Die Bayern spielen im Halbfinalrückspiel überragend. Sie scheitern gegen einen gnadenlosen Gegner, in einem manchmal gnadenlosen Sport.
In der 87. Minute stand David Alaba genau an der Kreislinie vor dem 16-Meter-Raum. Die Bayern brauchten das entscheidende dritte Tor, der Ball flog nach einer Ecke genau auf ihn zu. Die an diesem Tag brodelnde Arena zog die Luft ein, Alaba holte aus und traf den Ball nicht richtig. Nur ein Zentimeter am Schuh machte den Unterschied.
Zehn Spieler standen vor ihm, einer davon war Thomas Partey. Er fälschte den Ball mit dem Oberschenkel ab, nahm die Geschwindigkeit aus dem Schuss. Nur eine kleine Bewegung machte den Unterschied.
Atleticos Torwart Jan Oblak konnte den Schuss durch all die Spieler vor ihm eigentlich nicht sehen, er hechtete aus Instinkt und wehrte den Ball zur Seite. Genau dorthin, wo kein Bayern-Spieler stand. Eine Entscheidung in Sekundenbruchteilen.
Am Ende schnurrt der Fußball auf solche Momente zusammen, die ihn entscheiden. Ein Zentimeter am Schuh, am Oberschenkel, am Handschuh. Eine kurze Reaktion und trotz all der Wissenschaft rund um diesen Sport: auf so profane Dinge wie Glück und Pech.
Eine Abwehr – überall Beine und Köpfe
Es gab an diesem Abend hunderte solcher Situationen, Atleticos Strafraum war verdunkelt von Spielern in blauen Trikots. Es waren so viele Oberkörper, Köpfe, Schienbeine, die sich in Schüsse warfen, als würden sich Atleticos Spieler während eines Angriffs selbst klonen. Bayern verzweifelte an einer Abwehr wie an der Hydra in der griechischen Mythologie, der neue Köpfe erwachsen, je mehr man abschlägt.
Die Bayern lieferten ein episches Spiel in der ersten Halbzeit, einen Fußball mit unglaublicher Schnelligkeit und Esprit. Mit einer Angriffswelle, die selbst Atleticos Trainer Diego Simeone nach eigenem Bekunden in dieser Form noch nie in dieser Saison auf sein Team hatte zurollen sehen. Und doch – trotz all des Aufwandes, trotz all der Ballbesitzstatistiken, trotz all der Rochaden – flogen sie aus dem Wettbewerb, ohne dass sie selbst wussten warum. Was konnte man ihnen nach diesem Auftritt auch vorhalten? Das einzig gültige Fazit lautete: „Der Fußball ist manchmal extrem… puh…“
Atletico so klinisch wie sonst Bayern
Es stammt von Thomas Müller, dem Mann, der sonst immer einen Spruch und immer eine Erklärung für all die Erscheinungen dieser Erde parat hat. Wie nie zuvor wirkte dieser Müller hilflos und geschlagen, geschlagen von der Eigendynamik eines Spiels.
In den Äonen ihrer Dominanz waren es immer die Bayern gewesen, die regelmäßig eine Spur der Verzweiflung durch die gegnerischen Gesichter gezogen hatten. Sie vollstreckten relativ erbarmungslos, meist in den letzten Minuten, durch Schwarzenbeck, Zickler oder Robben, während die Unterlegenen mit jener müllerhaften Hilflosigkeit Sätze stammelten wie „So ist Fußball“ und „Das ist so brutal“. Diese klinische Abgekühltheit, das sei eben eine Qualität der Bayern, hieß es jahrelang. In diesem Halbfinale stand sie allerdings für Atletico. Diese Mannschaft spielt herausragend, auf ihre Art. Das wird oft vergessen.