2012 lag Atlético Madrid am Boden. Dann kam Diego Simeone. Heute wird er 50 Jahre alt. Über einen, dem die Menschen bedingungslos folgen.
Hinweis: Der Text erschien erstmals 2016. Giovanni Simeone spielt mittlerweile bei Cagliari Calcio in Italien.
Im Vicente Calderón reißt es die Zuschauer von den Sitzen. Man schreibt den 7.1.2015 und Atlético ist, früher undenkbar, drauf und dran, schon wieder ein Derby gegen Real Madrid zu gewinnen. José Maria Giménez hat soeben per Kopf das zweite Tor des Abends und damit den Sieg perfekt gemacht. Freudensprünge und Jubel im weiten Rund. Spieler, Trainer, Betreuer, Fans, Balljungen. Diego El Cholo Simeone, schwarzer Anzug, schwarze Krawatte, schwarze Schuhe, schwarzes, zurückgegeltes Haar, ballt die Fäuste. Von hinten kommt ein Balljunge in Kapuze und weißem Leibchen angerannt und springt ihm ausgelassen in die Arme. Der Balljunge ist Simeones Sohn Giuliano.
Giuliano ist zehn Jahre alt und in letzter Zeit ziemlich oft im Stadion gewesen. Beim ersten Derby der Saison im Santiago Bernabéu war er ebenfalls dabei und saß hoch über dem Feld in einer Loge neben seinem Vater, der Anweisungen rief, die seine Spieler nicht hören konnten und mit den Händen Zeichen gab, die sie nicht sehen konnten. Hin und wieder griff Simeone zum Telefon und gab die Wechsel durch. Zumindest diese Direktiven wurden gehört, trotzdem fühlte er sich, wie er später zugab, ziemlich ohnmächtig. Gleichwohl nahm auch dieser Abend ein gutes Ende. Simeone sah durch die Glasscheibe, wie Arda Turan auf der Nordseite des Stadions locker einschoss. Vater und Sohn fielen sich in die Arme und verließen nach dem Schlusspfiff glücklich die Loge. Giuliano trug ein rot-weiß gestreiftes Atlético-Trikot, Diego natürlich schwarz.
Loyalität, Verbindlichkeit, Zusammengehörigkeit
Die Familie ist Simeone wichtig. Er esse jeden Tag mit seinen Kindern, sagt er. Was nicht weiter bemerkenswert wäre, würde nicht ein Großteil der Familie in Argentinien leben. Doch wenn es Zeit fürs Abendessen ist, sitzt Simeone per Skype mit am Tisch. Ein iPad als Vater. Kurze Momente, die umso mehr wertgeschätzt werden. Als Simeone Atlético Madrid übernahm, warnte er die Spieler, dass es keinen Müßiggang geben werde, er würde sie jede Minute des Tages im Auge haben. „Meine Familie ist schließlich nicht hier“, sagte er. „Ich habe also nichts Besseres zu tun.“
Andererseits ist es gut so, wie es ist. „Ich liebe Fußball, und ich liebe meinen Beruf“, sagt Simeone. Selbst wenn seine Familie mit nach Madrid gezogen wäre, so hätte er vermutlich weder abschalten können noch wollen. „Ich schaue einen Film, und plötzlich fällt mir etwas fürs nächste Wochenende ein und ich muss ans Telefon.“ Atlético zu trainieren sei etwas, das ihn „24 Stunden am Tag“ beschäftige. Auch in den Telefonaten mit der Familie geht es früher oder später unweigerlich um Fußball. Beides gehört zusammen, zumal Simeone das Spiel in familiären Begriffen interpretiert. Er redet von Loyalität, Verbindlichkeit, Zusammengehörigkeit. Der erste Anruf, den Simeone nach Atléticos Europa-League-Triumph 2012 tätigte, galt seinem Sohn. Während die Spieler auf dem Rasen feierten, fingen ihn die Kameras mit dem Telefon am Ohr ein, auf der Suche nach ein wenig Ruhe in all dem Lärm in eine Ecke der Ersatzbank gekauert. „Hast du Falcaos Tor gesehen?“ Natürlich hatte er es gesehen.
Simeone meldet sich vor jedem Spiel. Wenn die Spieler sich warmmachen, sitzt er allein in der Kabine und ruft zu Hause an. Bis Giuliano nach Madrid kam, erledigte er drei Anrufe, einen für jedes Kind drüben in Argentinien. Die Anrufe sind kurz, kaum mehr als ein paar Minuten, und sie sind Teil seines Rituals: die Ruhe vor dem Sturm. „Für vier oder fünf Minuten bin ich ein normaler Mensch“, sagt er. Dann legt er auf und ist wieder Diego Simeone, Trainer von Atlético Madrid.
„Eines Tages komme ich zurück“
Diego Simeone, Trainer von Atlético Madrid. Irgendwie hat er immer gewusst, dass es eines Tages so kommen würde. Einer der Anrufe vor dem Spiel gilt seinem Sohn Giovanni. Der ist 19 und spielt als Stürmer bei River Plate in Buenos Aires. Er kam in Madrid zur Welt, als sein Vater dort für Atlético spielte, und begann mit dem Fußballspielen bei Rayo Majadahonda. Die Plätze von Rayo liegen kaum fünfzig Meter vom Trainingsgelände Cerro de Espino entfernt. Heute sind sie mit Kunstrasen ausgelegt, aber damals war der Belag Schotter, und bei jedem Schuss wurden Staub und Steinchen aufgewirbelt. Es gibt noch Videoaufnahmen von jenem Tag, als der neunjährige Giovanni das Team verließ und verabschiedet wurde, derweil Diego von der Tribüne aus mit einem Kloß im Hals zusah. Am nächsten Tag waren die Rollen vertauscht. Giovanni stand neben seinem Vater auf dem Rasen des Calderón, das El Cholo mit Tränen, Bannern und Gesängen Lebewohl sagte.
Es war bereits Simeones zweiter Abschied von Atlético. Er hatte für andere Vereine gespielt, sieben insgesamt, doch nirgendwo hatte er eine solche Verbundenheit gespürt wie hier. Jetzt ist er zum dritten Mal bei diesem Klub und das Band ist fester als je zuvor. Als er den Verein seinerzeit als Spieler verließ, sagte er, er wisse, dass er eines Tages zurückkommen werde. Am 3. Januar 2012 war es soweit.
Atlético machte gerade wieder eine Krise durch, war Tabellenzehnter und soeben vom Drittligisten Albacete aus dem Pokal geworfen worden. Miguel-Angel Gil Marin, der Präsident, Mehrheitseigner und Sohn des berüchtigten, 2004 gestorbenen Jesús Gil y Gil, hatte seit 1996 sechzehn Trainer angeheuert und im Schnitt vierzehn neue Spieler pro Saison verpflichtet. Vom Vorstand über die Profis bis zu den Fans war der Klub tief zerstritten. Oder wie Kapitän Gabi es ausdrückt: „Wir waren mental am Ende.“
Es konnte nur einen für diesen Job geben
„Ich weiß nicht, ob Simeone der Einzige war, der uns hätte retten können“, sagt Gabi weiter, „aber er brachte die besten Voraussetzungen mit.“ Niemand sonst hätte den Verein so zusammenführen können, wie Simeone es tat. Niemand sonst brachte die moralische Autorität dafür mit. Es war eine populäre und auch eine populistische Wahl. „Wir brauchten jemanden, der die Spieler an die Kandare nahm und den Fans den Glauben zurückgab“, räumt Sportdirektor José Luis Caminero ein. Sie brauchten auch jemanden, der den Druck vom Präsidium nahm, auf das sich die Wut der Anhänger konzentrierte. Niemand hätte das so vermocht wie Diego Simeone.
Am Morgen seines ersten Tages wurde in den Zeitungen der „Tag des Cholo“ ausgerufen. Vor dem Anpfiff war Simeone von einer ganzen Meute Fotografen umringt und das ganze Stadion sang: „Olé, olé, olé, Cholo Simeone!“