15. Juni 1974
Es ist 18 Uhr, als Schiedsrichter Vicente Llobregat aus Venezuela im Münchener Olympiastadion die Partie zwischen Italien und Haiti anpfeift. Im Tor der Italiener steht Dino Zoff. Eine Erscheinung zwischen den Pfosten, ein Weltklassemann. Seit 1100 Minuten ohne Gegentor. Im Tor der Haitianer steht Henri Francillon. Ihn kennt außerhalb von Haiti kein Mensch. In Port-au-Prince, Haitis Hauptstadt, sitzen die Menschen vor dem Fernseher oder haben die Ohren am Radio. Die Arbeiter von Francillons Import-Exportfirma drücken ihrem Chef die Daumen. Für die ebenso überraschende wie sensationelle Qualifikation zur ersten WM-Teilnahme Haitis überhaupt, hat Diktator Jean Claude Duvalier, genannt „Baby Doc“, den Nationalspielern eigene Firmen und Fabriken geschenkt.
Das Spiel beginnt. 51.000 Zuschauer wollen sich das Spektakel WM-Favorit gegen unbekannten Außenseiter ansehen. Die Italiener lassen den Ball durch die eigenen Reihen laufen. Spinosi, Burgnich, Facchetti, Mazzola, Capello, Rivera, Riva – eine Welt-Auswahl ist das, wenn auch etwas in die Jahre gekommen. 1970 besiegte ein Großteil dieser Mannschaft Deutschland im Jahrhundertspiel bei der WM in Mexiko und scheiterte erst im Finale gegen Pelés Brasilien. Spieler, Fans und Medien erwarten einen hohen Sieg gegen die No-names aus Haiti.
Die erste halbe Stunde ist vorbei. Noch immer steht es 0:0. Warum? Weil im Tor der Haitianer ein Wahnsinniger steht, ein Hexenmeister aus der Karibik. Henri Francillon macht das Spiel seines Lebens. Luigi Riva und Gianni Rivera haben es versucht, sogar mehrmals. Ohne Erfolg. Giorgio Chinaglia, der bullige italienische Mittelstürmer hat geköpft, geschossen, geschlenzt und ist doch immer wieder an Henri Francillon gescheitert. Die Zuschauer in München sind völlig aus dem Häusschen, jede Parade und jede Ballberührung von Francillon wird frenetisch gefeiert. Die Weltmeisterschaft 1974 hat ihren ersten Superstar.
19.45 Uhr, Llobregat beendet das Spiel mit einem lauten Pfiff, den Zeigefinger der rechten Hand Richtung Himmel gestreckt. Doch für ein echtes Wunder von oben hat es für Haiti nicht gereicht. Italien hat mit 3:1 gewonnen, irgendwann wusste auch Francillon kein Mittel mehr gegen die wütenden Angriffe des amtierenden Vize-Weltmeisters. Die Sensation ist dennoch perfekt: Gleich zu Beginn der zweiten Halbzeit hatte Emmanuel Sannon Italiens Torwart Dino Zoff umkurvt und zur 1:0‑Führung getroffen. Der einmalige Rekord des Schlussmanns ist nach exakt 1147 Minuten gebrochen. Von Haitis neuem Nationalheld Emmanuel Sannon.
Juni 1974
Der große Star für die deutsche Öffentlichkeit ist allerdings Henri Francillon. In München bricht in den Tagen nach dem Spiel ein regelrechter Henri-Hype aus. Francillons spektakuläre Flugeinlagen, sein Exotenstatus als Haitianer und das sympathische Image des Underdogs, der sich gegen die auf Sieg gedrillten Maschinen aus Italien gestemmt hat, machen aus dem bis dato unbekannten Torwart einen Münchener Fußball-Liebling. Da stört es auch nicht, dass Haiti vier Tage nach der Niederlage gegen Italien mit 0:7 gegen Polen verliert und auch im letzten Gruppenspiel gegen Argentinien (1:4) ohne Chance ist. Francillons Auftritt gegen die „Squadra Azzurra“ bleibt in den Köpfen hängen.
Auch bei 1860 München macht man sich so seine Gedanken über den Torwart aus der Karibik. Seit dem Bundesligaabstieg 1970 sind die „Löwen“ nur noch zweitklassig, für die neue Saison, der ersten Spielzeit in der neu gegründeten zweigleisigen 2. Bundesliga, sucht der Klub noch eine prominente Verstärkung auf der Torhüterposition. Seit dem Weggang von Vereinsikone Petar Radenkovic hat niemand die vakante Stelle zwischen den Pfosten adäquat ausfüllen können. Mit Henri Francillon, der WM-Überraschung, glauben die 1860-Entscheider, ist endlich ein würdiger Nachfolger für den auch als Publikumsmagneten so wichtigen Radenkovic gefunden. Abteilungsleiter Walter Kraus bekommt den Auftrag, Kontakt aufzunehmen. Der Münchener Steuerbevollmächtigte Kurt Renner, während der WM Mannschaftsbetreuer Haitis, ist der ideale Verbindungsmann.
25. Juni 1974
Die erste Finalrunde der WM ist beendet. Haiti ist als Letzter der Gruppe 4 gemeinsam mit Italien ausgeschieden. Zwei Tage nach dem letzten Spiel der Haitianer gegen Argentinien trifft sich im Münchener „Café Betthupferl“ (Besitzer ist 1860-Trainer Max Merkel) eine illustre Runde: Torwart Henri Francillon in Begleitung seines Nationaltrainers (und Übersetzers) Antoine Tassy auf der einen Seite und „Löwen“-Trainer Max Merkel mit Abteilungsleiter Walter Kraus. Die „Münchener Abendzeitung“ fasst die Ergebnisse des Treffens zusammen: „Mit folgenden Konditionen erklärte sich Francillon schließlich einverstanden: Er erhält ein monatliches Bruttogehalt in Höhe von 2000 Mark. Zusätzlich ist eine Siegprämie vereinbart. Außerdem gibt es eine Leistungsprämie von 750 Mark pro Einsatz. Sie wird am 30. Juni 1975 ausbezahlt.“ Später am Tag, gegen 18 Uhr, setzt Francillon schließlich in der Sportschule Grünwald seine Unterschrift unter den Vertrag und wird der erste Haitianer in der Geschichte des deutschen Fußballs. Ein historischer Transfer, der dem Münchener Zweitligist mitten in der heißen Phase der Weltmeisterschaft landesweit Schlagzeilen beschert. Walter Kraus reibt sich die Hände: „Mit dieser Verpflichtung sind wir keinerlei Risiko eingegangen!“ Und Max Merkel sagt: „Francillon ist sicher ein Talent – nur deutsch lernen muss er halt.“ Zusätzlich verpflichten die Münchener einen gewissen Bernhard Hartmann von Westfalia Herne.
8. Juli 1974
Deutschland ist Weltmeister! Der 2:1‑Sieg im Finale gegen Holland hat das Land in einen Ausnahmezustand versetzt. Am Tag nach dem Endspiel wartet am Flughafen München-Riem eine kleine Delegation auf die Ankunft des von den Medien bereits zum „Panther von Haiti“ erklärten Neuzugangs. Walter Kraus und 1860-Ehrenpräsident Adalbert Wetzel nehmen Henri Francillon in Empfang und bringen ihn in die Wohnung von Haitis WM-Betreuer Kurt Renner.
29. Juli 1974
„Die Lieben aus Haiti sind da!“ titelt die „Münchener Abendzeitung“. In Riem sind Francillons Frau Chantal und sein eineinhalbjähriger Sohn Henri junior gelandet. Mit dabei: das „pechschwarze Mädchen“ Jeanne, von Francillons hochschwangerer Gattin vorsorglich als Kindermädchen engagiert. Die Reisegruppe soll zunächst im Hause Renner unterkommen, dann allerdings ein eigenes Haus beziehen. Frau Renner, von mütterlichen Gefühlen übermannt, hat bereits eine Sammelaktion bei den Nachbarn gestartet: Kinderwagen, Babywäsche, Spielzeug – den Neulingen aus Haiti soll es an nichts fehlen. „Zuerst fange ich mit einem Deutschkurs an, den ich nach der Geburt des zweiten Kindes gemeinsam mit meiner Frau mache“, lässt sich der Torwart zitieren und bestätigt außerdem das Gerücht, er wolle demnächst einen Nebenjob antreten, um zusätzlich Geld in die Familienkasse zu erwirtschaften: Als Verkäufer in einem Plattenladen.
7. August 1974
Die Woche nach dem 1. Spieltag. 1860 hat gegen Abstiegskandidat Wormatia Worms mit 0:1 verloren. Im Tor stand Bernhard Hartmann, Henri Francillon, als Stammkraft geholt, saß nur auf der Bank. Jetzt erfährt die „Bild“-Zeitung: „Ich laufe seit zwei Monaten mit einer angebrochenen rechten Hand herum. Schon vor der WM hatte ich kein Gefühl mehr drin!“ Die Francillons wohnen inzwischen in einer Sieben-Zimmer-Wohnung in München-Solln. 120 qm Wohnfläche, 1000 qm Garten. Die monatlich 1000 DM Miete übernimmt ein Gönner des Vereins, der unbekannt bleiben will. Die anfängliche Euphorie um den außergewöhnlichen Neuzugang hat sich gelegt. Plötzlich erkennen auch die Medien das größte Problem: „Francillon spricht kreolisch, französisch, einigermaßen spanisch und ein paar Brocken englisch – deutsch kann er nicht.“ Die Sprachbarriere ist ein echtes Hindernis, zumal Trainer Max Merkel laut eigener Aussage keine Verständigungsprobleme in seiner Hintermannschaft duldet. Torwart Hartmann hat er auch deshalb den Vorzug gegeben, „weil der die gleiche Sprache spricht, wie seine Abwehrspieler“. Ein Jahr Eingewöhnung gebe er dem Neuling aus Haiti, „sobald er deutsch spricht, bekommt sofort seine Chance.“
Und auch abseits des Fußballplatzes bekommt Henri Francillon erstmals handfeste Probleme. 2000 DM Monatslohn stehen dem Fußballer laut Vertrag zu – brutto. Dumm nur, dass niemand dem Nationalspieler die Bedeutung des Wortes brutto erklärt hat. Nach Abzug sämtlicher Abgaben bleiben Francillon 1300 DM Festgehalt, dazu kommen 750 DM pro Einsatz und eine nicht genannte Siegprämie. Doch 1860 wird in den ersten fünf Saisonspielen nicht einmal gewinnen, erst ein 1:0‑Erfolg am 1. September gegen den VfR Heilbronn bricht den Bann. Sechs Spiele, in den jeweils Bernhard Hartmann im Tor steht. Die vom gelernten Buchhalter Francillon zunächst einkalkulierten 5600 DM Monatslohn sind völlig utopisch.
17. August 1974
In einem Zeitungsinterview wird 1860-Trainer Max Merkel gefragt, was er von seinem Neuzugang Henri Francillon halte. Merkel: „Den kann ich nicht gebrauchen.“ Francillon präsentiert derweil erste Deutsch-Kenntnisse: „Bis jetzt kann er nur ´komm, geh, vorwärts, zurück´ sagen.“
28. September 1974
In der „Stuttgarter Zeitung“ erscheint ein Bericht über den Torwart aus Haiti, der jetzt in München Fußball spielt. Ein Satz lautet: „Henri Francillon ist der erste in der Geschichte des Profifußballs, der sich mit seinem Vertrag einen sozialen Abstieg eingehandelt hat.“ In Haiti war der Keeper dank seiner Firma ein wohlhabender Mann, doch die Firma führt längst jemand anderes und in Deutschland verdient er nur noch einen Bruchteil des Gehalts, dass er sich nach der Vertragsunterschrift ausgerechnet hatte. Weil sein haitianischer Führerschein in Deutschland nicht anerkannt wird und ohnehin kein Geld für ein neues Auto vorhanden ist, fährt Francillon die neun Kilometer von seiner Wohnung zum Trainingsplatz mit dem Fahrrad. Öffentliche Verkehrsmittel, so erfährt es die Presse, würde der Fußballer aufgrund von Verständigungsmöglichkeiten meiden. Wieder meldet sich Merkel zu Wort: „Es ist schon schlimm genug, wenn mein Libero ein Däne ist (Arne Rastad, d. Red.). Bis sich Francillon per Wörterbuch mit ihm verständigt hat, ist das Spiel schon vorbei.“ Eine international gültige Fußballersprache scheint es Mitte der Siebziger zumindest bei 1860 München noch nicht zu geben.
1. Februar 1975
Sieben Monate sind seit dem Wechsel von Henri Francillon zum TSV 1860 München vergangen. Die Familie aus Haiti hat den ersten Winter in Deutschland überstanden und glaubt man der „Münchener Abendzeitung“ hat der „schwarze Löwen-Torwart Francillon keine Probleme mehr“. Seit vier Monaten ist Tochter Rachel auf der Welt, zweimal in der Woche büffelt der 28-jährige Torwart mit einem kolumbianischen Studenten deutsch, gar fünf Stunden pro Tag lernt Ehefrau Chantal am Goethe-Institiut die Sprache der neuen Heimat. „Und stolz erzählt Francillon, daß Petit-Henri auch schon ‚Servus´ sagen kann.“ Nach einem holprigen Saisonstart steht 1860 vor dem 22. Spieltag auf dem siebten Tabellenplatz in der 2. Bundesliga Süd. Jetzt hat sich sogar Trainer Max Merkel erweichen lassen, gegen den VfR Mannheim kommt Francillon endlich zu seinem allerersten Saisoneinsatz. Er hält fehlerfrei, München gewinnt mit 3:0. Auf der Pressekonferenz antwortet der Torwart den Journalisten auf deutsch: „Ich habe keine Probleme mehr“ und „Ich bin auch nicht böse, wenn ich später wieder nur Ersatzmann sein werde“. 14 Tage später, beim 3:1‑Auswärtserfolg gegen den FSV Mainz, steht Francillon erneut zwischen den Pfosten. Jetzt wird alles gut.
16. April 1975
Die Saison neigt sich dem Ende entgegen, da gehen Max Merkel die Stürmer aus. Nach dem Platzverweis für Alfred Kohlhäufl stehen dem Trainer nur noch zwölf gesunde Spieler zur Verfügung. Die Idee: Francillon soll als Angreifer eingesetzt werden! „Der Henri ist ein hervorragender Techniker mit einem harten und platzierten Schuß. Warum also nicht?“, fragt Merkel in die Runde. „Schwarzer Henri soll stürmen“, vermeldet prompt die „Münchener Abendzeitung“. Und auch Francillon macht Werbung in eigener Sache: „Gegen Kolumbien habe ich sogar mal zwei Tore geschossen – als Rechtsaußen!“ Im Spiel gegen den FC Schweinfurt steht er dann tatsächlich auf dem Platz, allerdings als Torwart. Nach seinen Einsätzen gegen Mannheim, Mainz, Fürth und Bayreuth wird die Partie gegen Schweinfurt seine Letzte sein. Davon ahnt der Torwart allerdings noch nichts. 1860 verliert das wichtige Spiel zu Hause mit 1:3 und verabschiedet sich bereits am 31. Spieltag aus dem Rennen um die Aufstiegsplätze.
16. Juli 1975
Sommerpause. In seiner ersten Spielzeit für 1860 München hat der WM-Teilnehmer Francillon fünf Spiele in der 2. Bundesliga absolviert, in der 2. Runde des DFB-Pokals (4:2 gegen Eintracht Bad Kreuznach) wurde er nach 75 Minuten eingewechselt. Max Merkel und sein Nachfolger Heinz Lucas setzen auf Bernhard Hartmann. Für Ersatzmann Francillon auch finanziell eine fatale Situation: Weil er als Ersatzmann weder Auflauf- noch Siegesprämien kassiert, bleiben der Familie pro Monat lediglich 1300 DM netto. Das ist 1976 kein Hungerlohn, aber für einen Fußballprofi eine vergleichsweise lächerliche Summe. Der „Kölner Stadtanzeiger“ urteilt: „Henri Francillon ist der unglücklichste Mann im deutschen Profifußball geworden.“ „Eigentlich“, zitiert das Blatt den inzwischen abgetretenen 1860-Abteilungsleiter Walter Kraus, „hatte ich immer damit gerechnet, dass sich Francillon unter diesen Umständen plötzlich und ohne Abschied nach Haiti verdrücken würde.“ Der Autor des Artikels analysiert messerscharf: „Da hatte er sich aber getäuscht; denn Francillon zeigte mehr Ehrgeiz, als man von einem Neger aus karibischen Breiten erwarten konnte.“
Längst hat der Münchener Verein Vermittler auf Reisen geschickt, um den Torwart zu verkaufen. Um das Problem Francillon soll sich jemand anderes kümmern. Damit das auch möglichst bald passiert, ist der Torwart sogar ablösefrei zu haben. Behaupten jedenfalls die örtlichen Zeitungen. Doch bislang läuft der Sommerschlussverkauf eher schleppend an: Lediglich ein Amateurverein aus Norddeutschland soll Interesse bekundet haben. Der „Kölner Stadtanzeiger“ zieht ein trauriges Fazit: „Henri Francillon hat 72 Länderspiele gemacht. Er war auf der Insel ein wohlhabender Kaufmann. Jetzt ist er 29 Jahre alt. Und wenn er eines Tages nach Haiti zurückkehrt, ist er arm und auf die Hilfe seiner begüterten Schwiegereltern angewiesen. Schlimmer noch: Die Scham über sein Scheitern in München hat ihn psychisch zerbrochen. Auch das ist Profifußball.“
17. Juli 1975
Der Boulevard hat neues Futter im Fall Francillon: Eine Woche lang sei der Torwart in Spanien unterwegs und für die Münchener nicht erreichbar gewesen, um gemeinsam mit dem Münchener Arzt Dr. Claude Thébaud und „dem zwielichtigen Spielervermittler Manfred Wengert“ (Zitat: „Münchener Abendzeitung“) einen neuen Arbeitgeber zu finden – ohne Erfolg. Erst nachdem 1860-Präsident Erich Riedl eine Suchmeldung beim Deutschen Generalkonsulat in Barcelona aufgegeben habe, sei das Trio wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Angeblich, so vermelden es die Zeitungen, fordere der Münchener Zweitligist nun doch eine Ablösesumme von 100.000 DM. „Henri hat Chancen, bei den Zweitligaklubs in Taragona oder Vigo unterzukommen“, meldet Riedl der Presse. Tatsächlich hat auch das Klinkenputzen in Spanien nichts genützt. Francillon, der in München einen Vertrag bis zum 30. Juni 1976 besitzt, findet keinen neuen Klub. Die Option Heimkehr hält der Torwart allerdings für ausgeschlossen: „Nach Haiti gehe ich höchstens als Urlauber zurück.“
20. Dezember 1975
Ein halbes Jahr später ist Henri Francillon offiziell noch immer ein „Löwe“, faktisch spielt er längst keine Rolle mehr beim Zweitligisten. Kurz vor Weihnachten 1975 greift der „Kölner Stadtanzeiger“ seine Geschichte noch einmal auf und erzählt seinen Lesern die tragische Karriere des „schwarzen Torwarts der Karibik-Kicker“, der doch noch im Sommer 1974 so die Massen so verzaubert hatte. Und natürlich wird an die Szene nach dem 1:3 Haitis gegen Italien erinnert, als ein Reporter den noch völlig von Adrenalinschüben verausgabten Torwart gefragt hatte, wer denn seiner Meinung nach der beste Schlussmann der Welt sei. „C´est moi méme! Das bin ich selber!“, soll Francillon damals geantwortet haben. Die glorreichen Tage der WM müssen dem inzwischen todunglücklichen Keeper im Winter 1975 wie ein Traum erscheinen. „Die deutsche Profi-Fußballszene“, schreibt der „Kölner Stadtanzeiger“, „ist für den farbigen Spieler zur Bühne einer privaten Tragödie geraten.“ Jetzt hat er sich einen Anwalt genommen, um sich irgendwie aus dem Vertrag mit den „Löwen“ zu befreien. Die wollen ihn zwar gerne vorzeitig gehen lassen, allerdings ohne dafür auch noch zu bezahlen. Francillons Anwalt Warnecke nimmt den Münchener Traditionsverein heftig in die Kritik, nennt den Transfer von 1974 „menschlich gesehen ein Verbrechen“ und drängt den Klub zu einem Vergleichsangebot in Höhe von 20.000 DM. Das letzte Wort in dieser Angelegenheit hat Schorsch Pledl, Fußball-Obmann beim TSV 1860: „Wenn ich eine schöne Blume aus meinem Garten in eine andere Gegend versetze, geht sie wahrscheinlich ein.“ So kann man es natürlich auch sehen.
31. Januar 1976
In einem Münchener Restaurant sitzen der Torwart Henri Francillon, 1860-Präsident Erich Riedl, Ehrenpräsident Adalbert Wetzel, Fußball-Obmann Schorsch Pledl, der Torwart Bernhard Hartmann und 1860-Trainer Heinz Lucas. Es gibt Bier, Leberknödelsuppe und deftige Schmankerln. Präsident Riedl erhebt sich und sagt: „Merci Henri!“. Dann übergibt er dem gerührten Schlussmann zwei blau-weiße Stofflöwen, eine Hinterglasmalerei mit Münchener Motiven und zwei Bierkrüge. Es sind die Abschiedsgeschenke für ein großes Missverständnis. In eineinhalb Jahren hat der haitianische WM-Held von 1974 nur fünf Bundesligaspiele gemacht, eine echte Chance hat er nie bekommen, vielleicht hat er sie auch nie genutzt, wer weiß das jetzt schon, zwischen Leberknödelsuppe und Bier. Francillon spricht ein paar Abschiedsworte: „Ich werde München trotz aller widrigen Umstände nicht vergessen. Ich wünsche meinen Kameraden, dass sie in die Bundesliga aufsteigen.“ Dann fährt ihn die 1860-Delegation samt Kinder, Ehefrau Chantal und Kindermädchen zum Flughafen Riem. Francillon will es nun doch wieder in Haiti versuchen – als Arbeitnehmer, nicht als Urlauber. Mit den 20.000 DM Abfindung will er ein Sportgeschäft eröffnen. Als sich um 11.45 Uhr die Maschine nach Port-au-Prince erhebt, spricht Ehrenpräsident Wetzel einem Journalisten mit brüchiger Stimme ins Mikrophon: „Henri war wie ein Sohn für mich.“ Dann ist das Kapitel Henri Francillon für den TSV 1860 München abgeschlossen.
Nachtrag
13. Januar 2010
Eine Zeitung vermeldet: Henri Francillon, der ehemalige Torwart von 1860 München, sei bereits 1999 bei Unruhen auf Haiti erschossen worden.
20. Januar 2010
Ein findiger Reporter der „Münchener Abendzeitung“ gelangt an die Nummer von Henri Francillon und berichtet den erstaunten Lesern unter der Überschrift „Der Haiti-Löwe: ´Ich lebe noch!´“ von den bewegten Jahren des Torhüters nach seinem Weggang aus München. Fünf Jahre lang, so Francillon, sei er Senator in seinem Heimatland Haiti gewesen, als die Schreckensherrschaft des Diktators Jean Claude „Baby-Doc“ Duvalier 1986 endete, verließ auch er mit seiner Frau und den inzwischen vier Kindern das Land und floh nach Florida in die USA. Er arbeitete als LKW-Fahrer, baute sich ein Haus, das 1992 von Hurrican „Andrew“ komplett zerstört wurde. In Massachusetts verdingte er sich als Putzmann und Fußballtrainer, seit einigen Jahren lebe er nun als Rentner in Norwood, einer Kleinstadt bei Boston. Wie gehe es eigentlich 1860, habe Francillon am Ende des Telefonats wissen wollen. Nicht so gut, antwortete der Journalist aus Deutschland. Das habe er sich schon gedacht, sagte Francillon. Und dann: „Irgendwann will ich auch wieder nach München. Denn 1860 werde ich immer in meinem Herzen haben.“
Die Zeit heilt eben alle Wunden.