Sein unverschämt dreister Elfmeter gegen England hat Italiens Andrea Pirlo endgültig unsterblich gemacht. Loblied auf einen Spieler, der in der Lage ist, die Zeit anzuhalten.
Andrea Pirlo ist offiziell erst 33 Jahre alt, aber das kann nicht stimmen. Pirlo hat das Gesicht eines in Ehren ergrauten Apachen-Häuptlings, seine Frisur gibt es seit etwa 30 Jahren gar nicht mehr und so wie er Fußball spielt, dürften seine Mitspieler nicht Daniele De Rossi oder Mario Balotelli, sondern Günter Netzer oder Wolfang Overath heißen. Und doch stand er gestern im Viertelfinale der EM 2012 auf dem Platz, machte gegen England ein überragendes Spiel und krönte seine Leistung mit einem der dreistesten und zugleich schönsten Elfmeter der Turniergeschichte. Der alte Mann, der angeblich noch gar nicht so alt ist, ist bislang der beste Spieler dieser Europameisterschaft.
Andrea Pirlo rennt nicht über den Platz. Er geht.
Für all diese Gegensätze kann es nur eine Erklärung geben: Andrea Pirlo ist in der Lage, die Zeit anzuhalten. Und zwar mit seinen Füßen. Andrea Pirlo rennt nicht über den Platz, er geht. Er verlangsamt das Spiel und braucht dann nur einen Pass aus dem Fußgelenk, um es zu beschleunigen. Seine Spielweise, jene des autoritären Ballverteilers in der Zentrale, scheinbar losgelöst von sämtlichen taktischen Vorgaben, erhaben über all dem, was um ihn herum passiert, ist eigentlich schon längst aus der Mode. Moderne Spielmacher gehen nicht, sie rennen. Sie spielen auch keine 40-Meter-Flanken aus dem Fußgelenk, sie bewegen den Ball mit schnellen Doppelpässen über den Platz. Sie sehen nicht aus wie Apachen-Häuptlinge, sie sehen aus wie durchtrainierte Jungunternehmer. Sie haben andere Frisuren. Sie sind nicht wie Andrea Pirlo.
Eigentlich war er ja auch schon weg vom Fenster. Nach zehn Jahren beim AC Mailand im Sommer 2011 ausgebootet, aufgenommen von Juventus Turin. Eine nette Geste für den Fußball-Opa? Von wegen. Pirlo, der alte Häuptling, führte Juventus, die „Alte Dame“, mit teilweise überragenden Leistungen zur italienischen Meisterschaft. Nun also Italien. Eine Nationalmannschaft, die es im Vorfeld verkraften musste, dass die Polizei ihr Trainingsgelände durchforstete und einer ihrer Spieler deshalb aus dem Kader flog. Die immer noch Akteure in den eigenen Reihen hat, die nach der Euro höchstwahrscheinlich vor Gericht erscheinen müssen. Stichwort: Wettbetrug.
Gegen den Weltmeister spielte er einfach seine Günter-Netzer-Flanken
Andrea Pirlo stand auch hier über allem. Gleich im ersten Spiel, gegen den Welt- und Europameister aus Spanien, war er die prägende Figur im italienischen Spiel. Wie auf Samtpfoten schlich er durch das enge spanische Mittelfeld und verteilte seinen langen Günter-Netzer-Flanken. Die 1:0‑Führung durch di Natala – natürlich von ihm vorbereitet. Endergebnis Italien gegen den Weltmeister: 1:1. Es folgte ein hinreißender Auftritt gegen Kroatien und eine kleine Verschnaufpause gegen Irland, ehe sich Pirlo England annahm. Und wie.
Geradezu würdevoll durchs Mittelfeld schreitend ordnete Pirlo Italiens Spiel und sorgte dafür, dass die von der EM bislang enttäuschten Zuschauer wieder den Glauben an dieses Turnier zurückgewannen. Italien gegen England, das war ein großes Spiel. Fußball der Zukunft. Dirigiert von einem Mann von gestern.
Und als sein Kollege Montolivo den zweiten italienischen Elfmeter am Tor vorbeischoss, Rooney England mit 2:1 in Führung brachte, als Italien also fast schon ausgeschieden war, da zeigte Andrea Pirlo sein wahres Gesicht: Da wurde aus dem angeblich 33-jährigen Fußballer tatsächlich der in Ehren ergraute Indianer-Häuptling, ein Mann, der schon so viel im Leben gesehen hat, dass er ganz genau weiß, wann es sich lohnt, ein Risiko einzugehen. Und es war ein Risiko, den Ball nicht wuchtig aufs Tor zu dreschen und still zu hoffen, der Torwart möge doch in die andere Ecke fliegen, sondern die Bewegung des Torhüters einfach einzukalkulieren und den Ball mit der Fußspitze geküsst in die Mitte kullern zu lassen. Ein Elfmeter wie ein Ausrufezeichen. Seht her, Italien macht sich nicht in die Hose, bloß weil es im Elfmeterschießen zurückliegt! Italien lupft den Ball einfach in Zeitlupe in die Tormitte! Italien wird dieses Spiel gewinnen!
Wäre Joe Hart, Englands Schlussmann, einfach stehengeblieben, wäre Andrea Pirlo heute der einsamste Mensch der Welt.
Aber: „Joe Hart hat kuriose Bewegungen gemacht“, sagt Andrea Pirlo. Also setzte er sein Ausrufezeichen.
Dass es dann ausgerechnet ein Engländer namens „Young“ war, der sich von der Aura des Alten beeinflussen ließ und den Ball mit zitternden Schenkeln gegen die Latte zimmerte – eine hübsche Randnotiz. Weil schließlich Gigi Buffon, der andere italienische Häuptling, den faden Elfmeter von Ashley Cole parierte und ein Mann mit Namen „Diamanti“ seinen Strafstoß sicher verwandelte, steht Italien jetzt im Halbfinale.
Wenn es schlecht läuft, dreht Pirlo die Welt auf den 4. Juli 2006 zurück
Die schlechte Nachricht für Deutschland lautet: Andrea Pirlo wird dann wieder auf dem Platz stehen. Und versuchen, die Zeit anzuhalten. Im schlimmsten Fall, aus deutscher Sicht, dreht er die Welt zurück auf den 4. Juli 2006. Damals, nach 119 Minuten ohne Tor, landete ein abgewehrter Eckball bei Andrea Pirlo. Mit dem Ball am Fuß schlich Pirlo am Rande des deutschen Strafraums entlang. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Drei Sekunden. Vier Sekunden lang. So entspannt wie ein Rentner am Nordseestrand. Dann spielte er einen sagenhaften Pass auf Fabio Grosso. Der traf zum 1:0. Italien gewann mit 2:0 und wurde anschließend Weltmeister.