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Drei Stasi-Beamte jagten Steffen Andritzke durchs Para­dies. Im gleich­na­migen Jenaer Bahn­hofs­viertel, unweit des Ernst-Abbe-Sport­feldes, schlugen sich Fans aus Jena und Erfurt die Schädel ein, doch den Beamten war’s egal. Sie wollten den kleinen Rotz­löffel erwi­schen, der den Klas­sen­feind zur Schau stellte, indem er mit einer Borussia-Mön­chen­glad­bach-Kutte durch die Gegend spa­zierte. Der 15-jäh­rige Steffen Andritzke konnte gerade noch ent­kommen. Im Jahr 1977 war das, und in der Bun­des­re­pu­blik steu­erte Mön­chen­glad­bach gerade unauf­haltsam auf den Gewinn der fünften Meis­ter­schaft zu, wäh­rend man auf der anderen Seite der deutsch-deut­schen Grenze wie ein Kri­mi­neller behan­delt wurde, wenn man sich als Fan eines West­ver­eins zu erkennen gab.

Die Bun­des­liga als Sehn­suchtsort zwi­schen all den poli­ti­schen Beton­köpfen

Die Bun­des­liga hatte in der DDR eine erstaun­liche Strahl­kraft. Sie war für die dor­tigen Fuß­ball­fans ein Sehn­suchtsort und galt den poli­ti­schen Beton­köpfen als Symbol des Klas­sen­feindes. Wer seinem Verein von drüben die Treue halten wollte, musste das heim­lich tun oder die Kon­se­quenzen tragen. Denn wer offen mit Bayern, Bremen oder Ham­burg sym­pa­thi­sierte, wurde von der Stasi beschattet, verlor seinen Aus­bil­dungs­platz, wurde ver­haftet oder bekam etliche Stol­per­fallen in den Alltag gelegt, die sich das DDR-Regime für seine ver­meint­lich schwarzen Schafe aus­ge­dacht hatte.

Steffen Andritzke, Jahr­gang 1962, war noch ein Kind, als er das erst­mals erfahren musste. Sein Vater schaute die Sport­schau in der ARD – auch das war natür­lich ver­boten – und Andritzke ver­guckte sich in Günter Net­zers wilde Mähne genauso wie in dessen Verein vom uner­reichbar fernen Nie­der­rhein. Auf sein Feder­mäpp­chen malte der Schul­junge eine auf­ge­hende Sonne und dar­über den Namen seines neuen Lieb­lings­klubs. Für die Lehrer war das ein Skandal. In einer Mischung aus Verhör und sozia­lis­ti­scher PR-Stunde prä­sen­tierten die staats­treuen Erzieher ihrem ver­dutzten Schütz­ling das Wappen des DDR-Vor­zei­ge­ver­eins Dynamo Dresden, um den Abweichler auf den Pfad der Tugend zurück­zu­führen. Selbst­ver­ständ­lich ohne Erfolg.

Mit der HSV-Kutte zum BFC-Spiel

Dem Bran­den­burger Karsten Arm­gardt, 1968 geboren, erging es ähn­lich. Früher mit seinen Eltern und später, nach deren Schei­dung im Kin­der­heim, tauchte er am Radio und vor dem Fern­seher in die Traum­welt Bun­des­liga ein. Arm­gardt wurde Fan des Ham­burger SV, doch das trü­ge­ri­sche Schwarz­weiß­fern­sehen und die spär­li­chen Infor­ma­tionen über seinen neuen Lieb­lings­klub sorgten zunächst für ein Miss­ver­ständnis: Ich wusste, dass der HSV ›die Rot­hosen‹ genannt wurde, also bas­telte ich mir meine eigene Kutte mit einer in Rot und Weiß gehal­tenen HSV-Raute.“ Die sorgsam gehü­tete Weste mit dem Farb­fehler, jah­re­lang nur vor dem Fern­seher getragen, zog der 13-Jäh­rige erst­mals 1982 beim Euro­pa­po­kal­spiel zwi­schen BFC Dynamo und dem HSV im Schutz der Ham­burger Massen öffent­lich über. Schon nach wenigen Metern wurde er von zwei Stasi-Män­nern ver­haftet. Die Folge: Kutte weg, Foto­ap­parat weg, Spiel ver­passt und die Erkenntnis, dass der HSV schon immer schwarz-weiß-blau war.

Die Not machte die Bun­des­liga-Lieb­haber in der DDR erfin­de­risch. Karsten Arm­gardt erfuhr kurz nach dem Ver­lust seiner Kutte Marke Eigenbau von einer streng bewachten Müll­halde in Ketzin, wenige Kilo­meter west­lich von Potsdam. Dort, so hieß es, lagere der Westen seinen Abfall. Auf dem Mofa eines Kum­pels fuhr er in Ketzin vor. Von wegen Müll, eine Schatz­insel war das! Unter Bana­nen­schalen und Oran­gen­hälften ver­gra­bene Pro­dukte Made in West Ger­many. Unbe­merkt von Wach­hunden und Sicher­heits­kräften schaffte es der Teen­ager über den Sta­chel­draht­zaun auf den Müll­berg und war erfolg­reich: Ich fand die ersten Adidas-Schuhe meines Lebens und stopfte zwei Ruck­säcke voll mit Zeit­schriften, Auf­kle­bern und Fotos.“ Teile der anschlie­ßend sorgsam aus­ge­wei­deten Kicker“-Ausgaben konnte Arm­gardt noch Jahre später für begehrte Auf­näher und sogar West­geld auf den heim­li­chen Samm­ler­börsen in den Sta­dien der DDR ein­tau­schen.

Stun­den­lang ver­hörten sie mich in einem Keller“

Der in Weimar gebo­rene Andritzke tauchte sogar noch tiefer in die geheim­nis­volle Zwi­schen­welt der Bun­des­liga-Exi­lanten ein. Über einen Freund aus Dresden, auch der Glad­bach-Fan, lernte er Mitte der Acht­ziger Theo Weiss kennen, einen in Berlin lebenden Stu­denten mit engen Bezie­hungen in die Glad­ba­cher Fan­szene. Weiss besuchte seine neuen Freunde in Dresden. Mit einer Helmut-Kohl-Kari­katur auf der Motor­haube seines abge­fah­renen Mer­cedes-Benz und Whisky im Kof­fer­raum. Die feucht­fröh­liche Will­kom­mens­party samt durch die Dres­dener Nacht gebrüllter Glad­bach-Hymnen wurde in den Akten der Stasi doku­men­tiert. Als sich Weiss am nächsten Tag kurz vor dem Grenz­über­gang in Hof von seinem neuen Kumpel ver­ab­schie­dete, griffen die Poli­zisten zu. Stun­den­lang ver­hörten sie mich anschlie­ßend in einem Keller in Herms­dorf, um mich über meine Freunde aus dem Westen aus­zu­fragen“, erin­nert sich Andritzke. Was mit unschul­diger Begeis­te­rung für Günter Netzer begonnen hatte, wurde nach den immer regel­mä­ßi­geren Zusam­men­stößen mit der Staats­ge­walt zu mehr: Die Borussia wurde für mich zu einem Symbol der Frei­heit.“

Doch wie geht einer damit um, für seine Liebe zum Fuß­ball ver­folgt und bestraft zu werden? Karsten Arm­gardt schaffte es ver­gleichs­weise unbe­schadet durch die Jahre bis zur Wie­der­ver­ei­ni­gung, Steffen Andritzke wählte die radi­kale Vari­ante. Er stellte einen Aus­rei­se­an­trag. Weil er außerdem den Wehr­dienst ver­wei­gerte, wurde ihm eine höhere schu­li­sche Aus­bil­dung ver­wehrt und er noch 1988 als Bau­soldat rekru­tiert. Andritzke schloss sich der gewalt­be­reiten Fan­szene von Carl Zeiss Jena an und prü­gelte sich mit der Polizei und anderen Fuß­ball­rowdys. Wenn geg­ne­ri­schen Fans Mön­chen­glad­bach-Devo­tio­na­lien abge­zogen wurden, bekam sie selbst­ver­ständ­lich er. Dieser Staat hat sys­te­ma­tisch mein Leben zer­stören wollen – weil ich Fan von Borussia Mön­chen­glad­bach war“, sagt Andritzke heute. Ich hatte einen sol­chen Hass auf die DDR, den musste ich irgendwie los­werden.“

Der Kon­fron­ta­ti­ons­kurs sorgte kurz vor dem Ende der DDR für einen kuriosen Zwi­schen­fall. Im Früh­jahr 1989 schuf­tete Andritzke im Bau­sol­daten-Lager von Zülls­dorf, mitten im bran­den­bur­gi­schen Nir­gendwo. Ich hatte mir aus­ge­rechnet, dass die Rück­runde der Bun­des­liga am 11. Februar 1989 beginnen müsste, rannte zur Sport­schau-Zeit ein­fach in den Fern­seh­raum, riss die Sicher­heits­ver­klei­dung vor dem Sen­der­such­lauf ab und schal­tete auf ARD um.“ Das war ein schwerer Ver­stoß gegen die Vor­schriften, aber auch eine große Genug­tuung. Doch: Ich hatte mich um eine Woche vertan.“ Im Januar 1990 wurde Andritzke aus dem Dienst ent­lassen. Schon im Februar zog er zu einer Freundin nach Ham­burg. Bloß weg. Neun Monate später war die DDR Geschichte.

Wenn die Mauer mal weg sein sollte, dann stehst du einen Tag später im Volks­park­sta­dion!“

HSV-Fan Karsten Arm­gardt blieb im Osten und grün­dete 1997 einen Fan­klub. Ich habe mir immer gesagt: Wenn die Mauer mal weg sein sollte, dann stehst du einen Tag später im Volks­park­sta­dion!“ Doch die Familie, der Hausbau und ein neuer Job machten diesem Plan einen Strich durch die Rech­nung. Seinen HSV beglei­tete er jah­re­lang nur zu Aus­wärts­spielen. Schon komisch: Da träumt einer sein Leben lang von seinem Klub und braucht doch elf Jahre, um ihn end­lich bei einem Heim­spiel bewun­dern zu können. Als es Karsten Arm­gardt 2001 end­lich schaffte, war aus dem Volks­park­sta­dion bereits die AOL-Arena geworden.

Steffen Andritzke erlebte seine ganz per­sön­liche Wende am 24. Februar 1990 beim Glad­ba­cher Heim­spiel gegen Werder Bremen. Obwohl er das erste Mal am Bökel­berg auf­tauchte, hieß ihn eine ganze Fan­szene will­kommen. Die Geschichte des Bun­des­li­gafans, der seinem Klub trotz staat­li­cher Repres­sa­lien die Treue gehalten hatte, hatte sich rum­ge­spro­chen. In den Kneipen um den Bökel­berg wurde ich her­um­ge­reicht wie ein Wan­der­pokal, jeder wollte mir einen aus­geben. Als das Spiel schließ­lich begann, war ich völlig besoffen. Aber end­lich frei.“

Heute leitet der Ex-Hool eine Kung-Fu-Schule

Seinem Selbst­ver­ständnis als Staats­feind blieb er zunächst den­noch treu. Bis in die Nuller­jahre hinein prü­gelte er sich mit Glad­ba­cher Hoo­li­gans durch die Lande. Erst das Alter und eine neue Lei­den­schaft zer­streuten den Hass. Heute lebt Andritzke in der Nähe von Mön­chen­glad­bach und bietet als Kung-Fu-Trainer im Verein Halb­stark“ gewalt­be­reiten Jugend­li­chen im Glad­ba­cher Fuß­ball­um­feld Selbst­ver­tei­di­gungs­kurse und fern­öst­liche Medi­ta­tionen an. Ende des Jahres soll seine Bio­grafie Kul­tur­stadt­ba­nause“ erscheinen. Ein neues Leben, das aus dem alten lernen will.