Bosnien-Herzegowina fährt erstmals zur Weltmeisterschaft. Dank des erlösenden Tores von Vedad Ibisevic gegen Litauen hat das Land das Ticket für Brasilien gelöst – und kann mit dem historischen Erfolg vielleicht auch die zersplitterte Nation einen.
Die erstmalige Qualifikation für ein großes Fußballturnier hat das ganze Land in Ekstase versetzt: In der Nacht auf Mittwoch schien es fast so, als hätten sich in Bosnien-Herzegowina die ethnischen Grenzen in Luft aufgelöst. Stolz war das vorherrschende Gefühl. Stolz auf eine Nationalmannschaft, die dem Druck stand hielt und mit einem 1:0‑Sieg in Litauen das Ticket für Brasilien löste. Stolz aber auch auf ein Land, das eigentlich nur wenig Grund zu ausgelassener Freude gibt, aber jetzt in (Fußball-) Europa endgültig angekommen ist.
Es waren unbeschreibliche Szenen, die unter die Haut gingen. In den Straßen der Städte lagen sie sich in den Armen, Jung und Alt feierten, zündeten Bengalos, Autokorsos kündeten vom großen Triumph. Es gab wohl nur wenige der 4,6 Millionen Menschen in diesem Land, denen dieses Fußballspiel egal war, Familien versammelten sich im Nationaltrikot vor den Fernsehschirmen oder in den Kneipen. Im Stadion von Zenica, wo die Nationalmannschaft ihre Heimspiele austrägt, trafen sich 6.000 Fans zum Public viewing, in der Altstadt von Sarajevo gab es nach der 68. Minute, als Bundesliga-Profi Vedad Ibišević das erlösende 1:0 erzielte, kaum noch ein Durchkommen. Wenige Stunden später war zu spüren, wie sich der ganze Druck, die Anspannung einer langen und nervenaufreibenden Quali-Saison, endlich in Freude verwandelte, nachdem Kapitän Emir Spahić den Fans in Sarajevo zurief: „Wir haben es euch versprochen und wir haben dieses Versprechen gehalten.“
5.000 Bosnier in Kaunas
Der Druck war riesig, die Erwartungshaltung in der Heimat immens. Entsprechend nervös, gar verkrampft ging das Team in die Partie, die dank der rund 5.000 Bosnier aus ganz Europa zu einem Heimspiel wurde. Schon vorher waren sich alle einig: Es wird das schwerste Spiel der letzten Jahre – und eines der wichtigsten in der noch jungen Geschichte des Landes. Edin Džeko, mit zehn Treffern der erfolgreichste Torschütze der Bosnier in der WM-Qualifikation, fasste den Stolz einer ganzen Nation zusammen: „Lasst uns nach Brasilien reisen, um allen zu zeigen, wie mächtig Bosnien-Herzegowina ist.“
Das Spiel in Kaunas war symptomatisch für die Quali-Saison der Bosnier. Denn die Nummer 18 der FIFA-Weltrangliste hat sich von Beginn an unwohl gefühlt in dieser schwach besetzten WM-Qualifikationsgruppe G, in der man eigentlich nur verlieren konnte. Und als nach dem 3:1‑Heimerfolg im März gegen den ärgsten Widersacher Griechenland die Fans bereits die brasilianischen Urlaubsprospekte wälzten, bekam es Nationaltrainer Safet Sušić mit der Angst zu tun: „Nach diesem hervorragenden Resultat wird uns niemand verzeihen, wenn wir die Qualifikation jetzt noch aus der Hand geben.“ Anfang September, Bosnien-Herzegowina unterlag zuhause gegen die Slowakei mit 1:2, hatte sich der Vorsprung in der Tabelle in Luft aufgelöst, die beiden letzten Spiele mussten die Entscheidung bringen.“
Hoffnung gab vor dem Showdown vor allem die herausragende Offensivabteilung. Die Griechen waren in punkto Tordifferenz bereits so weit ins Hintertreffen geraten, dass die Bosnier lediglich ihre beiden ausstehenden Spiele gegen Liechtenstein und in Litauen gewinnen mussten. In einem Land, das in den vergangenen Jahren wenig Grund zu ausgelassener Freude hatte, geriet der Endspurt in der WM-Qualifikation nicht nur zu einer sportlichen Herausforderung, sondern zu einer nationalen Aufgabe.
Sie wurde gelöst. Und stürzte das Land in einen Freudentaumel. Nach der Rückkehr am Mittwochmorgen um kurz vor zwei auf dem Flughafen in Sarajevo und der Fahrt im blau-gelb geschmückten Doppeldeckerbus feierte das Team auf dem Balkon vor dem „Ewigen Feuer“ gemeinsam mit den Fans den historischen Triumph. Zu dieser Zeit war die Altstadt in Sarajevo, die für Passanten unmerklich vom katholischen in den muslimischen Teil übergeht, eine einzige Partymeile. „Endlich“, schrien sie lautstark in den Nachthimmel, „endlich haben wir es geschafft“. Zehntausende feierten bis in die Morgenstunden bei bosnischer Livemusik den denkwürdigen Tag, der ausgerechnet auf Bajram, das muslimische Weihnachtsfest, fiel.
Tief saß der Schmerz noch vor vier Jahren, als die Drachen, die Zmajevi, wie sie hier genannt werden, erst in den Play-offs gegen Portugal die WM-Teilnahme verpassten. Mit dem neuen Trainer Safet Sušić, der im Januar 2010 Miroslav Blažević ablöste, sollte sich die „goldene Generation“ wenigstens für die Europameisterschaft 2012 qualifizieren. Wieder ging es in die Relegation, wieder hieß der Gegner Portugal – und wieder hatten die Bosnier das Nachsehen. Doch der Verband folgte nicht etwa neuerlich dem eingeübten Reflex einer Neubesetzung auf dem Trainerstuhl, sondern sprach dem Fußball-Idol, das bei Paris Saint-Germain in den 1980er Jahren zum wohl besten bosnischen Fußballer aller Zeiten avancierte, das Vertrauen aus.
Misimovic erleichtert: „Das war meine letzte Chance!“
Sušić enttäuschte die Verbandsoberen nicht. Er selbst vertraute dabei auf einen starken Bundesliga-Block. Im entscheidenden Spiel am Dienstag in Kaunas standen neben dem Leverkusener Spahić und Stuttgart-Profi Ibišević mit Sejad Salihović (TSG 1899 Hoffenheim) und Ermin Bičakčić (Eintracht Braunschweig) zwei weitere Bundesliga-Legionäre in der Startaufstellung, Adnan Zahirović (VfL Bochum) kam in den letzten 20 Minuten. Alte Bekannte sind auch Edin Džeko (Manchester City) und Zvjezdan Misimović (Guizhou Renhe/China), die gemeinsam 15 der insgesamt 30 bosnischen Tore in der Quali erzielten. Misimović, immerhin schon 31, sagte nach dem Spiel in Kaunas erleichtert: „Das war meine letzte Chance, ein großes Turnier zu erreichen.“ Und noch ein früherer Bundesligaspieler zählt zum bosnischen Team: Tomislav Piplica, neun Jahre lang als Torwart in Diensten von Energie Cottbus, fungiert als Co-Trainer.
Die bosnische Nationalmannschaft kann die politischen Verhältnisse in einem Land, das seit dem Friedensvertrag von Dayton 1995 in zwei „Entitäten“, der Bosniakisch-kroatischen Föderation und der Serbischen Republik (Republika Srpska), geteilt ist, nicht grundlegend verändern. Doch trotz der auch heute noch anzutreffenden Feindseligkeit zwischen den drei konstitutiven Volksgruppen ist der Stolz auf die Mannschaft in den letzten Jahren stetig gewachsen. Dabei galt das Nationalteam lange Zeit als eine Sache der Bosniaken (Muslime), die Kroaten und die Serben orientierten sich – nicht nur was den Fußball betrifft – eher nach Zagreb und Belgrad.
Von Beginn an haben sich auch Politiker in den bosnischen Fußball eingemischt. Analog zum dreiköpfigen Staatspräsidium mit Vertretern der Bosniaken, Kroaten und Serben, die sich alle acht Monate mit dem Vorsitz abwechseln, war auch das Präsidium des bosnischen Fußballverbandes organisiert. Für die Uefa und die Fifa war das ein Dorn im Auge, im März 2011 wurde das Team deshalb vorübergehend suspendiert. Nach langen Verhandlungen zwischen den einzelnen Interessenvertretern einigte man sich auf einen Präsidenten und ein 15 Mitglieder starkes Exekutivkomitee mit je fünf Vertretern aus den einzelnen Volksgruppen. In Bosnien durfte daraufhin auch international wieder Fußball gespielt werden.
Schon einmal bekamen sich die Anhänger der unterschiedlichen Nationalitäten in die Haare. Einige Spieler waren 2007 der Meinung, dass bei der Nominierung weniger Wert auf die spielerischen Fähigkeiten als auf die Nationalität gelegt werde und der Vorstand sich zu sehr in die Angelegenheiten des Trainers einmische. 13 Spieler boykottierten zwischenzeitlich die bosnische Nationalmannschaft, acht von ihnen konnten zum Weitermachen überredet werden.
„Wir spielen für alle Kinder in Gesamt-Bosnien“
Dass die Mannschaft inzwischen zu einer Einheit zusammengewachsen ist, beweist ein kleines Beispiel aus dem Juni 2013: Vor dem WM-Qualifikationsspiel in Lettland schlüpften die Spieler in Shirts mit dem Aufdruck „JMBG“, dem amtlichen Kürzel für die Personalidentifikationsnummer, um ihre Solidarität mit einem vier Monate alten Baby zu bekunden. Es ging um Belmina Ibrišević, die dringend eine Knochenmarktransplantation in Deutschland benötigte, jedoch nicht ausreisen durfte, da sich das bosnische Parlament nicht auf eine landesweite Personalidentifikationsnummer einigen konnte. Rechtlich gesehen existierten deshalb einige Kinder überhaupt nicht. Tausende wütende Demonstranten zogen – teils mit Kinderwagen und Schnuller – vor das Parlament in Sarajevo und blockierten die Zugänge. Die Nationalspieler solidarisierten sich, wollten damit auch den Politikern klarmachen, dass sich das Volk nicht einfach in Ethnen und Entitäten spalten lässt. Edin Džeko versprach damals: „Wir spielen für alle Kinder in Gesamt-Bosnien. Heute Abend sind wir alle kleine Belminas.“ Bosnien gewann an diesem Tag 5:0 in Lettland.
Ein Jahr nach dieser bemerkenswerten Aktion wird die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien starten. Mit Bosnien-Herzegowina, dem stolzen Debütanten. Kaum jemand in diesem Land wird dann trennen zwischen Bosniaken, Kroaten und Serben. Sie werden ihre Mannschaft nach vorne treiben, anfeuern – und sie werden vielleicht wieder gemeinsam feiern, in den Straßen von Sarajevo, Zenica oder Tuzla. Spätestens dann wird deutlich, wie sehr der Fußball die Menschen und ein Stück weit auch die Politik verändern kann.