die Lehrer war das ein Skandal. In einer Mischung aus Verhör und sozialistischer PR-Stunde präsentierten die staatstreuen Erzieher ihrem verdutzten Schützling das Wappen des DDR-Vorzeigevereins Dynamo Dresden, um den Abweichler auf den Pfad der Tugend zurückzuführen. Selbstverständlich ohne Erfolg.
Mit der HSV-Kutte zum BFC-Spiel
Dem Brandenburger Karsten Armgardt, 1968 geboren, erging es ähnlich. Früher mit seinen Eltern und später, nach deren Scheidung im Kinderheim, tauchte er am Radio und vor dem Fernseher in die Traumwelt Bundesliga ein. Armgardt wurde Fan des Hamburger SV, doch das trügerische Schwarzweißfernsehen und die spärlichen Informationen über seinen neuen Lieblingsklub sorgten zunächst für ein Missverständnis: „Ich wusste, dass der HSV ›die Rothosen‹ genannt wurde, also bastelte ich mir meine eigene Kutte mit einer in Rot und Weiß gehaltenen HSV-Raute.“ Die sorgsam gehütete Weste mit dem Farbfehler, jahrelang nur vor dem Fernseher getragen, zog der 13-Jährige erstmals 1982 beim Europapokalspiel zwischen BFC Dynamo und dem HSV im Schutz der Hamburger Massen öffentlich über. Schon nach wenigen Metern wurde er von zwei Stasi-Männern verhaftet. Die Folge: Kutte weg, Fotoapparat weg, Spiel verpasst und die Erkenntnis, dass der HSV schon immer schwarz-weiß-blau war.
Die Not machte die Bundesliga-Liebhaber in der DDR erfinderisch. Karsten Armgardt erfuhr kurz nach dem Verlust seiner Kutte Marke Eigenbau von einer streng bewachten Müllhalde in Ketzin, wenige Kilometer westlich von Potsdam. Dort, so hieß es, lagere der Westen seinen Abfall. Auf dem Mofa eines Kumpels fuhr er in Ketzin vor. Von wegen Müll, eine Schatzinsel war das! Unter Bananenschalen und Orangenhälften vergrabene Produkte Made in West Germany. Unbemerkt von Wachhunden und Sicherheitskräften schaffte es der Teenager über den Stacheldrahtzaun auf den Müllberg und war erfolgreich: „Ich fand die ersten Adidas-Schuhe meines Lebens und stopfte zwei Rucksäcke voll mit Zeitschriften, Aufklebern und Fotos.“ Teile der anschließend sorgsam ausgeweideten „Kicker“-Ausgaben konnte Armgardt noch Jahre später für begehrte Aufnäher und sogar Westgeld auf den heimlichen Sammlerbörsen in den Stadien der DDR eintauschen.
„Stundenlang verhörten sie mich in einem Keller“
Der in Weimar geborene Andritzke tauchte sogar noch tiefer in die geheimnisvolle Zwischenwelt der Bundesliga-Exilanten ein. Über einen Freund aus Dresden, auch der Gladbach-Fan, lernte er Mitte der Achtziger Theo Weiss kennen, einen in Berlin lebenden Studenten mit engen Beziehungen in die Gladbacher Fanszene. Weiss besuchte seine neuen Freunde in Dresden. Mit einer Helmut-Kohl-Karikatur auf der Motorhaube seines abgefahrenen Mercedes-Benz und Whisky im Kofferraum. Die feuchtfröhliche Willkommensparty samt durch die Dresdener Nacht gebrüllter Gladbach-Hymnen wurde in den Akten der Stasi dokumentiert. Als sich Weiss am nächsten Tag kurz vor dem Grenzübergang in Hof von seinem neuen Kumpel verabschiedete, griffen die Polizisten zu. „Stundenlang verhörten sie mich anschließend in einem Keller in Hermsdorf, um mich über meine Freunde aus dem Westen auszufragen“, erinnert sich Andritzke. Was mit unschuldiger Begeisterung für Günter Netzer begonnen hatte, wurde nach den immer regelmäßigeren Zusammenstößen mit der Staatsgewalt zu mehr: „Die Borussia wurde für mich zu einem Symbol der Freiheit.“
Doch wie geht einer damit um, für seine Liebe zum Fußball verfolgt und bestraft zu werden? Karsten Armgardt schaffte es vergleichsweise unbeschadet durch die Jahre bis zur Wiedervereinigung, Steffen Andritzke wählte die radikale Variante. Er stellte einen Ausreiseantrag. Weil er außerdem den Wehrdienst verweigerte, wurde ihm eine höhere schulische Ausbildung verwehrt und er noch 1988 als Bausoldat rekrutiert. Andritzke schloss sich der gewaltbereiten Fanszene von Carl Zeiss Jena an und prügelte sich mit der Polizei und anderen Fußballrowdys. Wenn gegnerischen Fans Mönchengladbach-Devotionalien abgezogen wurden, bekam sie selbstverständlich er. „Dieser Staat hat systematisch mein Leben zerstören wollen – weil ich Fan von Borussia Mönchengladbach war“, sagt Andritzke heute. „Ich hatte einen solchen Hass auf die DDR, den musste ich irgendwie loswerden.“
Der Konfrontationskurs sorgte kurz vor dem Ende der DDR für einen kuriosen Zwischenfall. Im Frühjahr 1989 schuftete Andritzke im Bausoldaten-Lager von Züllsdorf, mitten im brandenburgischen Nirgendwo. „Ich hatte mir ausgerechnet, dass die Rückrunde der Bundesliga am 11. Februar 1989 beginnen müsste, rannte zur Sportschau-Zeit einfach in den Fernsehraum, riss die Sicherheitsverkleidung vor dem Sendersuchlauf ab und schaltete auf ARD um.“ Das war ein schwerer Verstoß gegen die Vorschriften, aber auch eine große Genugtuung. Doch: „Ich hatte mich um eine Woche vertan.“ Im Januar 1990 wurde Andritzke aus dem Dienst entlassen. Schon im Februar zog er zu einer Freundin nach Hamburg. Bloß weg. Neun Monate später war die DDR Geschichte.
„Wenn die Mauer mal weg sein sollte, dann stehst du einen Tag später im Volksparkstadion!“
HSV-Fan Karsten Armgardt blieb im Osten und gründete 1997 einen Fanklub. „Ich habe mir immer gesagt: Wenn die Mauer mal weg sein sollte, dann stehst du einen Tag später im Volksparkstadion!“ Doch die Familie, der Hausbau und ein neuer Job machten diesem Plan einen Strich durch die Rechnung. Seinen HSV begleitete er jahrelang nur zu Auswärtsspielen. Schon komisch: Da träumt einer sein Leben lang von seinem Klub und braucht doch elf Jahre, um ihn endlich bei einem Heimspiel bewundern zu können. Als es Karsten Armgardt 2001 endlich schaffte, war aus dem Volksparkstadion bereits die AOL-Arena geworden.
Steffen Andritzke erlebte seine ganz persönliche Wende am 24. Februar 1990 beim Gladbacher Heimspiel gegen Werder Bremen. Obwohl er das erste Mal am Bökelberg auftauchte, hieß ihn eine ganze Fanszene willkommen. Die Geschichte des Bundesligafans, der seinem Klub trotz staatlicher Repressalien die Treue gehalten hatte, hatte sich rumgesprochen. „In den Kneipen um den Bökelberg wurde ich herumgereicht wie ein Wanderpokal, jeder wollte mir einen ausgeben. Als das Spiel schließlich begann, war ich völlig besoffen. Aber endlich frei.“
Heute leitet der Ex-Hool eine Kung-Fu-Schule
Seinem Selbstverständnis als Staatsfeind blieb er zunächst dennoch treu. Bis in die Nullerjahre hinein prügelte er sich mit Gladbacher Hooligans durch die Lande. Erst das Alter und eine neue Leidenschaft zerstreuten den Hass. Heute lebt Andritzke in der Nähe von Mönchengladbach und bietet als Kung-Fu-Trainer im Verein „Halbstark“ gewaltbereiten Jugendlichen im Gladbacher Fußballumfeld Selbstverteidigungskurse und fernöstliche Meditationen an. Ende des Jahres soll seine Biografie „Kulturstadtbanause“ erscheinen. Ein neues Leben, das aus dem alten lernen will.